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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 73 (August 1911)
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Walden, Herwarth: Von Dichtern
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Nr. 75 (August 1911)
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Walden, Herwarth: Die Vinnen gegen den Erbfeind
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0136

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Von Dichtern

Begas

Nicht nur die Lebenden werden nach ihren
Gedanken befragt. Der Tod eines Menschen, der
der Oeffentlichkeit bekannt geworden ist, befreit
den Geist. Er wird über die Menschheit aus-
gegossen, gefasst in Erinnerungen und Aphoris-
men.

Welches Interesse hat die Oeffentlichkeit, Ge-
danken und Meinungen über Gott, Welt, Kunst,
Leben, Gewohnheiten und die übrigen iiblichen
Gebiete zu erfahren, die Maler, Bildhauer, Mu-
siker, Schauspieler ausgesprochen oder niederge-
schrieben haben. Soweit diese Personen eine
Kunst ausiibten, war ihnen reichlich Gelegenheit
gegeben, sich in ihr zu offenbaren und sich
durch sie auszudriicken. Ging ihnen diese Fä-
higkeit ab, so ist nicht einzusehen, warum sie
alle durchaus die Wortkunst als Gemeingut be-
trachten, in dem sie ihre Gemeinplätze anlegen.
Auch Eigentumsvergehen werden nicht gescheut.
Es gibt genug Leute, die alles drucken, sobald
es ihnen verständlich erscheint. Und der
geistige Eigentiimer ist stets so reich, dass er
den Armen das Stiickchen Brot gönnt. Je un-
geniessbarer, desto verständlicher. Der Verstand
hat einen schlechten Magen. Es muss ihm alles
vorgekaut und zu Brei gekocht werden. Dann
verträgt er aber jede Sudelei.

Die Frechheit, mit der Publikum und Presse
iiber Literatur urteilen, kann nur aus der Nai-
vität erklärt werden, die Schreiben fiir Schrift-
stellern und Meinungen für Gedanken hält. Die
Wortkunst ist wie jede Kunst Ausdruck einer
künstlerischen Persönlichkeit, erfordert also In-
tensität des Erlebnisses und seine Gestaltung.
In ihr regiert der Dilettantismus am imgenier-
testen, weil er lhr Material, das Wort, zu b e -
herrschen glaubt. Darum treiben alle Künst-
ler im Nebenberuf das Schriftstellern. Die An-
einanderreihung von Sätzen und Meinungen
scheint für die Mehrheit schon etwas Bewunderns-
wertes zu sein.

Die beliebteste Form der Dilettanten für li-
terarische Aeusserungen ist der Aphorismus. Mit
Vorliebe auch Gedankensplitter genannt. Diese
Leute haben stets einen Balken im Auge. Die
splitterweise Entfernung gibt aber noch lange
keinen Gedanken. Auch wenn die Splitter ins
Gehirn dringen. Nur Menschen mit unversehr-
ten, starken Gehirnen haben das R e c h t, Apho-
rismen zu schreiben. Ein Künstler wie Karl
K r a u s hat es. Reinhold Begas nicht.

Die gesamte Tagespresse und die schlechten
Zeitschriften überbieten sich im Abdruck der
Aphorismen von Reinhold Begas. Man ist wehr-
los. Man wird erschiagen. Zwölf auf ein Dut-
zend. Sechzig auf ein Schock. Das Gespräch
der Woche: haben Sie nicht den neusten Apho-
rismus. . . Ich bin überzeugt, die illustrierten
Zeitungen werden in der nächsten Nummer eine
schematische Darstellung bringen, dass sie ne-
beneinandergesetzt den Erdball dreimal umschlie-
ssen oder dass man auf dieselbe Weise mit ihnen
den Weg bis zur Hölle pflastern kann. Selbst zu
seinem Hausarzt sprach Begas angeblich nur in
Aphorismen. Aber tausend Splitter geben noch
keinen Balken und tausend Einfälle kein Haus,
und tausend Nippes kein Monument, wenn nicht
von unserer Zeiten Schande, die solche Dinge
eiu Kunstwerk nennt. Begas meint selber: „Apho-
ristische Bemerkungen eines bedeutenden Künst-
lers über die Kunst verhalten sich, wenn sie
auch noch so geistvoll sind, zu seinen Werken
wie die Melasse zum raffinierten Zucker.“ Ja,

wie M e 1 a s s e : ein brauner, sehr dickflüssiger,
übelriechender Sirup, enthält viel Zucker, der
durch schleimige Substanzen am Kristallisieren
gehindert wird; dient als Viehfutter (Auskunft
des grossen Meyer). Und die Assoziation
zwischen der Kunst eines bedeutenden Künst-
lers und dem raffinierten Zucker bedeutet
gedanklich zwar nichts, sollte aber bedenk-
lich' machen. Weiter: „Die Frauen sind wie
Himmelsspeisen, es kommt aber doch darauf an,
wie sie serviert werden.!“ Diese Vorstellung aus
der Küche geht selbst über das Bedenkliche hin-
aus. Wer diesen Satz von den vornehm servier-
ten Frauen als Himmelsspeisen seh'en konnte,
war nie ein Plastiker. Denn Werke aus raffi-
niertem Zuckerguss hat noch niemand bis heute
für Kunst gehalten. Wer diesen Satz da erle-
ben und niederschreiben konnte, ist nie ein
Künstler gewesen. Dieser Aphorismus allein
müsste denen, die vor der Technik bildhaueri-
scher Arbeit schon erstaunen, beweisen, wer
Begas war. Aber weiter. Begas besuchte mit
seinem Hausarzt den Louvre: der Hausarzt be-
merkt: „Seine Scheinwerferaugen gaben den Din-
gen mit seinen Worten erst einen vollen auf-
leuchtenden Glanz. Nach langen anbetungsglei-
chen Worten sprach er, vor der Venus von Milo
stehend, ganz einfach' vor sich hin: „Echte Kunst-
werke sind wie alte Geigen, sie werden immer
besser, immer seltener, immer einsamer!“ Diese
Worte sprach Begas ganz einfach vor sich hin.
Vor der Venus von Milo. Bei „echten“ Kunst-
werken dachte er an alte Geigen, die immer ein-
samer werden. Die Assoziation eines Künstlers.
Völker Europas, glaubt nicht, dass deutsche
Künstlermenschen den Verfasser dieser Apho-
rismen für den grössten Bildhauer, für den deut-
schen Michel Angelo halten. Man muss pathetisch
werden, denn die Blamage, die man uns antut, ist
nicht zu ertragen. Maximilian Harden aber fin-
det, dass solche Aphorismen „für eine an Scho-
penhauer geschulte Intellektualkraft zeugen“. Noch
ein Beispiel: „Der Hang zur Einsamkeit ist im-
mer ein Zeichen inneren Lebens imd der Bega-
bung; wer die Einsamkeit meidet, gibt zu ver-
stehen, dass er im Verkehr mit sich selbst in
schlechter Geseüschaft ist.“ An Schopenhauer
geschult. „Das bloss M o d e r n e ist das M o-
d e r n d e“. Melasse, aber an Schopenhauer ge-
schult. „Der Löwe nimmt kein Heu an. Er
kostet’s erst gar nicht; er weiss es, dass es ihm
nicht schmeckt.“ Intellektualkraft. „Bei den mei-
sten Menschen geht’s wie beim Bandwurm:
es hapert mit dem Kopf.“ Melasse, Me-
lasse. Sie soll zu einem Buch zusammen
geklebt werden. Melasse soli sein Name
sein. Maximilian Harden entwirft das Bild
des Bildhauers: „Der schlanke, dem schönsten
Helden eines Künstlerromans gleichende Mann,
hat alle Tränke, die langes Erleben ihm bot, aus
vollen Bechern geschlürft und die Schaumperlen
mit lässiger Hand aus dem fast kokett gepfleg-
ten Wallbart gewischt.“ Der Künstler der Zu-
kunft. Keine Tränke ohne Erleben. Kein Wall-
bart ohne Schaumperlen. Maximilian Harden
entwirft das Bild der „Ehegefährtin“: „Nichtnur
eine schöne Frau. . . sondern auch ein stets,
bis ins Alter, zu Liebe und Hass reizendes Weib-
chen. Und diese Frau. . . hinderte ihren Rein-
hold-Rami niemals, sich, wo ihms behagte, die
Sinne zu kühlen.“ Familienidyll.

Aber es wird noch tirolerischer: „Zu einem
Gebirg häuften sich ihm die Freuden und oben
thronte er, das Tirolerhütchen keck auf dem Ohr.“
Der schönste Held mit schaumperlendem Wall-
bart und clem kecken Tirolerhütchen auf dem

Ohr. Und an Schopenhauer geschult. „Die sta-
tuarische Würde schwand erst, wenn er ins
Schimpfen kam.“ Da erst hätte er beweisen kön-
nen, dass er statuarische Würde besitzt. Sha-
kespeare war der Lieblingsdichter von Begas.
Nur einmal, teilt das Berliner Tageblatt mit, hat
er seinen Abgott verleugnet und zwar, als er den
Sherlock Holmes cles Herrn Ferdinand Bonn im
Berliner Theater sah. Begas bemerkte: „Wenn
kein Mensch mehr Shakespeare spielt, wird d a s
Stück noch gespielt werden.“ So sehr, bemerkt
das Berhner Tageblatt konnte ihn für Augen-
blicke ein voller Eindruck beherrschen. Auch
der Eindruck des Augenblicks ist der Ausdruck
einer Person. Wie tief muss die an Schopen-
hauer geschulte Intellektualkraft Shakespeare er-
fasst haben, wenn sie Sherlock Holmes ergriff.

Persönlichkeit ist Einheit. Kunstwerk ist
Einheit. Der Künstler kann vom Menschen nicht
getrennt werden. Man i s t Künstler aber man
w i r d es nicht. Wer Kunst nur als Beruf aus-
übt, ist ein Dilettant. Begas war einer. Daran
kann auch sein Tod nichts ändern.

Das neue Dichterterzett

Das Berliner Tageblatt schreitet andauernd
fort. Bis vor kurzer Zeit hielt man dort für
d i e Dichter Hauptmann, Suclermann und Fulda.
Sudermann und Fulda sind abgesetzt und das
neue Terzett heisst Hauptmann, Dehmel u n d
Schönherr. Der Fortschritt ist unverkennbar.
Früher wurde aus Versehen ein wirklicher Dich-
ter zum Dichter ernannt, diesmal sind schon
zwei vorhanden. Schönherr wird es allerdings
nicht solange aushalten wie Fulda. Aber den
dritfen Mann wird das Berliner Tageblatt nie
finden.

Der Musikkritiker

Das Berliner Tageblatt hält es für nötig,
seinen Lesern von einem Interview Kenntnis
zu geben. Aus zwei Gründen. Zunächst, um
für das widerliche BÖrsenblatt des Herrn Leip-
ziger Reklaine zu machen, dann, um das Pub-
likum von den Plänen eines Lieblings zu unter-
richten. Ein Reporter, der einen nützlichen
Stand mit seinen lyrisch-feuilletonistischen Ma-
nieren heruntermacht und deshalb im Nebenamt
Musikkritiken schreibt, begab sich im Auftrag
seiner Firma zu der königlichen Hofopernsän-
gerin Emmy Destinn. Fräulein Destinn erzähl-
te dem aufhorchenden hiesigen Vertreter, dass sie
das „hier pulsierende Kunstleben, die Fülle der
Eindrücke ungeheuer reize“. Sie läss: ferner auf
diesem recht gewöhnlichen Wege der General-
intendanz mitteilen, dass sie in der nächsten
Saison noch einige Wochen frei habe und ihre
Gage wohl zu erschwingen sein würde. „Das
ist meine Stellung zu Berlin.“ Nämlich die feh-
lende. Das Berliner Tageblatt findet auch „be-
sonders interessant, was die Künstlerin ihrem
Besucher (womit der hiesige Vertreter gemeint
ist) über ihre schriftstellerische Tätigkeit sagt.
Sie sucht nämlich einen Komponisten für ein
von ihr geschriebenes Libretto, an das sie bald
„die letzte Hand anlegen wird“. „Das schlimm-
ste kommt aber jetzt und ich sehe Sie schon
ironisch lächeln: auch Gedichte, und zwar ly-
rische Geldichte, habe ich wieder geschrieben
. . . aber diese Gedichte behalte ich, nach den
Erfahrungen, die ich früher gemacht habe, wohl
besser für mich.“ Das ist sicher besonders in-
teressant. 3ie schreibt Gedichte, und zwar ly-
rische Gedichte, und schon sieht sie Jenen iro-
nisch lächeln. Der Interviewer sieht ironisch auf

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