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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 97 (Februar 1912)
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Fuchs, Richard: Wien
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Hardekopf, Ferdinand: Russisches Ballet
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Adler, Joseph: Aus der Musik"welt"
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0334

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iMalerei, aber mit dem Instinkt des Leibes prüften
sie sich vor den Alten, scheuten keinen Vergleich,
forderten das Leben heraus. Sie wissen nicht,
daß Bilder gemalt werden. Ihnen genügt, daß das
wie sie selbst, also von Männern, gemalt wird.
Durch diese Gleichgültigkeit gegen alle Bildung
züchten sie Verehrungswiirdigeres in sich und uns.
Sie sind der Geschmack, sie brauchen keinen ge-
malten. Man wird die andere Art Weiber immer
in inodernen Galerien finden. Diese müßten, als
Staatsunternehmungen, also abgeschafft werden.

Um Kunst und Genie durch Könventlonen zu
ersetzen, gibt es jetzt in allen Ländern europä-
ischer Religion eine militärische und eine zivile
Form. Daß der Kurfürstendamm am Berliner Hof
nicht fähig, ist ein Zufall, nicht ein Verdienst. Der
Impressionismus war der befriedigendste Wieder-
anschluß an die alte Kunst, nicht an die Natur.
Fiir die Kunst wie die Unkunst ist der Stoff nur
Anlaß. Aber die Unkunst ist selbst nichts weiter.
Als der Jmpressionismus wieder das Mittel aller
Kunst im Besitz hatte, suchte er gedankenlos und
übereilt den Anschluß an die Zeit. Wer fähig ge-
worden ist, alles darzustellen, muß aber an eine
noch frühere Kunst anknüpfen, dort wo noch keine
Beziehung zu sozialen Ordnungen besteht. Nicht
die Gegenstandsbedeutung wird durch den Künst-
ler vernichtet, sondern die gesellschaftlich giiltige
Bedeutung des Gegenstandes. Der Gegenstand
muß nun mit Steigerung ein immer einfacherer
werden. Keine Furcht vor dem Primitiven! Wir
kommen nicht gleich zu dieser Grundunschuld.
Der Bestand der Kunst beruht in der Qual der
ewigen Schöpfung. Also die Karikaturen Wilder?
Warum nicht! Ich fand, daß Emil Nolde in
Berlin noch sehr „zivilisiert“ ist. Eher biind
schaffen, als Abgekartetes. Zurück oder voraus-
schaffen! Die Kunst muß das Wissen vernichten.
Das Können bleibt dann auf gleicher Höhe.

Der Geschmack einer einzelnen ganzen Stadt
wird ineistens iiberschätzt. Das Unnachahmliche
des ersten Voiks wird von ihr doch nicht erreicht
und begehrt. Warum schämt man sich so bald
der von Tausenden getroffenen höheren Kultur?
Weil sie kein leibliches und ^geistiges Bedürfnis
"war. Die Berliner Sezession ist keine ehrfürchtige
Trägerin der Kultur.daher verblaßt auch das be-
rühmte Kunstgewerbe des jungen Wien. Ich sehe
im Geiste in dieser „Kunstschau“ (der Journalname
ist nicht von mir erfunden) den gauzen Jahres-
inarkt der Traditionslosen wieder, in eine Ausstel-
lung der Baukunst, des Innenraums, der Kleidung,
des .Plakats, des Theaters den falschen Trödel-
orient hineingestopft, wo auch die Malerei redet,
wenn auch bleich ornamentiert. Eine Oase winkt
in einem einfachen Brunnenhof. „Schönheit ist das
Weglassen des Ueberflüssigen.“ Die Brücke zur
Vernunft? Denn die Erziehung zur Kunst ist
selbst das Ueberflüssige. Aber glaube nicht an
den Heroismus der Selbstverspottung.

Ueberall scheint mir in Wien mit der Hebung
(das heißt der systematischen Vernichtung) des
Kunstgewerbes das Volk zweiten Ranges, beson-
ders die Frauen, wieder Mittler der Kultur gewor-
den zu sein, und dieser grobe Flegel Nutzen, über-
all, außer in der Kunst, Geschäft genannt. Nutz-
kunst, das heißt Ausstellungskunst, Dinge, die nie
benutzt w'grden können. Das Kleisterpapier hat
schon Häuser, ja Städte aufgebaut. In den Gassen
und im Grünen stoßen wir auf die protzigen Lili-
putaner.

Die Kunstgewerbebewegung gehört in die
Journalistik und die Journalistik ist eine Lebens-
lüge, nicht etwa eine Kunstlüge. Die Verblödung
des Volkes ist nur der Vorwand. Das Ziel ist die
Fesselting des Geistes. Man darf vor keiner
Kunstwendung auf die Männlichkeit seines Geistes
verzichten. Man muß die Nüancierung in ihrer
abstrakten Spitze greifen.

Schluss folgt

Russisehes Baiiet

Wo der Mangel an Tradition vor jeder Re-
volution schtitzt: man fiittere das Gefühl ftir
Ueberlieferung nht den garnierten Beinen rus-
sischer Tänzeriinnen. Oh, die im Abend, von senti-
mentalischen Lichtern umdampft, jedem Zweck selig
entrannt steil sich verbiegen. „Wozu hier Musik?“
sagte ,er nachher, „man gewöhne sich, die Stille
rhythniisch zu hören.“ Aber das Publikum, da
dies Tanzen sinnlos ist, bedarf auch des Unsinns
der Texte. (Man wird jener Dame zwar nicht
glauben, daß sie eigentlich Prinzessin und tags-
iiber in einen Schwan verwandelt ist, aber man
wird ihr nun immerhin gestatten, zu tanzen.) Dem
Ballett entspräche, daß böser Geist, Prinz, Braut
und treulos Verlassene zusammen Menuett tanzten.
Jedoch das Parkett, von Ungewißheit gepeitscht,
entbrennt dem J’ode und allen gut sichtbaren Ka-
tastrophen. So erstarrt Nijirisky; und nur die
Karsavina lächelt noch iiber jcdem Untergang.
Sie — als zwischen vergifteten Farben die Erotik
in Choreographie unterging - umflackt den
Sultan Ueberrascher, der zur Welt hauptsächlich
anführte, daß die Appartements seiner Damen nur
ihm geöffnet seien. Aber der Sultan ist nach dem
Herzen des I 3arketts . . . W. Gh. schreäbt eine
Komödie, in der alle umkommen, weil die Welt
nicht uritergeht.

Siurlai

Aus der Musik„welt“

Drauf und dran

Der Veteran unter den Berliner Musikkritikern,
Josef Lewinsky, ist — äh — ein jrader Geist. Seine
Jedanken haben Richtng. Sind diszipliniert. Er
schreibt mit militärischer Schneid. Einfach phäno-
menal kernig, Kojlege.

Man hatte ihn abkommandiert: Bericht iiber
ein Steinbach-Konzert zu erstatten. Und er rnel-
dete gehorsam:

Bas lebhafte Naturell Steinbachs I.ommt be-
sonders in bewegten Tonstücken zu sieghaf-
t e r Entfaltung. Er ist der geborene Kom-
mandeur des Orchesters; in seinenr Element
ist er so recht, wenn er seine Mannen ins
F e u c r f ii h r e n k a n n. Die z ii n d e n d s t e n
S ä t z e in der Bachschen „Suite“ waren daher die
springende „Gavotte“ und die wirbelnde „Figur“.

Es war auch hier wieder ein glänzender Sieg
auf allen LJnien. Das Publikum gab sich gefangen,
und es dankte dem „geborenen Komnrandeur“ und
seinen wackeren Mannen mit dem Donner vieler
Applaussalven. EI u r r a !

Ein Hanswurst

Am Schwanzende des vergangenen Jahres
huldigte das große Intelligenzblatt jenen Köpfen, die,
bis auf einige wenige, dem Henker des Gesclrmacks
von gestern schon verfallen sind. In der Galgen-
frist, die ihnen gewährt ist, liiften sie die schäbige
Nimbusgardine: den neugierigen Zeitungsleser den
seltenen Biick in die „A r t d e s dichterischen
Schaffcns“ gewinnen zu lassen. Sie sind mit
ihrem Los zufrieden. Der H a n s B r e 11 n e r t feilt
sogar vergnügt an einenr Libretto, dessen einzelne
Blätter ihm Jean Gilbert aus der Hand „rupft“,
Das Werk hatte ursprünglich eine satirische Grund-
idee. Aber der „Schriftsteller“ hat sie mit Walzer-
texten verschütten miissen. Die Leute vom Bau,
die wahren Freunde der Operette, nötigten ihn
dazu. Nehmt es ernst: Hier ist ein Humorist, der
einer satirischen Grundidee nachtrauert, die unter
Walzertexten begraben liegt — ein Opfer der guten
Freunde der Operette, obgleich ihr bester Freund

Hans Brennert selbst ist. Nach einem „Ball auf
Eis“ schmolz err in Versen zum Ruhme jene: - be-
liebten Operettenkomponisten, die einer modernen
Redoute eberi dem „Bail auf Eis“, im Admirals-
palast „die künstlerische Patina gaben“. Schäkert
S c h a c h , der auch ein Brett vor dem Kopf hat.
Doch Mans Brennert in allen Gossen dichtet:

Raffen aller Schleppgewänder —-
Trorhmelwirbel! — Alles schweige! —

Oben am Musikgeländer
Paule Lincke mit der Geige.

Und er geigt das Lied vom Mädel,

Das da rollschuht auf der Straße!
Anstecklocken, kahle Schädel
Wiegen sich in Watzermaße.

Später grüßt tnit rieuein Tusche
Die Trompete reich versilbert!

Seiner neuen Walzerdusche
Hähne öffnet nun Jean Gilbert.

Ha! ein Rebell?

Johannes der D o e b b e r erzählt, daß die vier-
aktige Oper „Otell'o“, des italienischen M'eisters
letztes V/erk, wieder einmal im Spielplan des könig-
licheti Opernhauses „erschienen“ ist. Der „Otello“,
eines

von den Werken, dic nur vorübergehend zur Auf-
führung kornmen, um nach einigen Abenden in der
Ribliothek z verschwinden. Die Gunst des großen
Publikums ist denr Otello nicht besonders zuge-
tan, und das init einigem Recht. Die Oper ge-
hört niclit zu den glücklichsten I n s p I r a -
t i o n e n des Altmeisters Verdi; der s c h w a n -
k e n d e S t i 1 zwischen alter Opernschablone
und fortschrittlichem, von Richard Wag-
ners Prinzipien beeinflußtem Geiste wird heute
selbst dem unbefangensten Hörer fiihlbar. Und
so ist der Otello nur mit einem illustren Gast in
der Titelrolle wirklich g e n i e ß b a r.

Dieser Johannes erleidet nicht Kunst. Er will
sie genießen. Den S t r a u ß verschlingt er mit
Haut und Federn; den alten Verdi frißt er nicht. Da
fahre doch gleich ein H a u p t m a n n a. D„ Le-
winskys Vorgesetzter,'drein:

Dieser „Oteüo“ ist eine privhtvolle Oper.
Beeinflußt von Wagner, von dem neuen musika-
lisch-deklarnatorischen Stil, den der Bayreuther
Meister geschaffen, hat Verdi als Vierundsiebzig-
jähriger ein Werk ersonnen, das seine- eigene
Note init den rnodernen Ausdrucksnritteln der
dramatischen Musik so eigenartig und auch so
gliicklich verbindet. Hier der Verdi, der mit sei-
nem italienischen Ohr hört und der geschlunge-
nen rnelodischen Linie sich zuneigt, und dann der
Musikeiyan dem die neue Zeit nicht ohne tiefen
Eindruck voriiberrauschte. Hier die kantable Ton-
sprache, und an anderen Stellen das Streben,
durch vertiefte, durch scharf geprägte Charakte-
risierung zu wirken. Alles in gliihenden
Orchesterglanz getaucht, — schillernde Farben,
strahlendes Licht, kapriziöse Effekte, ein Schwel-
gen in meisterlichem Können, eine sinnberückende
Herrschaft iiber alle Mittel der musikalischen
Kunst, fast spieleriseh sicher nnd dabei soviel
echtes Gold!

Etlichen Leuten das .Tragen von Waffen der
Kritik verbieten? Sie richten mit ihnen Unheii und
Verwirrung an.

Und die Kunst?

Die lächelt, unverwundbär, hinter denr
Wall der Dummheit ihrer zudringlichsten Nabel-
beschauer, den Söldnern der „Großmacht Presse“.

J.A.

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

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