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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 65 (Juni 1911)
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Wolfs, John: Der gothische Dom: das Strassburger Münster$dvon John Wolfs
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Heymann, Walter: Berliner Sezession 1911, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0075

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Der gothische Dom

Das Strassburger Münster

Von John Wolfs

Er zerreisst den Raum in tausend Kreuzen,
Ecken, Konturen, Streben. Der Turm flammt
in den Himmel, zerbrochen von den Zierraten.
Indessen eilt das Schiff seitwärts. Die Stützen
kreuzen sich und fliessen verwirrt ineinander.
Der Raum zerrieselt an der Steinmasse.

Innen lastet ein Pfeiler. Er steigt, befreit
sich, eilt hinauf und schwingt sich oben im
Dunkeln fort. Die Strahlen anderer Pfeiler
schlagcn zusammen und vereinigen sich zum
Gewölbe. Draussen zerschellt das grelle Licht
an den gedämpften und kalten blauen, roten und
gelben Farben der schmalen hohen Fenster, die
in langem Zug an beiden Längsseiten neben-
einander stehen. Das bunte Licht und die
Formen der kalten, grauen .Steinmassen, dies
alles strömt gegeneinander, zusammen, eilt fort,
mid lebt ein eiliges fliessendes Leben. Der
Raum verschwindet im Unbestimmten.

Trotz allem kein Chaos, kein vages Irren.
Immer sublimieren sich die gleichen Ener-
gien zu gewaltigen Funktionen:
hnmer ordnen sich die Pfeiler zur Flucht in die
Weite, die Strahlen zum Flug in die Höhe. Nur
sind diese Funktionen nicht einheitlich und zen-
tralisiert. Im Ganzen vei-weilt kein geschlos-
senes Ruhen, in ihm bleibt kein Rhythmus, keine
,,Proportion“. Es ist keine Mathematik da und
kein Klang. Unter allen Erlebnissen der Kunst
ist das Erlebnis der Gotik das unmusikalichste.

Das Teniperament dieser Kiinstler: das
rücksichtslose Streben, das Zerbrechen aller
Fesseln, aller Bande, die Verachtung alles
Schweren, Fallenden, Niederziehenden, das un-
geheure Fort, Ilinauf, diese e i s i g e E k s t a s e.

Baut nicht jeder Kitschling heute noch in
gotischen Stilformen? Wendet er sie nicht
peinlich genau an, so wie sie uns eine gewisse
exakte „Kunst“ - Forschung treu und fleissig
ausgemessen und beschrieben hat? Aber das
Leben fehlt, das Streben und die Flucht. In
irgend eine Symmetrie gebannt und eingeordnet.
aber doch unproportioniert, dumpf und eng
stehen die Räume zusammen. So wird das
Gotische romanistisch verkitscht imd das Romani-
stische gotisch vergewaltigt.

Man ziehe endlich die richtigen Schlüsse
aus solehem Faktum (zu dem sich noeh mancher-
lei Analogien zeigen lassen). Die Gescliichte
der Kunst ist nicht ein Compendium aller je
vorgekommenenStilformen. Der erlebt nochnicht
das Kunstwerk, der alle Varianten und Nuancen
seines Aussehen kennt. Das Wesentliche ist
das T e m p e r a m e n t, das sich in diesen
Formen offenbart, der Affekt, der in ihnen lebt?
der Ausdruck der seelisehen Zuständlichkeit.
Das muss erlebt und (vom Kunstforscher) er-
kannt und formuliert werden.

Berliner Sezession 1911

Von Walter Heymann

II

Ich bin ein Feind des Aesthetizismus, den
kein starker Wille treibt. Geschmackskultivierung
ist nichts mehr als eine Vorbereitung- und Er-
ziehungsmaßnahme für die Erzeugung einer neuen
Kultur. Wenn ich bei Liebermann Esprit merke,
so verzeichne ich ihn als eine sekundäre Eigen-

schaft. In die Nähe des Liebermannschen Esprit
bringt mein unwillkürliches Empfinden gern einige
angenehme, feinfühlige Maler von vornehm ge-
hüteten Geschmack. Ob ich Karl Walser
noch zu dieser Gruppe zählen darf? Sein mehr
gezeichneter als gemalter „Kurfürstendamm“ wirkt
wie der nüchterne Witz eines Mannes, der seine
schlechte Laune nicht zeigen will und nicht ganz
verbergen kann. E. R. We i s s scheint ein emp-
findlicher Seismograph, der Geschmacksschwan-
kungen inFrankreich registriert. Seinem„Schlafenden
Mädchen“ hat er dennoch Innenkräfte von sich
aus verliehen. Nur erinnern die Farben der
Traumlandschaft zu sehr an zarte Seifenkartons.
Eugen Spiros anständiger Abessynier ist mir
zwar lieber als das Sumurun-Stimmungsbild von
Ernst Stern; aber er hat den Geschack im
Bewußtsein, nicht in der Seele. Treumann,
dessen Unglücklicher wieder famos beobachtet
und in leidvollen Farben empfunden ist, sollte
nicht dabei stehen bleiben, zwischen Mitleid und
und Aesthetizismus die genießerische Psychologie
als Mittel zu benutzen. Lieber männlichen Her-
zens durch die Hölle gehen! S t r e m e 1 s gelbes
Zimmer ist angenehm, Heinrich Hübners
Interieurs sind immer schön, von seinem Weinberg
lasse ich mich ebensogern bezaubern, als von
Maria Slavonas Blumenstrauß. Schade, daß
beiden Bildern ein Letztes an Kraft fehlt. D o r a
H i t z sucht, muß sich aber vor Unkörperlichkeit
der Gestalten hüten. Te w e s findet persönlich
Geschmack am Derben und Gesammelten. O r 1 i k
verwöhnt durch das japanisch duftige, daß er
den Wänden in der Reinhardtschen Faustprobe
und seinen Schneelandschaften leiht, nicht ohne
gegen sich einzunehmen. Weiß er nicht, daß die
feinsten Reizungen unwiederholbar sind. Ein paar
grüne Zitronen auf bläulich kühlem Kohlblatt
machen manches wieder gut. Dieses Stilleben
wirkt sehr neben denen von F e i n i n g e r und
M o 11, denen van Goghs Geist den Tisch ge-
rückt hat. Molls dekorativ vereinfachte Blatt-
gruppen-Abbreviaturen haben Studienreize. So
etwa auch Kurt Herrmanns neoimpressionistische
Versuche in farbigen Linien. Da wir gerade bei
den Sternbildern sind, stellen wir ferner fest,
das sidi neben O s s w a 1 d noch K 1 e m m,
Reiser, Brockhusen, Asselin und der
große H o d 1 e r mit dem schweren Thema ab-
gegeben. Und wer als friedlicher Bildbetrachter
von einem zum andern gehen möchte, kann sich
plötzlich unter Kämpfern fühlen. Begnügen wir
uns noch mit der Annäherung an das Streitgebiet.
K1 e m m etwa gewinnt, wenn man ihn mit
dem Beginner G e r b i g vergleicht, dessen Bilder
„Bahndemm“ und „Schafheerde“das interessante
Farbenproblem schwarz-grün in Angriff nehmen.
Der witzige Eismaler soll sidi aber hüten, aus
seinem Können in eine Spezialität zu verfallen.
Die Farbenfreude an seiner Arbeit ist bei mir
nidit sehr intensiv. Vielleicht wäre es ausreichend,
diese netten Späße statt in weiß, blau, schwarz,
grün konzentrierter in schwarz-weiß zu geben.
Den Widerspruch zwischen Technik und Dar-
stellung empfinde ich auch lebhaft bei R y s s e 1-
b e r g h e. Wie weit ist ein Pointillismus kon-
sequent, der bei der Menschenhaut zahmer wird.
Versuche man nicht, diese Frage durch Hinweise
auf Barbizonmaler zurückzuweisen. Die sehr
guten Leistungen dieses Meisters langweilen mich
— und ich neige mich mehr und mehr der Ansicht
zu, daß die Punktier- und Strichelmethoden über-
wiegend als dekorative, nicht als impressionistische
Behelfe ihre Bestimmung finden können. Sind
nicht „Die drei kleinen Jahn“ von Elsbeth von
Paul in deren sparsamen Technik fesselnder als

die Bodenhausenschen Rysselberghes. Die neuen
Zeichner haben uns die Sinne dafür gesdiärft,
daß man mit wenig Mitteln schon viel geben
kann. Pascin rechtfertigt das Erstaunen, mit dem
sein erstes Auftreten erfüllte, fast allwöchentlich
im Simplizissimus; mit seiner Malerei hat er einen
unbestrittenen Erfolg. Ich schenke mir gerne das
— in der Karikatur als Selbstverspottung noch
erträgliche — Manierhafte, zumal diese slovakisch-
obszönen Deformationen, aber ich könnte über
die Raffinements der delikaten Farben, der Per-
spektiven und gewisser mathematischer Raum-
teilungen pathetisch werden, was einem nieder-
trächtig zweideutigen Spötter gegenüber jedenfalls
ein Mangel an Haltung wäre. So begnüge ich
mich mit einem apercuhaften Lächeln und fühle
mich animiert. Um mich wieder ins Gleichgewicht
zu bringen, gehe ich zu den „schlichten Männern“.

Joseph Block mit dem „Raucher“ ist
in altmeisterlich interessanter Allüre groß. Aber
die Holländerart aus Großpapas Galerie ist uns
von Kindesbeinen an langweilig, da wird mir
Strucks Straße wieder lieber. Solche Bilder
können gut gemalt sein, es berührt uns nicht
wohltuend, Plusquamperfektum und Präsens ver-
wechselt zu fühlen. Modersohn und
Mackensen gewinnen ihrem Worpswede
auf großen Leinwänden kleine idyllische Schön-
heiten ab, die sie nun schon als bekannt voraus-
setzen dürfen. Ulrich Hübners Hanseatische
Meisterstudien, E m m y P i ck s konzentriertes
„Fischerdorf“ und Thomanns „Hirten“ sind
als kraftvolle Bilder noch zu rühmen.

Wenn Brandenburg den Tod Christi
als bengalisch-illuminierte Maskerade von —
meinetwegen großartiger Theatralik an uns
vorüberpeitscht, als wollte er ein „mittelalterlich
Mysterium“insReinhardtsche übersetzen, so verzeih
ihm nicht der gute Geschmack die mäßige Allegorie
Aber wie selbst Gestalten von Wurf bei ihm
immer gem in unwahrhafter Atmosphäre enden,
so ist wohl zwischen tiefem Fühlen und klarem
Erkennen eine Dunstwand, deren er von keiner
Seite Herr wird. B e ck m a n n behandelt in der
„Kreuztragung“ eine immerhin ins Starkromantische
gesteigerte Wirklichkeit, in der ein paar Speere
und das getragene Kreuz der Komposition nicht
minder Klarheit geben als der Situation. Jede
tinzelheit lebt, wo eine verfehlt ist, wo die Kraft
nicht hinreichte, zeigt sich’s mit aller Deutlichkeit.
Zwei Gesichter zum Beispiel haben eine genügende
Familienähnlichkeit. Schadet nichts. Hier ist einer,
der sich sein Drama aus einzelnen geprüften
Stüdcen aufbaut. Einer — man siehts an dem
etwas nach links unten drückenden Gesellschafts-
bild — den jede Einzelheit an sich reizt, und der
sie wieder vergessen möchte um eines Ganzen
willen, den das Porträt lockt, weil er daraus den
Typus, nein die Person im Drama gewinnen kann.
Vielleicht lockt ihn Wirklichkeit am meisten, wo
sie eine Steigerung enthält — wie diese „Han-
noversche Landschaft“, die ein edelsteinfarbenes
Schattenkleid von der vorwärtsstoßenden Wolke
empfangen hat. Wenn diese klare Begabung,
dies große Temperament noch auf die Vor-
aussetzungen technischer Natur, die bedeutenden
Minima eingeht und sich vielleicht in der Wahl
der Motive ein Uebermaß des Schwierigen eine
Weile versagt, können wir einen Künstler voll
Kraft und Ursprünglichkeit unser nennen.
H a n s M e i d zeigt sich gegen das Vorjahr be-
deutend vorgeschritten. Inzwischen haben wir
ihn als einen mit sparsamen Mitteln höchst aus-
drucksfähigen Radierer kennen gelernt. „Simson
und Delila“ hat er leider gemalt und den barocken
Scherz mit dem Licht eines heiligen Leuchters

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