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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 92 (Januar 1912)
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Die Bescherung: bei der Vossischen Zeitung für Staats- und gelehrte Sachen
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Friedlaender, Salomo: Polarität: Philosophiseher Vortrag
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0290

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Die Beseherung

Bei der Vossisehen Zeitung für Staats-
und gelehrte Sachen

Das war eine schöne Bescherung. Von allen
den guten Qaben könnte man ein ganzes Jahr lang
leben und würde sie dann noch nicht verdaut
haben. Mit bloemigen Qeist, mit klaarem Ver-
stand und eloesserischem Magen (er war zum ersten
Mal in einem Grillroom eines ersten Hotels, o du
selige), soll man nun chemisch analysieren. Und
man war schon so vergnügt, alles herunter-
geschluckt zu haben. Doch die Sachen wollen
es. Die Schreibmaschine versagte zwar den
Dienst, (gnadenbringende), und meine treue Sekre-
tärin weigerte sich, den Kohl mit der Ilrmd anzu-
fassen. Doch unmittelbar nach der fröhlichen er-
schien der Reparaturmensch, und die Maschine
kann wieder einmal iiber den Geist siegen. Wer
hätte sich nicht schon den Kopf iiber die Berech-
tigung der’ Weihnachtszensur zerbrochen, und
und welche Occassion ist giinstiger zur Einkehr
und zur Rundfrage, als die selige, wo der Mensch
beschaulich seinen Magen vollschlägt. Und dann:
„das Weihnachtsfest soll in erster Linie das Fest
der Kinder sein.“ Wer könnte diesen tiefgefühlten
Satz der tieffühlenden Redaktion nicht nachfühlen?
Und doch sehen gerade die Schulkinder diesem
lieblichsten aller Feste recht häufig mit gemisch-
ten Gefühlen entgegen“. Dem Fest muß geholfen
werden. Fort mit der Weihnachtszensur! Der
Vossische Zeitung „drängt sich die Frage auf“,
sie kann sich infolgedessen nicht mehr halten und
wandte sich an einige der bekanntesten Berliner
Pädagogen, sowie einige „Eitern“. Das Resultat
war sehr merkwürdig, wie die Redaktion fest-
stellt: nämlich, „daß auch hier — wie in allen wich-
tigen Lebensfragen — zwei Standpunkte in
Betracht kommen“. Mit zwei Punkten in der
Hand kommt man durch das ganze Leben. So
eine Weltanschauung zwischen zwei Gedanken-
strichen läßt man sich zur fröhlichen gern gefallen.
Nun treten die verschiedensten Schuldirektoren
auf die beiden Punkte. Wie in allen wichtigen
Lebensfragen. Von Eltern äußert sich „die ausge-
zeichnete Schriftstellerin Clara Viebig, deren Sohn
,die Zensur, wie im Mittelalter den Sträflingen die
Folterwerkzeuge erscheinen, die ihnen das Ge-
ständnis einer Schuld entreißen sollen 1.“ So einen
begabten Sohn hat die ausgezeichnete Schrift-
stellerin. Befriedigt schlägt sich die Redaktion auf
den Bauch: „Aus diesen Aeußerungen geht zur
Genüge hervor, daß über die Berechtigung der
Weihnachtszensur verschiedene Meinungen herr-
schen.“ Diesem Punkt scheint also nicht einmal
mit zwei Punkten beizukommen zu. sein, wie bei
den wichtigen Lebensfragen. „Wegen Mangels an
Raum“ erfährt man nur die „Aeußerung eines nam-
haften Literaten, der den Lesern der Vossischen
Zeitung wohl bekannt ist, und dessen Auffassung
der Frage sich mit denen der andern völlig deckt.“
Die Punkte scheinen sich nach dem Vorbild der
Menschheit plötzlich in Frieden geeinigt, oder in
Freuden aufgefressen zu haben. Sie decken sich.
Und die Redaktion ist so vorsichtig, den Namen
des namhaften Literaten zu verschweigen, um
keinen neuen Unfrieden, etwa mit mir, aufkommen
zu lassen. Am Ende macht man sonst noch neben
den gedeckten Punkten einen Klex.

Der Mangel an Raum wird benutzt, um den
Nachfolger des seligen Professors Ludwig Pietsch
vorzustellen. Herr Professor Hanns Fechner ist
durchaus erbberechtigt. Man sollte ihn wenigstens
zu jeder fröhlichen schreiben lassen. Frohsinn er-
freut des M;enschen Herz. Der Professor Fechner
denkt sich zurücke, als er noch mit dem einen oder
andern Freund aus Maler-, Musiker- oder Gelehr-
ienkreisen zu Pietschens Geburtstag ging. „Wer
«s einrichten konnte, verließ den Festabend im

Familienkreise, und machte sich um die zehnte
Stunde herum auf, um dem guten Alten, dem un-
verwüstlich Jungen, die Hand zum Geburtstags-
gruße schütteln zu können. In der Landgrafen-
straße lag sein gemütliches Heim.“ Das iwar noch
ein altes biederes Mietshaus, ohne sonstige Errun-
genschaften des Berliner Westens. „Aber, wenn
man den alten Flur betrat, so heimelte einem sofort
eine wundersame Stimmung von Festesfreude an.
Es war, als ob überall an den einfachen Wänden
Neckbolde - Neckbolde, Neckbolde - und allerhand
fröhliches Luftgesindel einen seltsamen beweg-
lichen Arabeskenschmuck bildeten, der den An-
kömmling alsbald hineinzog in den Strudel ausge-
Iassenster Fröhlichkeit.“ Ja, was so ein echter
Kunstmaler und Neckbold' ist, hat schon seine
Portion Phantasie, namentlich wenn er weiß, daß
ihm ein guter Happen sicher ist. Und nun geht es
rinn in den Strudel: Munteres Stimmgewirr in
allen Tonarten, anregender Frohsinnsakkord, der
selbst bei einem eingefleischten Griesgram noch
irgendwo im Innern ein paar Saiten mitschwingen
macht, Adel vom Geist, ausgiebigste Gastfreund-
schaft, nicht zu vergessen der entzückende Kranz
schöner Frauen und Mädchen, ritterliche Liebens-
würdigkeit, Spiel am Minnehof, mit Kunstwerken
vollgestopfte Räume. Bei den Gesellschaften
scheint man allerseits kostümiert gewesen zu sein:
„Es gehört Geschicklichkeit dazu, aneinander vor-
beizukommen, und die wundervollen zu Ehren
L. P. arigelegten Frauenkleider mit Nach-
sich zu behandeln.“ Daher die Neckbolde. „Meist
aber mußte man sich schon vorher auf den Trep-
pen mit großer Kunstfertigkeit zwischen
den auf den Stufen Sitzenden hindurchschlängeln.“
Jetzt erfährt man endlich den Grund des kolos-
salen Drängelns. Es gab nämlich gratis kolossal
viele gute Happen, extra Hummern, Austern, Paste-
ten. Natürlich wurde dem Luftgesindel ganz gegen
alle Natur kanibalisch wohl zu Mute: „Sie müssen
erst einmal die Riesenspargel probieren, die wir
hierher g e r e 11 e t haben.“ Die Neckbolde r e 11 e-
t e n, was sie konnten. Besonders scheint sich „der
rundwangige, beliebte und bekannte Cellist“, im
Dienst des Spargels hervorgetan zu haben. „Auf
den Treppenpodesten standen auf ein paar Stühlen,
oder am B o d e n die großen Schüsseln.“ Frisch
vom Trog. Aber Neckboide sind manierlich: „Die
Eßgerätschaften trug ein jeder sorgfältig un-
t e r m A r m, oder balanzierte sie mit Kunst und
Geschick auf den Knieen.“ Das scheint ja eine
Sauhatz fiir das Luftgesindel gewesen zu sein.
Namentlich, wenn man die Kunst und das Geschick
bedenkt, mit dem Messer unterm Arm und der
Gabel auf dem Knie die angelegten Frauenkleider
nachsichtig zu behandeln. Ich verliere beim Lesen
schon die Balance. „Schnell wurde ein glücklich
eroberter, unbenutzter Teller herübergereicht,
und man saß erst im Winterrock, die Ueberschuhe
an den Stiefeln, für ein Weilchen bei den andern,
um mitzuhalten.“ Die Messer oder die Gabeln?
Mich wundert nur, daß der Portier des Hauses die
Umwandlung in ein Asyl für Obdachlose gestattete.
Ich glaube, daß nicht einmal die armen Leute, die
sich mit verwesten Bücklingen einen Weihnachts-
schmaus bereiteten, so neckboldisch sich benom-
men haben. „Wenn sich dann Männlein und
W e i b 1 e i n durch all die guten Dinge wie im
Märchenland hindurchgegessen hatten, dann kams
wohl dazu, daß eines der Zimmer ausgeräumt
wurde,“ — nicht etwa, um auch noch die Möbel her-
unterzuschlucken, sondern — „um ein wenig Platz
für ein T ä n z 1 e i n zu schaffen.“

Das weiß der Kunstmaler Herr Professor
Hanns Fechner von dem Kunstkritiker Professor
L. P. zu berichten. Wes der Magen voll ist, des
geht der Mund über. Und daher erinnert sich der
Professor der Legende, „an einen jener Großen
aus der Renaissancezeit, der schönheits-
trunken den Leiden- und Freudenbecher des Lebens
bis auf den letzten Tropfen leeren konnte, und
dssen letzer Gedanke war: Dein Trank war doch

gut, o Leben!“ Ins Fechterische übersetzt: Dein
Essen war doch gut, o Pietsch!

Das druckt einem die Redaktion für Staats-
und gelehrte Sachen aus Raummangel auf den
Magen. 0 du selige.

Polarität

Philosophiseher Vortrag
von Dr. S. Friedlaender

Es ist vielleicht gut, hier gleich die These vor-
anzustellen, welche zur Evidenz gebracht werden
soll: Das Erlebnis „W e 11 “ i s t d i e u n -
endliche Entzweiung des Selben. Ver-
gessen wir nicht den persönlichen Erlebnischarak-
ter aller M relt. Vor ailem ist die V/e!t ein selbst-
eigenes Erlebnis. Man mag sich Gedanken über
die Welt an sich machen, über die Welt nach
Abstraktion vom Erlebnis — aber diese Gedanken
mit allen ihren dialektischen Verfänglichkeiten ge-
hören mit zum Erlebnis „Welt“. Als Skepsis wird
erlebt, ist ein Erlebnis des Lebens selber, zu des-
sen Raffinierung sie gehört; und zur allerletzten
Skepsis gehört auch Skepsis gegen Skepsis. Alle
logischen Alternativen sind wie diejenigen des Le-
bens heute aufgetan, und es gilt, eine Entscheidung
zu treffen, welche, statt sich Für oder Wieder zu
erklären, in das Zentrum aller Ja’s und Nein’s
trifft. V/ir kennen nichts als das persönliche Er-
leben; und beiläufig wird auch die Unzulänglich-
keit aller Worte persönlich erlebt. Nun sollte nach
dieser Behauptung, deren Leugnung man eben-
falls persönlich erlebt (wie denn der Geist der
Geist des Widerspruchs ist) — man sollte Wunder
meinen, welche grandiose, erhabene, ja göttliche
Bedeutsamkeit das persönliche Erleben zeigen
müßte, wenn es dermaßen weltbedeutend wäre.
Aber dann vergißt man die zahllosen Verlegen-
heiten, die ihm aus seiner eigenen Fülle kommen,
embarras de richesse. Man vergißt andererseits,
daß es in der Tat persönliche Erlebnisse von un-
vergleichlicher Grandiosität gibt. Man vergißt,
wie mächtig man sein könne, ohne es deutlich
wissen zu müssen — und man vergißt schließlich
das Vergessen, die bodenlose Unepdiichkeit
des Vorhandenen, das nicht gespürt wird. Viel-
leicht wird man nach alledem die Gutmütigkeit
haben, die Exorbitanz des persönlichen Erlebens
zuzugeben; so wie man gern einräumen wird,
daß die Haut des Leibes nicht seine wahre Grenze
sei, sondern etwa bloß die Grenze seiner plumpen
Abtastbarkeit und Sichtbarkeit — und G r e n z e n
sind die seltsamsten aller Amphibien. Man wird
notgedrungen in die eigene Weltbedeutung ein-
willigen, in das Erlebnis U n e n d 1 i c h , iri die Un-
endlichkeit des Erlebnisses — aber damit hätte
man auf die bequeme Identifikation mit sich selbst
verzichtet. Man war, soviel man wußte, ein ein-
zelner, kleiner Mensch, der nun auf einmal unge-
mütlich anzuschwellen und an einer Art philoso-
phischer Riesenelephantiasis zu erkranken droht;
zum Schopenhauer’schen Makranthropos. Aber
dieser einzelne kleine Kerl ist ein bloßes Vorur-
teil des persönlichen Erlebens, er ist eine seiner
intimsten Erfahrungen — aber ihn mit der Person,
mit der ersten Selbsteigenheit zu verwechseln,
diesen Wechselbalg der Person mit ihr zu ver-
tauschen, das wäre ein gröberes Quidproquo als
wenn der Marionettenspieler sich mit seinen Puppen
identifizieren wollte. Idenfikation ist keine Selbst-
verständlichkeit, sondern ein paradoxes Kunst-
stück. Wenn ich meine Stinnne von einem Zen-
tralorte aus auf einmal durch Milliarden Röhren
schickte, deren Mündungen sich dieser Stimme be-
wußt würden; dann würde tneine Identität sich
allerliebst deplaßiert, ganz paradox in Milliarden
Isolationen lokalisiert vorkommen. Wir sprechen

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