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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 88 (Dezember 1911)
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Rung, Otto: Der Vagabund, [3]
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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Puy, Michel: Die Nachfolger der Impressionisten
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0260

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Briefe nach Norwegen

Yon Else Lasker-Schüler

Heute war der Bischot bei ntir; wir fliistern ber
jedem Zusammensein ieiser. Icli bin so empfindiich
am Herzen, ich höve mit meinem Herzen und das
sanfte Sprechen tut ihm vvohl. i;r saß an meinem
Lager, (Du Herwarth, ich habe mir direkt ein Zeit
eingerichtet rnitten im Zimmer,) und spielte mit sei-
nem Mnscheibleistift; ich zeichncte mit dem Kohi-
noor den Mond auf. bis er schwebte — so: Zwi-

schen der weißen Nacht des Papiiers ganz alleine
ohne Sterne und ohne Erde. Wie grausatn man
zeichnen kann, aber ich bat den Bischof, mit sei-
nem rauschendett Bleistift ein Meer unter den
Mond zu setzen. So geht es tnir aber auch mit
Nasen, die ich hinsetze oder Miindern oder halben
üesichtern, ich muß sie vervoilständigen. damit
ihnen nicht ein Sinn fehlt 'und dabei versäumt man
sich selbst so oft, und das Herz liebt so selten bis
zu Ende. Herwarth, Du mußt auch flüstern lernen,
man hört das Echo der Welt ganz deutiich. Wenn
der Bischof und ich flüstern, werden die Wände
leise und die Möbel erträglich, ihre Farben mild.
Und die Spiege! der Scltränke sind Bäche, und un-
sere Liebe ist ein Heimchen oder eine Grille, e'ine
Pusteblume, daraus sich die Kinder Ketten machen.

Liebe Jungens, lieut bekam ich eine Massen-
postkarte aus dem Rheingoid in Berlin: Liebe, beste
Frau L.-Sch„ Sie werden von uns allen vermißtü!
Loos.

Liebe, unbekannte Frau! Herr Loos hat über
Ihnen solche Lobdjudeleien gemacht, daß ich beinahe
fiirchte, Sie kennen zu lernen. Keine Dichterin in
ganz Deutschl-and schrieb Verse wie die Erau L.-
Sch., das ist das wenigste, was er sagt, und dann
zitiert er den Tibet-Teppich von Morgen bis
Abend. Aber hoffentlich sind Sie doch, wie er sagt.
Und einmal werden wir uns doch begegnen. Viele
Griiße Karin Michaefis.

Arnold Schönberg. Webern. Beste Grüße Lud-
wig Kainer. Ada und Emii Nolde. Kurtchen. Be-
stens grüßt Albert Ehrenstein. Herwarth Wafden.
Döblin — immer mal wieder. Erna Reiß. Gustav
Wallascheck. Hede von Trapp. Willam Wauer.
Lene Kainer.

Also seid Ihr beide doch wieder in Berlin; ich
habe das ganz vergessen, laßt Euch ja meine Briefe
aus Norwegen zurückschicken. Else

Der Dalai Lama meint, einige meiner Modelie
haben nicht den Anspruch auf meine Kunst. Anders
kann ich mir nicht des Ministers Worte deuten.
Aber es kommt ja nur darauf an, wie ich die Mo-
delle zum Ausdruck bringe. Ich habe weiter
nichts mit ihnen zu tun. Und meine Dichtung werde
ich später verkaufen, meine Scele an einen Ver-
leger verschachern, und dennoch hat der Dalai
Lama mir die Attgen geöffnet; ich empfinde seit-
dem mein Dichterinnensein für ein Pfandleihtum,
immer bewerte ich die Menschen, fast ohne Aus-
nahme, zu hoch. O, diese Verluste!

Lieber Herwarth, willst Du im Sturm veröf-
fentiichen iasscn, daß sich aile Vertreter unseres
gemeinschaftlichen Cates melden mögen, die den
Wunsch hegen, nicht mehr in den Briefen an Euch
erwähnt zu werden. Ich gewähre ihnen freien
Abzug.

Die Nachfolger der Im-
pressionisten

Von Michel Puy

Die Maler, die man kttrze Zeit „les Fauves“
nannte, befinden sich in voller Reaktion gegeniiber
der Gruppe Vuillard, Denis, Valfoton. Sie lehnen
sich nur an Valloton an, der sich selbst von ihnen
losiöst. Sie haben davon geträumt, ihre Unter-
suchungen auf einer griindlichen Kenntnis der Zeich-
nung aufzubauen. Nach und nach hat sich ihre
Zeichnung kondensiert, und um ihr Kraft zu geben,
sind sie nicht davor zuriickgeschreckt, sie durch
Iebhafte Earben zu unterstützen. Sie suchten die
Linie zu präzisieren und gingen soweit, sie manch-
mal verkiirzt und elliptisch zu gestalten. Sie sind
dahin gekommen, sich mehr mit der Linie an sich
zu beschäftigen ais damit, daß sie für ihre Zeich-
nung Kraft bedeutete. Sie wollten ihr eine herr-
schende Stellung in ihreti Werken vorbehalten. Von
der peinlichen Beobachtung der Realität ausgegan-
gen, haben sie es schließlich nur auf den Einfall ab-
gesehen. Die dekorative Spekulation hat ihre rea-
listischen Anwandiungen ersetzt; die Weitsehend-
sten wollten eine rein mathernatische Welt schaffen,
in der die Eormen, an die tmsere Augen gewöhnt
sind, durch Vielflächner oder Kegel ersetzt werden.
Andere wollen die Einbildungskraft des Beobach-
ters verblüffen, und, um besser zu ihrern Ziele zu
gelangen, scheuen sie nicht vor einer gewissen
äußerlichen Bizarrerie.

Alle diese Maler haben die Beachtung des Pu-
blikums erzwungen, viele empört, und zahlreiche
Anhänger gefunden. Es ist sehr schwer, in einer
derartigen Bewpgung klar zu uuterscheiden zwi-
schen dern, was einer nötigen Handlttng der ver-
schiedenen Temperamente mit den Mitteln der Zeit
entspricht, und dem, was einfaeh Zufall, Uebcrtrei-
bung, Hingerissensein. Rausch, Großsprecherei ge-
nannt werden müßte. Erwägt man aber die Ent-
wicklung ilirer Gruppe, so muß tnan anerkennen,
daß sie mit logischer Heftigkeit das Malen und
die Hauptprinzipien ihrer Vorgänger ausgenützt
haben.

Es ist unmöglich vou diesen Maleru zu spre-
chen, ohne zuerst den Namen M a t i s s e zu nen-
nen. Er besitzt ein Können, das ihrn keiner bestrei-
ten dürfte. Allen Verwandlungen der Eormen ge-
genüber ist er empfindlich, allen Earbenmöglich-
keiten. Er gleicht den Dichtern, für die iedes Wort
einen Sinn und jede W Tendung eine Bedeutung hat.
Mit dein einfachsten: mit einer Eruchtschale, einer
Person, einer Draperie, ist er fähig, eine große Lein-
wand lebendig zu machen. Mag er noch so hastig
nach dem Modell zeichnen, seine Skizze wird immer
dekorativen Wert besitzen. Er wächst immer über
die Empfindung der Anmut und der Hingabe, die
ein Frauenkörper ausströmt. hinaus, über die glück-
liche Sinnlichkeit, die von den Erscheinungen aus-
geht. Mit Hilfe eines einzigen Earbentones füllt er
einen weiten Raum. Und dieser Ton wird so ge-
wählt §ein, daß er das Ganze leuchten iäßt. In
einent Saale hängen seine Bilder nebeneinander
prunkvoll an den Wänden und passen sich den Ab-
stufungen der schönsten Teppiche an. Wenn Ma-
tisse in seinen Statuen oder in seinen Bildern die
Form übertreibt, so wird er ditrclt seiu Tempera-
ment geleitet, das ihn zwingt, eine Wahrheit zu be-
jaheu, die er nur ahnt, und sie schonungslos bis an
die äußerste Grenze des Parodoxen zu treiben. Er
iiebt seinett Malerberuf zu leidcnschaftiich, um ihn
nicht iiberail ztt betonen. Ohne Rücksicht auf das
Wesen der Plastik, ohne jede psychologische Spitz-
findigkeit und außerhaib alier charakteristischen
Merkntale eines Werkes von Gefiihl ttnd Vorstel-
lung kommt er dahin, itt einer Erauenstatuette, in
einer Landschaft oder in einer dekorativeti Kotn-
position eine Rührung einzuschließen, die in unserm

Denken und in unserm Eühien ein tiefes Echo aus-
löst.

M a r q u e t und P u y sind zweifellos vott Ma-
tisse inspiriert, sind ihm aber nur ungefähr gefoigt.
Marquet beschränkt sich auf die Landschat't; er be-
müht sich, das Interesse an ihr in zwei odcr drci
Arten zu konzentrieren, die in ihrer Verschieden-
heit sich mit eigensinniger Präzisloti einprägen. Er
erweitert sie nicht durch Lyrismen oder durch Ek-
stase, er setzt sie hin utid charakterisiert sie mit der
beißenden Genauigkeit seinef Beschreibung. Für
die Seinequais, für verstaubte Vorstadtecken hat er
formeln gefunden, die sie richtig zusammeufassen
und ihr Aussehen in unserm Gedächtnis festlegen.
In einer Gruppe von Malern, die in der Oertiichkeit
nur ein Motiv sahen, hat Marquet das Persönlichc
herausgearbeitet und die Physiognomie geschaffen.
Und das, ohne Einzelheiten aufzuhäufen, deren Ne-
beneinandersteiiung schließlich dem Beobachter den
Gedanken der Aelmlichkeit suggerieren kann. Er
gibt die nachhaitigsten Empfindungen, die ihm die
Vision des Ganzen bietet. Ohne Geschwätz, ohne
Ueberfüllung. Se'me Bilder könnten dem flüchtigen
Beschauer eintönig und glanzlos erscheinen; in ihrev
Gesamtheit wirken sie kraftvoli.

Jean Puy schwankt zwischen sein.en Wün-
schen als Maler urid seinem Hang zum Dichter.
Er will keine materielle Realität kennen, die nicht
eiue gewisse Pliantasiefreudigkeit auslöst. Aber
keiu Gedanke kann ihn befricdigen, wenn er nicht
ein fester Bestandteil in der Arbeit der gemalten
Materie ist. Er hält sich an eine doppelte Aufgabe:
lange und unermüdlich zu beobachten, um die Natur
wiederzugeben, ohne sie zu verraten, und den For-
rnen und Farben einen Schwung nach jenen traum-
haften, versucherischen Höhen zu geben. Er strebt
nach allem, was erregt, nach der Begeisterung, die
in der L«ft, in der Begeisterung selbst liegt, nach
der fruchtbaren Traurigkeit der Betrachtung und
der verzweifelnden Ereude der Wollust. In einer
„Badeszene“ wirft er auf flache Eelsen, die das
Meer beherrschen, ein paar nackte, hüpfende, ra-
sende Menschen hin, die von einer wahnsinnigen
Lüsternheit ttach der Frische des Wassers und nach
der Torheit des Horizontes getragen werden. In
der „Etreinte“ stellt er der Weichheit des Sujet$
fantastische Eiguren gegenüber, die sich in den Fal-
tenwürfen fortsetzep, und die sich tolien Närrisch-
keiten, unbeschreiblichen Planschereien überlassen.
Dennoch ist er häufig zurückhaltender und begnügt
sich, durch den Adel der Stellungen, durch den Ernst,
den er ihnen gibt, seine dichterischen Anwandlungen
auszudrücken.

M a n g u i n hat cine leichte, oft glückliche
Hand. Blaue Töne, grtine, rote, gelbe, die er ganz
rein in seinen Bildern nebeneinanderstellt und in
denen er Frauenkörper, Landschaften, Interieurs er-
trinken läßt. Nackte Gestalten faulenzen lichtge-
bläht vor singenden Hintergründen, Bäume stehen
anmutig und strecken verloren ihr Blattwerk in den
Himmel. Dieser Maler mit den lachenden Eindriik-
ken, kümmert sich zu sehr um das, was um ihn her-
um vorgeht, unid oft vergißt er sich selbst. Die Ur-
sprüngüchkeit seiner Komposition beruht gänzlich
auf der sehr bunten ZusammensteMung seiner
Pinselstriche. Er hält sich an das Dekorative, und
er wirft sich auf Forrnen, die, keineswegs durch die
Eolgerungen einer persönlichen Logik motiviert,
schließlich seine Bilder kompromittieren müssen.

D e r a i n hat eine Art dekorative Wut. Seine
ersten Landschaften erinnern an japanische Kup-
ferstiche, in denen er ohne Rücksicht auf Realität
wilde Sachen macht. Er suchte ttach seinem Aus-
druck ungefähr utn dieselbe Zeit wie Matisse, dessen
Kenntnisse und sorgfältige Vorbereitung ihm gänz-
Iich abgehen. Er ist durchatis nicht mit einer Um-
tormung von Beobachtungen vorgegattgen,
sondern mit einer brutalen Benutzung von Fornten
tttid Farben. Er iiberläßt sich schttellen Eeststei-
ittngen, berechnet den Wert der Linien und emp-
findet es als Notwendigkeit, sich iu der Theorie zu

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