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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 79 (September 1911)
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Walden, Herwarth: Gewerbsmässige Unzucht
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0184
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Aufsicht untersteüt zu sein, gewerbsmässig Un-
zucht treibt. (§ 361. 6 St. G. B.) Und noch

schlimmer: Mit Haft wird bestraft, wer, n a c h-
d e m e r unter Polizeiaufsicht gestellt worden
ist, den infolge derselben ihm auferleg-
ten Beschränkungen zuwiderhandelt (§361. 1.
St. G. B.) Um dieses Deutsch zu verstehen muss
man sich schon gewerbsmässig mit ihm beschäf-
tigen. Bleibt die grosse Frage: Was ist Un-
zucht.

Vorsitzender: Haben Sie Beziehun-
gen zu Offizieren?

Z e u g i n : (laut Gerichtsbericht ein reso-
lutes Mädchen von zwanzig Jahren bekundet
„unter allgemeiner Spannung“): Nein.

Vorsitzender: Es sincl verschiedene
Offiziere da, die Auskunft über Sie geben sollen.

Z e u g i n : Ich kann nur wiederholen, dass
man mir die Herren gegenüberstellen möchte,
damit ich sie erkenne. Selbstverständlich habe
ich bei Tanzreunions Otfiziere kennen gelernt,
aber nie etwas mit ihnen zu tun gehabt.

Vorsitzender: Siesolleneinen
Offizier auch auf seinem Zimmer
besucht haben.

Z e u g i n : Ja, aber zu welchem Zweck?

Vorsitzender: Ja, das weiss ich
n i c h t.

(Man hört das Rauschen der Unzucht.)

Z e u g i n : Ich kenne den Leutnant K.,
bei dem bin ich einmal auf dem Zimmer gewe-
sen, aber es .handelte sich einfach um eine Ein-
ladung, Bücher abzuholen.

Vorsitzender: Sie wollen die

Grenzen des Schicklichen nicht
iiberschrijteh h a b e n ?

Stärkeres Rauschen. Die Grenze des Schick-
lichen nimmt offenbar an der Schwelie der Of-
fizierstür ihren Anfang. Jetzt werden wir den
Begriff Unzucht gleich liaben.

Z e u g i n : Wie meinen Sie das?

(Goethe würde hier sagen lassen: „Du ah-
nungsvoller Engel du!“)

Vorsitzender: Nun, wenn ein jun-

ges Mädchen auf das Zimmer eines Offiziers
geht, so ist das dochhöch'st verdäch-
tig-

Z e u g i n : Als anständiges Mädchen kann
ich hingehen, wohin ich will, darin kann ich

nichts Anstössiges erblicken. Ausserdem war ich
kaum ein paar Minuten oben.

Vorsitzender: Na, man kann im

Zweifel sein, ob das ein anständiges Mädchen
ohne weiteres tun darf.

(Nun weiss man wenigstens, woran man
ein anständiges Mädchen erkennen kann.)

Z e u g i n : Auf jeden Fall habe ich der
Polizeiassistentin angegeben (das ist die miitier-
liche Dame), dass ich unschuklig sei. Und so
unschuldig wie ich damals war, bin ich noch
heute, ich sage das unter meinem Eid. Wenn
jedes Mädchen so anständig wäre, dann stände
es gut um die Sittlichkeit in Mainz.

(Man atmet auf, dass es um die Sittlichkeit
in Mainz so gut stehen k ö n n t e , weiss aber
nun wieder nicht, was ein anständiges Mädchen
ist. Denn sie war doch ein paar Minuten
„o b e n“).

Jetzt kann sich der R e c h t s a n w a 11 nicht
mehr halten: Aber der Verkehr mit ihren Freun-
dinnen ist doch verdächtig?

Z e u g i n : Die Verantwortung für meinen
Verkehr trage ich allein, wenn die andern Mäd-
chen nicht anständig sind, so ist das i h r e
Sache.

Ein resolutes Mädchen. Sie stellt die An-

ständigkeit ihren Freundinnen „anheim“. Sie war
oben und ist anständig, die andern waren unten
und geben zu Bedenken Anlass, wenigstens dem
Anwalt. Die Sache kompliziert sich, trotzdem
es i h r e Sache ist. Noch merkt man nichts von
der Unzucht. Aber da tritt als rettender Engel
Fräulein Sch. ein. Sie erklärt, sie sei von einem
Polizeiaspiranten (der sicher zu schönen Hoff-
nungen berechtigt), auf Veranlassung der Poli-
zeiassistentin auf der Strasse festgehalten wor-
den. Er sagte zu ihr, sie möge sich in Acht
nehmen. Wenn sie noch einmal mit d i e s e n
Mädchen zusammen gesehen werde, würde er
Strafantrag gegen sie wegen gewerbsmäs-
siger Unzucht stellen. Sie habe sofort er-
widert, dass der Herr Aspirant zur Stellung eines
sölchen Strafantrages nicht berechtigt sei, sie sei
ein unschuldiges Mädchen. Hierauf habe der
Herr Aspirant erwidert, sie solle sich v o r s e -
h e n , sonst wiirde sie a u f d e r S t e 11 e durch
einen Schutzmann verhaftet.

Man ist sprachlos. Aiso: Gewerbsmässige
Unzucht ist, wenn man mit d i e s e n Mädchen
verkehrt. D i e s e Mädchen sincl nun Biirger-
töchter, die der gewerbsmässigen Un-
zucht verdächtigt werden, weil sie „oben“
waren. Die gewerbsmässige Unzucht selbst ist
offenbar nicht zu fassen, denn sie offenbart sich
nur dadurch, dass man, wenn man, mit d i e -
s e n.

V o r s i t z e n d e r : Wussten Sie, dass
ihre Freundinnen der gewerbsmässigen Unzucht
verdächtigt wurden?

Z e u g i n : Nein, nur dass sie mit Offi-
zieren verkehrten; aber dieser Verkehr beschränkte
sich auf Cafehausbesuche und Spaziergänge.

Junge Mädchen! Geht nicht mit Offizieren
spazieren. Holt euch keine Bücher aus ihren
Zimmern. Die gewerbsmässige Unzucht steht
bei solchen Gelegenheiten verdäciitig in der Nähe.

Man erfährt, dass die Dame Schapiro sich
zu den Eltern des Fräulein Sch. begab, um dort
angeblich ein Zimmer für ein Mädchen zu mie-
ten. Die Dame Schapiro war von dem Wunsch
beseelt, der Unzucht auf den Grund zu kom-
men. Die Eltern des Fräulein Sch. beansfande-
ten zwar das mitgebrachte Mädchen als nicht
einwandsfrei, und so war es wieder einmal mit
der Unzucht Essig. Als linderndes Oel wird
dem Mädchen von einem Schutzmann ein gün-
stiges Sittenzeugnis ausgestellt. Man beruhigt
sich allgemein und der Stiefvater des Fräulein
Sch. bekundet sogar, dass seine Tochter durch-
aus „anständig“ sei.

Vorsitzender: Wissen Sie denn, dass
sie in die Kaserne z u d e n O f f i z i e r e n auf
d i e Z i m m e r geht?

Zeuge (der Stiefvater): So schlimm wird
das nicht gewesen sein. Wenn sie nur eirfe
Tasse Kaffee oben trank, kann ich mir nichts
arges dabei denken. Man muss da nicht gleich
sagen, dass das Mädchen schlecht sei, und ihr
mit der Sitte drohen.

Sehr peinlich, dass der Vater gegen clie
Sitte ist. Er erlaubt seiner Tochter sogar das
Kaffeefrinken im Zimmer eines Offiziers, trotz-
dem das doch noch höchst verdächtiger ist.

Zahlreiche Mädchen beschwören, dass ihnen
nichts Nachteiiiges iiber das resolute Mädchen,
die erste Zeugin, bekannt ist. Doch der Herr
Polizeiaspirant, der auf der Stelle verhaftet, wenn
man sich nicht vorsieht, tritt fiir ihre Sittenlo-
sigkeit ein: Ich war berechtigt, in die
Unbescholtenheit der Zeugin Zweifel zu setzen,
weil ichim Gespräche mitOffizieren
ihren N a m e n hatte nennen hören (Bewegung).

Bewegung. Jetzt wird die Unzucht hörbar.
Also: Gewerbsmässige Unzucht ist, wenn man
in Gesprächen mit Offizieren den Namen hört.

Vorsitzender: War denn dabei da-
von gesprochen worclen, dass sie mit den Offi-
zieren Unsittlichkeiten treibt?

Z e u g e : Nein. (Erneute Bewegung).

Endlich die Definition der gewerbsmässigen
Unzucht.

Vorsitzender : Uncl wie kamen Sie
an das Mädchen heran?

Z e u g e : Die Polizeiassistentin gab mir
auf, mich ihr zu nähern und zu sehen, was mit
ihr los sei.

Immerhin: Otfiziere haben im Gespräch
ihren Namen genannt. Und das kann in Mainz
im Jahre 1911 geschehen!

Der Herr Aspirant scheint überhaupt die
Unzucht in Mainz gepachtet zu haben. DieZeu-
gin S, bekundet, dass sie in einem Kinemato-
graphentheater gewesen sei und sich nach
Schluss ruhig und anständig entfernt habe. Trotz-
dem sei der Aspirant an sie herangetreten und
habe sie zur Pohzeiassistentin bestellt.

Man sieht, auch im harmlosen Kientopp
lauert drohend die gewerbsmässige Unzucht.

Nun wird eine von d i e s e n Mädchen ver-
nommen. Sie beschwört, dass sie niemals An-
lass zu polizeilichen Einschreitungen gegeben
habe und bestreitet insbesondere jeden Verkehr
mit Offizieren. Sie gibt aber zu, dass diese und
jene ihrer Freunclinnen Beziehungen zu Offizie-
ren gehabt haben, ohne dass sie jedoch sagen
könne, ob dabei die G r e n z e n des Zulässigen
überschritten worden seien. Die Freundinnen
werden wohl auch nur die Schwelle tiberschrit-
ten haben. Es stellt sich nebenbei heraus, dass
cl i e s e Dame — Erzieherin ist.

Der Leuinant K. wird vernommen. Und die
Gerichtsverhandlung erhebt sich zur Höhe der
Tragödie. Der Leutnant bekundet, dass er die
erste Zeugin, das resolute Mädchen, auf der
Strasse angesprochen habe. ErT später habe er
sie begleiten dürfen, zu einem näheren Verkehr
sei es nie gekommen. Sie haben miteinander nur
Gespräche geführt uncl Spaziergänge gemacht.

Vorsitzender: Verfolgten Sie keinen
w e i t e r e n Zweck?

Zeuge: Nein.

Vorsitzender: Waren Sie nicht irn
Besitz eines Bildes der Meta G.?

Z e u g e : Ich' habe ihr eins weggenommen.

Vorsitzender: Sie soll ja zu Ihnen
in die Kaserne gekommen sein, a n g e b 1 i c h ,
um ihr Bild zu holen.

Z e u g e : Das ist auch richtig.

Vorsitzender: Ist sie auf Bestellung
zu Ihnen gekommen?

Z e u g e : Nein. Sie kam uncl blieb etwa
fünf Minuten.

t

V o r s i t z e n d e r : Ist es zu keinen Ver-
traulichkeiten gekommen? Hat sie Ihnen nicht
gezeigt, dass sie sich gern von Ihnen pussieren
iassen wolite?

Zeuge: Nein.

Vorsitzender: Waren Sie dazu
b e r e i t ?

Z e u g e : Nein.

Jetzt kann sich der Staatsanwalt nicht mehr
halten:

Sie haben früher ausgesagf, Herr Leutnant,
dass es in Ihrem Kasemenzimmer zu kleinen
Vertraulichkeiten gekommen sei.

Z e u g e : Das kann ich heute nicht mehr
sagen.

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