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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 79 (September 1911)
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Walden, Herwarth: Gewerbsmässige Unzucht
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Zerbst, Max: Bewegung: Grundlage einer neuen Weltanschauung
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0185

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Staatsanwalt: Haben Sie sie ange-
griffen oder gekftsst? Diese Frage ist doch
von Interesse fiir diesen Prozess.

Z e u g e : Es ist möglich, dass es zu einem
K u s s gekommen ist.

Staatsanwalt: Haben Sie m e h r von
ihr verlangt.

Z e u g e : Nein.

Der Verteidiger: Das ist doch eine ganz
harmlose Sache.

Sollte Kuss und gewerbsmässige Unzuchf
identisch sein? Da er doch von Interesse für
diesen Prozess ist?

Z e u g e : Sie hat mir sofort gesagt, Sie
sei ein armes Mädchen und wisse, dass ein
Leutnant sie nicht heiraten könne. Schon des-
halb würde sie sich nie mit mir einlassen.

Ein türkischer Leutnant wird vernom-

men.

Der türkische Leutnant erzählt unter ande-
rem, dass er ein Mädchen auf der Strasse an-
gesprochen habe und dann mit ihr gegangen
sei.

V o r s i t z e n d e r : Ist es bei Ihnen in
der Türkei iiblich, dass man e i n f a c h e i n
Mädchen auf der Strasse anspricht,
um Verkehr zu bekommen?

Z e u g e : Ich war schon einmal in Deutsch-
land, und zwar in Berlin, da wird es a u c h
so gemacht.

Vorsitzender: Haben Sie ihr etwas
zugemutet?

Z e u g e : Ja aber es war nichts zu machen.

Nun stellt der Verteidiger fest, dass es sich
bei den s c h 1 i m m e n zur Verhandlung ste-
henden Fällen um sogenannte Verhältnisse han-
delt Der Angeklagte, nicht etwa der Herr As-
pirant oder die Polizeiassistentin, sondern der

Redakteur I lirsch, dcr diese Mainzer Angelegen-

heit besprach, erklärt, dass es Verhältnisse geben
würde, so lange es Leutnants und junge Mäd-
chen gibt. Man erfährt manches aus solchen
Prozessen. Aber der Angeklagte findet es un-
geheuerlich, „aus solchen Vorkoinmnissen ge-
werbsmässige Unzucht herzuleiten“.

Vorsitzender: Sie hören doch, dass
der Herr Leutnant wiederholt die Z e c h e b e-
z a h 11 hat.

Angeklagter: Solite vielleicht d a s

M ä d c h e n für den Herrn Leutnant die Zeche
bezahlen?

Sie hätte es beber tun sollen, sie hätte man-
ches andere gespart.

Der Prozess ist zu Ende. Der Angeklagte
wird sicher verurteilt werden, denn er hat im-
merhin Dinge behauptet, die er nicht beweisen
konnte. Zeugen fallen immer um, das hätte sich
der Redakteur sagen müssen. Sie erinnern sich
nicht. Aber er hätte auch bedenken müssen, wie
gefährlich es ist, sich gewerbsmässig mit Un-
zucht zu befassen. Wenn man es auch nur als
Publizist tut, so kann man doch der polizeilichen
Fürsorge unterstellt werden, ohne dass auf die
Erhaltung der Oesundheit aber irgend welche
Riicksicht genommen wird. Man steht vor einem
Rätsel, aber hat folgendes gelernt: Küssen ist
doch eine Sünde. Man lasse junge Mädchen
ihren Kaffee selber zahlen. Man nenne in Ge-
sprächen mit Offizieren nie ihren Namen, und
wenn man sie ansprechen will, tue man es in
der Türkei, oder am besten garnicht. Man leide
lieber an der Sexualität, statt sie zu dulden. Man
dulde lieber die Unzucht, als sie der Fürsorge
zu übergeben. Man übergebe die Fürsorgelie-
ber den Männem, weil die Damen der Polizei
so unsentimental sind. Man dichte lieber Senti-

mentalitäten, als sentimental über das Strafge-
setzbuch zu werden. Man lese das Strafgesetz-
buch lieber nicht, weil man das Deutsch doch
nicht versteht. Und man verstehe das Deutsch
nicht, weil man sich sonst schämen muss, ein
Deutscher zu sein.

Trust

Bewegung

Grundlage einer neuen Weltanschauung
Von Max Zerbst

Schluss

V

Unsere ganze Gefiihls- und Vorstellungswelt
is: natürlich selbst nichts Anderes als ein Bewe-
wegungssystem, als ein Komplex von Bewegungs-
formen und Bewegungsverhältnissen, der mit an-
deren Bewegungskomplexen und Bewegungfsar-
ten in engerem oder loserem Zusammenhang, in
deu verschiedensten Bewegungsbeziehungen steht,
woraus die gesamte Empfindungs- und Erkennt-
niswirklichkeit hervorgeht.

Die prinzipielle Trennung von „Geist“ und
„Körper“ wird demnach von selbst hinfällig;
beide sind nur Bewegungszuslände, beide gehen
zurück auf clie eine Urtatsache: „Bewegung“.

VI

Wir kennen zwei Grundeigenschaften der
„Bewegung“: „Richtung“ und „Geschwindig-

keit“.

„Richtung“ und „Geschwindigkeit“ sind —
wenigstens in Beziehung zu unserer „Wahrneh-
mung“ — integrierende Bestandteile der Bewe-

gim g. Dic „Geschwindigkeit“ hezeichnei in ge-

wissem Sinne die „Grösse“ der Bewegung, die
„Richtung“ die „Form“ der Bewegung.

Wir können uns daher allgemein die „Ge-
schwindigkeit“ als das quantitative Moment, die
„Rich'tung“ als das qualitative Moment der Be-
wegung vorstellen.

VII

Das Problem der „Richtung“ führt in die
unterste und geheimnisvollste Region der gros-
sen Bewegungswelt.

Unsere ganze Raumvorstellung setzt sich
aus drei Richtungselementen, den drei Dimensi-
onen, zusammen. Durch den Bewegungsprozess
dieser drei Grundrichtungswerte entsteht über-
haupt erst das, was wir „Raum“ nennen. Eben-
so basiert unser Zeitbewusstsein auf drei Grund-
richtungswerten, Grundrichtungsbeziehungen: Ge-
genwart, Vergangenheit, Zukunft. Die Tatsache,
dass man die Terminologie der Raumbegriffs>-
sphäre ohne weiteres in die Zeitbegritfssphäre
übertragen kann — man spricht bekanntlich von
einem Zeit p u n k t, einer Zeit s t r e c k e , einem
Zeit r a u m und so weiter — bewusst, dass „Zeit“
und „Raum“ auf einen gemeinsamen Grunder-
kenntniswert hinzeigen. Dieser Grunderkennt-
niswert ist die Bewegung und von der Bewe-
gung wiederum diejenige Eiementareigenschaft, die
wir „Richtung“ nennen.

Mit dem kleinsten Teile der Kreislinie ist
das Gesamtrichtungsbild des vollendeten Kreises
schon gegeben, der kleinste BewegungspunkLeiner
kreisförmigen Bewegung enthält gleichsam als
Keim den Gesamtrichtungswert, das Gesamtrich-
tungssystem des geschlossenen Kreisganzen.

Die verschiedenartigsten Richtungswerte i’ nd
Richtungsmöglichkeiten können in ungeheu/er
Konzentration in der winzigsten Bewegungsgrö-

sse, im verschwindensten Bewegungsatom —
Atom hier selbstverständlich als reiner Grössen-
wert gedacht ohne den geringsten substanziellen
Beigeschmack — sich befinden und erst im Ver-
lauf der Bewegung zur vollen Entwicklung und
Entfaltung gelangen. Man denke zum Beispiel
an den geschleuderten Bumerang, an die Billard-
kugel, et cetera.

So wird ciie ganze wunderbare Tatsache der -
Befruchtung und Geburt verständlich, wenn wir sie
auffassen als Uebertragung eines Konzentrations-
wertes kompliziertester und differenziertester Rich-
tungskeime und selbstversländlich auch Geschwin-
digkeitsqualitäten, die wiederum durch Bewegungs-
einflüsse zu voller Entfaltung kommcn.

Man vergegenwärtige sich das Problem des
rechten und linken Handschuhes, die bekanntlich
beide trotz ihrer scheinbar bis ins Einzelne und
Kleinste übereinstimmenden Grössen- und For-
mengleichheit ohne weiteres nicht zu vollständi-
ger Deckung gebracht werden können. Unter-
nimmt man die Lösung dieses Problems unter
Voraussetzung der allgemein , herrschenden star-
ren Raum- und Subsanzvorstellung, so stösst
man unfehlbar auf einen nicht zu beseitigenden
Rest von Geheimnisvollem und Unaufgeklärtem.
Höchst bedeutsam und interessant ist es aber,
dass die bisherigen Lösungsversuche zur Annah-
me einer vierten Dimension, also einer neuen,
noch unbekannten Richtungsinstanz, geführt haben.

Wenn wir das Problem vom Standpunkte
der reinen „Bewegung“, speziell der einen Grund-
bewegungseigenschaft, der „Richtung“ aus be-
trachten, kommt sofort Licht in das Dunkel.

Wir stellen uns jeden der beiden Handschuhe,
den rechten und den linken — wie überhaupt
jedes körperliche Gebilde — vor als ein Bewe-
gungsprodukt, als ein Bewegungsresultat, als
einen Rewegungskomplex und ein Richtungssys-
tem; als eine Summe von Bewegungs- und Rich-
tungsqualitäten. Bringen wir die beiden Hand-
schuhe an einem ihrer korrespondierenden Ober-
flächenpunkte — etwa an der Spitze der beiden
Daumen — mit einander in Berührung, so ha-
ben wir es, von diesem Berührungspunkte aus
gerechnet, mit zwei Bewegungssummen, mit zwei
Richtungssummen zu tun — soweit wir die bei-
den Körpergebilde mit unserer Wahrnehmung
gleichsam ausmessen, — die sich zwar in der
Gruppierung der einzelnen Teilrichtungen inner-
halb jeder Richtungssumme, in der Reihenfolge
der einzelnen Richtungssummanclen und in ihren
Verhältnissen zu einander vollkommen gleichen,
sich aber durch eine grosse Gesamtrichtungs-
differenz von einander unterscheiden, wenn wir
jede der beiden Bewegungssummen, das heisst
jeden Handschuh von dem Berührungspunkte
der Daumen mit unserer Wahrnehmungs- und
Vergleichungstätigkeit ausgehend, — als Bewe-
gungsganzes als Bewegungskomplex überschauen.
Diese Gesamtgrundrichtungsdifferenz strahlt aus
bis in die kleinsten Teile, bis in die kleinsten
und entferntesten Richtungsbeziehungen und Rich-
tungsverhältnisse der beiden Handschuhe, sie
wächst, sie vermehrt und vervielfältigt sich in
dem Masse, in dem wir während des Verlaufes
unserer Wahrnehmungsaustnessung zu immer kom-
plizierteren und verzweigteren Richtungskonstel-
lationen und Richtungszusammenhängen gelangen.
Eine Ausgleichung und Aufhebung der Grund-
richtungsdifferenz kann nur durch eine Grund-
gesammtrichtungsänderung erreicht werden, nur
dadurch, dass die ganze Bahn der Grundgesamt-
richtung wieder rückläufig durchmessen, gleich-
sam wieder durch alle Ausstrahlungen, Verzwei-
gungen und Vervielfältigungen rückwärts verfolgt

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