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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 91 (Dezember 1911)
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Scheerbart, Paul: Die Perseiden und die Leoniden
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0283

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„Wollen Sie sich,“ erwiderte Mistress Doro-
thee, „ein wenig deutlicher ausdriicken? Meinen
Sie das Zodiakallicht? Das soll ja wohl eine Art
Saturnring in unserer Atmosphäre sein.“

„Das,“ erwiderte Mister Caspar, „liegt ein
wenig zu weit. Zu diesem Zodiakalringe werden
wir wohl schwerlich mit dem Ballon hinaufkom-
men. Aber — wir haben täglich zehn Millionen
Sternschnuppen in unserer'Atmosphäre. Die könn-
ten wir doch wohl vom Ballon aus näher kennen
lernen. Bedenken Sie nur: täglich immer wieder
ganz neue zehn Millionen Weltkörper, die nicht von
dieser Erde sind immer wieder neue — täg-
lich!“ —

„Das ist ja kollossal!" rief die Dame und blickte
mit der Lorgnette zur Spitze des Montblancs, die
allmählich rot wurde.

Die Lampions wurden auf der Terrasse ange-
steckt. Auf dem Qenfer See wurden die großen
Bergschatten dunkler.

Mister Caspar fuhr fort:

„Am zehnten August haben wir wieder den
Persei'den-Schwarm zu erwarten. Das sind die
bekannten Tränen des heiligen Laurentius. Idie vom
Luftballon aus beobachten!“

„Das wäre,“ rief Mistress Dorothce ganz
laut, „einfach ent£iickend. Was gäbe ich darum,
wenn ich dabei sein könnte!“

„Damen,“ bemerkte Mister Caspar, „haben
wissenschaftliche Ballonfahrten noch nicht mitge-
macht. Sie, Mistress Khnnpke, wären die erste.
Das würde Ihren Namen sehr beriihmt machen.“
Da lachte Mistress Klumpke und sagte:
„Machen Sie keine Scherze! Mein Name ist
wirklich so ungeheuerlich ungraziös, daß die Men-
schen ihn nicht behalten werden.“

„Qrade solche Namen,“ fuhr Mister Caspar
dazwischen, „lassen sich anr leichtesten beriihmt
machen. Namen wie der rneine sind nicht auffällig
genug. Aufs Auffällige kommts aber an. Klumpke!
das ist ein Name, der schon tüchtig auffällt.“

Beide lachten.

Und Mistress Dorothee sagte:

„Lassen wir die Scherze! Das Plumpe gefällt
mir nicht, wenns auch tüchtig auffällt. Indessen —
kann ich nicht dabei sein? Können wir nicht zu-
sammen am zehnten August eine Ballonfahrt unter-
nehmen?“

„Ja,“ meinte Mister Caspar, „wenn Sie den
Luftschiffer interessieren könnten!“

„Ach,“ erwiderte Mistress Dorothee, „das
könnten Sie lieber selber arrangieren. Vielleicht
bekommen wir den Luftschiffer, wenn wir uns beide
an ihn wenden. Ich kenne einen entfernten Ver-
wandten, Monsieur Blanchard. Der ist Luftschiffer.
immer in Oeldverlegenheiten. Den könnten wir be-
kommen. Sie interessieren gleichzeitig das Pariser
Obversatorium, und ich steure etwas zu der Sache
bei.“

,Abgemacht!“ rief sehr erfreut der Astronom,
„ich gestehe Ihnen, daß ich diese Wendung des Qe-
sprächs grade gewollt habe. Ich wäre sehr für diese
wissenschaftliche Exkursion. Sie glauben ja gar
nicht, was alles in den Perseiden da oben möglich
sein könnte.“

„Jetzt machen Sie,“ sagte Mistress Dorothee,
„mich aber neugierig. Der Perse'idenschwarm
wird doch neuerdings mit einem Kometen zusam-
mengebracht. Kometentriimmer sollens ja wohl
sein, nicht wahr?“

„Trümmer?“ rief Mister Caspar.

„Ja, ich denke doch!“ meinte die Dame.
Aber der Astronom runzelte die Stirn und
sagte sehr hart:

„Die Menschen sind immer bereit, zu meinen,
daß es im Kosmos ebenso kläglich hergehe wie in
der irdische'n Politik, in der auch immer wieder
von Zertrümmerung die Rede ist. Wir kennen
aber im Weltall noch nicht eine einzige Zerstö-
rung. Kein Stern ist bisher vor unsern Augen zu-
grunde gegangen — so wie irdische Menschen und
Königreiche zugrunde gingen.“

„Aber,“ rief die Dame heftig, „Meteore sind
doch geplatzt.“

„Wann?“ fragte kalt der Astronom.

„Sie scherzen!“ erwiederte wieder die Dame.

Aber der Astronom sagte:

„Kein Mensch kann behaupten, daß die paar
Steine, die zu uns hinunter kamen, ganze Meteore
gewesen sind. Diese tauchen gewöhnlich vier bis
fiinf deutsche Meilen iiber der Erdoberfläche auf.
Wenn sie in dieser Höhe noch zu sehen sind, so
müssen sie mindestens fünfzigmal so groß sein als
ein Luftballon.“

„Allerdings!“ rief Mistress Kluinpke mit gefal-
teten Händen. „Sie überzeugen mich. Dadurch
werden aber die Sternschnuppen rasend inter-
essant. Und jetzt kann ich kaum noch den
zehnten August erwarten. O, wie freue ich mich, daß
wir fahren! Ich telegraphiere morgen in aller
Frühe an diesen Blanchard. Er ist mir noch etwas
schuldig. Die Sache wird gemacht. Indessen - -
kommen wir rasch zu den Persei'den zurück. Sie
meinen, Mister Caspar, daß diese Perse’iden Trüm-
mer von Kometen in keinem Falle sind, nicht
wahr? Wofiir halten Sie denn diese Perseiden?“

„Ja,“ meinte der Astronom lächelnd, „Sie kön-
nen nur Hypothesen von mir erwarten. Aber
darum wollen wir ja die Ballonfahrt unternehmen,
um die Wahrscheinlichkeit dieser Hypothesen fest-
zustellen.“

„Sie spannen mich auf die Folter,“ sagte wieder
die Dame, „ich bitte Sie: sagen Ste mir rasch,
wofür Sie die Perseiden halten. lch kann's kaum
noch erwarten.“

Mister Caspar sprach leise:

„Wer sagt uns, daß wir in den Kometen ge-
schlossene Körper wie die Planeten zu erblicken
haben? Wer sagt uns das? ' Der Komet Biela
teilte sich bekanntlich im Jahre 1845 man sagte
damals, er bekäme ein Jnnges. Ziemlich respekt-
los! Wär's nicht natürlicher, wenn man den Ko-
meten gleichsam als Vogelschwarm auffaßte —
von dem sich eine jüngere Generation losmacht?
Das wäre doch die natürlichste Erklärung für die
höchst phänomenale Teilung des Bielaschen Ko-
meten. Nehmen wir das aber an, so ist aucb der
kometarische Ring, den die Perseiden bilden sol-
!en — nicht ein Trümmer-Ring — sondern ein le-
bendiger Ring von dislozierten Kometenmitglie-
dern.“

„Dann,“ rief Mistress Dorothee aufspringend,
„hätten wir also lebendige Wesen in den Perse-
Iden zu erblicken? O! Himmlisch! lhre Logik
ist zwingend. Ich glaube daran. Ich telegraphiere
sofort an diesen Blanchard! Herr Oberkellner!"

Die Dame gab das Telegramm auf, und Mister
Caspar bestellte alten Rheinwein und Importen und
Zigaretten. Dabei blickte er zum Montblanc
empor, der ganz dunkel war.

„Schade.“ rief er, „daß wir bei 'diesem Ge-
spräch das Alpengliihen gar nicht beachtet haben.
Doch gerade in diesem Jahre sollte wieder der
Bielasche Komet da sein. Die Perselden sind, wie
allgemein angenommen wird, der Bielasche Ko-
met.“

Mademoiselle Klumpke trank ein ganzes Glas
Rheinwein auf einen Zug aus. Die Stimmung
wurde immer heftiger. Mister Caspar erzählte,
daß nach seiner Meinung alle Kometen aus großen
Schwärmen von elektrisch leuchtenden Lebewesen
beständen.

Die Beiden fuhren am nächsten Tage zusam-
men nach Paris. Und alles wurde für den Aufstieg
am zehnten August vorbereitet.

Leider brach an diesem Tage ein Orkan los.
der mehrere Tage wiitete. Und Monsieur Blan-
chard stieg nicht auf, obschon ihm von Mistress
Klumpke die größten Summen zu Fiißen gelegt
wurden.

Dafür wollte man dann im November des Jah-
res 1898 die Leoniden beobachten.

Mister Caspar sagte:

„Trösten wir uns! Die Leoniden sind eben-

falls höchstwahrscheinlich ein aus Kometenrnitglie-
dern gebildeter Ring. Vielleicht sind die Leoniden
noch interessanter als die Perselden. Es wäre
nicht unmöglich daß wir im November endlich
hinter das Kometengeheimnis kornmen. Die Ko-
meten sind komplizierter, als wir dachten. Ihre
leichte Auflösbarkeit, in mehrere Kerne, ihre große
Veränderlichkeit, besonders in der Sonnennähe, ihr
Schweif und andere Dinge — alles dieses sprieht
dafür, daß wir es in jedem Kometen mit einem
Volke zu tun haben — einem Volke, das zusam-
men abenteuernd — mit phantastischen Qlied-
maßen - durch den Kosmos dahinsaust — und
lebendig bleibt — auch wenn der Komet scheinbar
auseinandergeht.“

Der Aufstieg iin November 1898 brachte aber
leider keine Resultate. Dagegen soll jetzt in Paris
ein Tagebuch von Mademoiselle Dorothee Klumpke
erscheinen. Ob da etwas enthalten ist, das wis-
senschaftlichen Wert beanspruchen darf, das wis-
sen natiirlich nur die Herausgeber.

Briefe nach Norwegen

Von Else LasVrer-Sehüler

Lieber Herwarth, liebes Kurtchen, sollte ich
wirklich die Briefe vorgestern verwechselt
den an Euch Peter Baum, den Brief an Peter Baum
Euch etwa geschickt haben? Oder sollte sich die
Post den Streich geleistet haben, der Postbeamte
mit dem Ziegenbart guckt rnich so fauniseh
immer an.

Pitter, wenn De dän Breef bekommen häst, han
ech meck ermordet, Du bruchst ewwer nich nach-
kicken. Pitter, eck han meck dötmal werklech ver-
knallt! Rot ens en wäm! Du glöbst meck nich mähr,
Pitter, ewwer et is werklech war, on eck kan nich
mähr op Arbeet gon en die Fabrik. Pitter Boom,
en die Fröh han meck der Prinzipal geköndegt, weil
eck ömmer wie eene Taube op däm Taubenschlag
en die Loft kicke, on die Knöppe op die verkehrte
Siet öwerspannen tu. On freten kann eck ook
nich mähr, on eck berg ömmer minne Liebes-
schmerzen em Herzen en ming kariertes Koppkis-
sen; oder die Konterfeis on die Wände kick eck on,
usse Beld, wo wir eingesegnet worn sind met die
riecken Kender tusammen. Weeßt Du et noch?
Wie häst De Deck verändert, Pitter, on eck erscht,
ewwer wir sinn uss trö gebliewen en Früd on Leed,
on Du weeßt ganz genau, dat eck wacker ömmer
tu Deck gekömmen bön, on Deck allet gebeechtet
han. „Arbeet macht dat Lewen sös“ hat Deck
dann der Pastor Krummacher en Ding Poesie-
alböm geschriewen. on meck hätt hä eene empfend-
leche Rede gehalten, weel eck ömmer gelacht ham,
en der Konfermantenstonde onter ming Polt. Ewwer
dat es allet vorbee, nur lach eck nech mähr, eck
modd ümmer hülen, van wegen öhmm. Kennst
De „Öhmm“? Du kennst öhmm! Rot ens „öhmm“.
On klatsch et nich Herwarth weher, Pitter, on sei
gegrößt

van Dinne Frönden Amanda

Unglücklicher Herwarth, der Pitter hat mir
hier auch den Brief, den ich an Dich schrieb, zurück-
gesandt: Lieber guter Herwarth, bleib nur noch
ruhig und wohlgemut im Eis. Du kommst desto
frischer nach Haus. Du kennst mich doch,
Du kannst ganz ruhig sein. ich bin über-
haupt den ganzen Tag über zu Haus und mache
Weihnachtsbaum und abends zünd ich schon
die Kerzen an und singe Lieder, himmelhoch-
jauchzend zu Tode betrübt. Ich bin wahnsinnig
glücklich, Du siehst daraus, wie treu ich Dir bin.
Qrüße Kurtchen, unsern Engel.

Else
 
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