Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 71 (August 1911)
DOI Artikel:
Adler, Joseph: Vom Tage: der hingerissene Zahnarzt
DOI Artikel:
Werbung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0124

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Ein echter Dichter,“ so setzt der Zahnarzt
ein,

„muss inspiriert sein, wenn er etwas Brauch-
bares schaffen will. Nur die Karnevalspoeten
und die Gelegenheitsdichter können der höhe-
ren Eingebung, des „holden Wahnsinns“ ent-
raten, wenn sie Verse schmieden und reimen.
Und dass Heines liebliches Gedicht „Du bist
wie eine Blume“ nicht durch blosse Verstan-
desarbeit zustande kam, dass es vielmehr das
Ergebnis eines Augenblickes der Weihe, des
unirdischen Empfindens war, dass es unge-
wollt und ungesucht als göttlicher Funke unter
dem Hufe des Pegasus dem Stein entsprang
das fühlt jeder, der die einfachen und doch
so ergreifenden Worte liest.“

Selbst unter glühenden Eisen, mit denen man
mir die so einfachen Worte ins Fleisch brennt,
könnte ich nicht fühlen, dass sie „als Ergebnis
eines Augenblicks der Weihe als göttlicher Funke
unter dem Hufe des Pegasus dem Stein(?) ent-
sprungen sind“. Und wie geschah das doch?

1827 weilte Anna Reinecke in Norderney,
wo Heine seine Ferien verbrachte. Zufällig kam
sie eines Tages an der Mittagstafel im Hotel ein-
ander gegeniiber zu sitzen. Von der grossen
Schönheit, der mädchehaften Anmut und Hold-
seligkeit seines Gegeniibers war der Dichter
so entziickt und frappiert, dass er Essen und
Trinken vergass und unverwandt die Kleine
anstarrte.

Aber dieser wurde die Sache schliesslich zu
dumm und sie entrüstete sich über die „vermeint-
liche Frechheit“ des Fremden. „Doch da Heine
zum Glück in seiner Begeisterung nur sah,
aber nicht hörte, verdichteten sich seine Ge-
fühle in das berühmte Gedicht.

Durch Verdichtung von Gefühlen entsteht
ein Gedicht. Und es ist auch danach.

Der Segen des Dürren

Die Stadtverwaltung von Gotha hat vor ei-
niger Zeit den Beschluss gefasst, zwei neue Stra-
ssen nach Männern zu benennen, die sich um
das deutsche Schrifttum Verdienste erworben ha-
ben, und man wählte als Taufpaten dieser bei-
den Strassen Fritz Reuter und Peter Rosegge.
Während der grosse Plattdeutsche nicht mehr
imstande ist, sich der Ehrung zu erfreuen, ist
die Kunde von der Namensnennung zum stey-
erischen Peter gedrungen, und dieser Tage lief
von ihm beim Stadtrat folgendes Schreiben ein:
„Hochgeehrte Herren des Stadtrats in Gotha!
Für die grosse Ehrung, die Sie mir durch Be-

nennung einer „Roseggerstrasse“ in Gotha er-
weisen, meinen innigen Dank. Auf diese blei-
bende Auszeichnung in der schönen Stadt Thü-
ringens bin ich besonders stolz. Treuen Poe-
tensegen allen, die in der Roseggerstrasse wan-
deln und wohnen! In dankbarer Ergebenheit
Peter Rosegger.“

Ich werde, sollte ich einmal nach Gotha
kommen, die Roseggerstrasse nicht betreten. Zwi-
schen den Häusern dieser „bleibenden Auszeich-
nung“ beständig schwebend, droht er auch mir,
der tolerante Poetensegen. Aber er würde meine
Seele wie ein herabfallender Ziegelstein treffen,
und ich müsste unter ihm zusammenbrechen:
mit dem Dialektfluch: Sakra.

Von einer anderen Auszeichnung

Eine deutsche Stadt ehrt den steyerischen Pe-
ter, doch die französische Regierund verleiht ei-
nem deutschen Schwankautor zu den Lorbeern,
die ihm ein „Kilometerfresser“, ein „Hochtourist“
und die „Polnische Wirtschaft“ brachten, d i e
Palmen der Akademie.

Das ist doch wenigstens b u r 1 e s k. Oder
sind die Palmen der Akademie ein Gewächs,
von denen im Norden jeder Theaterschmarotzer
erfolgreich träumen kann? Der Komponist der
„Polnischen Wirtschaft“ hat seinen Namen fran-
cisiert, und das Libretto zu einem andern Werk
seiner „leichten und heiteren Muse“ ist nach ei-
nem französischen Schwank „gedichtet“.

Aber das soll kein Wettlauf um die Palmen
der französischen Akademie sein, wenn mir nicht
im Winter, bei den Bällen und Festen der Kol-
legen ein Holzbock mit einem Maitre Jean
gegen die Galle stösst.

Das Aussergewöhnliche und das Typische

In der B. Z. a. M. war vor einigen Tagen
„e t w a s“ über „das Vergniigen der A rx
m e n“ zu lesen.

Auf der Galerie einer Londoner Music
Hall wurde vor kurzem ein junger verwahr-
loster Bursche in sterbendem Zustande vor-
gefunden. Er wurde ohnmächtig ins Spital ge-
bracht, wo er starb. Es stellte sich heraus,
dass er verhungert war. Die Sitzanweiser der
Galerie teilten auf Befragen dem Coroner, dem
gerichtlichen Leichenbeschauer mit, dass es
nichts Aussergewöhnliches sei, dass Besucher
der Varietes der äussersten Vorstädte vor Ent-
kräftung und Hunger in i'hnmacht fielen. Die-
se Erfahrung lehrt, wie tief in der menschli-
chen Natur das Bedürfnis nach Vergnügen sitzt;

Und in einer Reporternatur sitzt das Be-
dürfnis zu Philosphieren. Es kann aber auch
nur sitzen. Sobald es den Versuch macht zu
gehen, fällt es hin.

Ein Mensch ist des Hungertodes gestorben.
Doch diese Tatsache an sich ist unwichtig. In-
teressant ist nur, dass der Unglückliche einen
Ohnmachtsanfall auf der Galerie einer Music
Hall bekam. Aber er starb erst im Spital. Nicht
schon im Variete, dass er so leidenschaftlich ger-
ne besuchte. Darüber erhob sich dies in der Re-
porternatur sitzende Bedürfnis zu Philosophieren,
denn es war festzustellen:
dass in der Tat das Gefühl des gelegentlichen
Aussersichtseins, der Genuss des Ausserge-
wöhnlichen wichtiger sein kann als Brot.

Nun liegt es da, das Bedürfnis. Das Ge-
fühl des gelegentlichen Aussersichseins kann
wichtiger sein als — eines Hungernden — stünd-
liches Verlangen nach Brot? Und ist dem ge-
meinen Hunger das Gefühl des Aussersichseins
nicht reichlich genug verbunden.

Ein Hungernder wurde während des Ge-
nusses des Aussergewöhnlichen ohnmächtig und
starb bald darauf. Und das in einer Reporter-
natur kauernde Bedürfnis zu Philosphieren fand
sein „Fressen“ daran

Doch es ist ein Trost

dass der „Verwahrloste“ in gewissem Sinne mit
den erhabensten Geistern der Menschheit see-
lenverwandt war. Hat doch Mohammed ge-
sagt: Hätte ich nur zwei Laib Brot, ich wür-
de den einen verkaufen und mit dem Erlös
weisse Hyazinthen kaufen. Balzac hungerte in
einer Mansarde. Als er plötzlich in den Be-
sitz von tausend Francs kam, kaufte er für
den ganzen Betrag einen grossen Vorhang aus
rotem Samt, hing ihn in seinem leeren Zim-
mer auf und vergass in der Ekstase über den
Schmuck seine leiblichen Bedürfnisse.

Und dem Strassenjungen war die Bühne des
Vorstadtvarietes die weisse Hyazinthe Moham-
meds und der Scharlachvorhang Balzacs ....

Doch die Presse ist ein Fetisch der Menge.
Sie erhungert sich ihn geistig. Aber mancheinem,
dessen „Esprit“ und Schamgefühl unter dem Ni-
veau eines Vorstadtvarietes stehen, ist sie: Brot.

_J_A_

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich
Ungam / V.: Oskar Kokoschka

a

Die Fockel

HERAUSGEBER

Karl Kraus

a

ti

Erscheint in zwangloser
Folge

® lummßr 326/327/328

soeben erschienen

Preis 75 Pfennig

80 Seiten

Mit einer lllustration:
Der Sieger

ÜBERALL ERHÄLTLICH

Werbeband der Fackel
50 Pfennig

Les Mm

5 rue Chaptal / Paris

Diese literarische Zeitschrift
veröffentlichte das franzö-
sische Original der Tage-
bücher Flauberts, deren
Uebertragung in Deutschland
verboten wurde.

Die Hefte, die die Tage-
bücher Flauberts enthalten,
sowie die übrigen seitdem
erschienenen Nummern sind
vom Verlag der Zeitschrift
Les Marges gegen Einsen-
dung von sechs Francs direkt
zu beziehen.

L’Effort

Halbmonatsschrift

für moderne Kultur u. fran-
zösische Sezession in den
Künsten und in der Literatur

Herausgeber und
:: Schriftleiter ::

JEAN RICHARD

Jahreabezug für das
Ausland: Mark 4.50

Zweiter Jahrgang

Verlag und Redaktion:
POITIERS (Vienne)
Frankreich

r

a

2

Yerlag .,I)er Sturm“

LesCahiersduCentre

Monatsschrift für Sozioiogie
Geschichte, Kunst
und Literatur

Gegründet von Paul Cornu

Herausgeber u, Schriftleiter

HENRY BURIOT

In den Cahiers du Centre •

erschienen Werke von Jules 0
Renard, Charles-Louis Phi- —
lippe, Marguerite Audoux,
Emile Guillaumin, Romain
Rolland, Andre Spire, Henri
Bachelin, Valery Larbaud,
Raymon Darsiles u. a. m.

Jahresbezug fürs Ausland:

4,80 M. (Luxusausg. 9,60 M.)

Probeheft gegen Ein-
sendung von 50 Pfg.

VERLAG u. REDAKTION:

16, Boulevard Chambonnet,
MOULINS (Allier) Frankreich ^

■■-- ■—. •

568
 
Annotationen