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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 79 (September 1911)
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Walden, Herwarth: Gewerbsmässige Unzucht
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0183

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Umfang acht Seiten

Einzelbezug 15 Pfennig

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

j Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
| Fernsprecher Amt Pfalzburg 3524 / Anzeigen-Annahme
durch den Verlag und sämtliche Annoncenbureaus


Herausgeber und Schriftleiter:

HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig


JAHRGANG 1911

BERLIN SEPTEMBER 1911

NUMMER 79

Inhalt: TRUST: Qewerbsmässige Unzucht / MAX ZERBST: Bewegung / Grundlage einer neuen Weltanschauung / ELSE LASKER SCHÜLER
Briefe nach Norwegen / MYNONA: Der kommende Mann / Eine Vision / INHALTSVERZElCHNIS: Zweiter Jahrgang / Erstes Halbjahr

Gewerbsmässige

Unzucht

Das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich
beschäftigt sich' in nicht allzuwenigen Paragra-
phen mit Unzucht unci unzüclitigen Handlungen.
Der Gesetzgeber war glücklicherweise so diskret,
diese Begriffe nicht zu definieren. Vielleicht aus
deru Gefühl heraus., dass es sich nur um Be-
griffe handelt. Nun sind Strafgesetzbücher of-
fenbar zu dem Zweck gedichtet worden, nach
ihnen zu bestiafen. Die Formulierungen lassen
an Impressionabiiität nichts zu wünschen übrig,
sie miissen also in der Rechtsprechung eine tat-
sächliche und wie man das so nennt objektive
Erklärung finden. Sie wircl allerdings nicht ge-
funden. Das Schwurgericht, der Staatsanwalt,
der X’erteidiger und der Angeklagte können sich
in den allermeisten Fällen nicht auf eine Formel
einigen. Diese Divergenz ergibt sich ohne wei-
teres aus dern Charakter der freiwillig oder un-
freiwiilig beteiligten Institutionen. Der Staatsan-
walt mit seinem Hang zur Monumentalität schreit
Mord, während der Angeklagte sich nur einer
Körperverletzung mit tötlichem Ausgang bewusst
ist. Der Angeklagte empfindet stets lyrisch. Das
Schwurgericht, clas aus deutschen Männern be-
steht, will natiirlich nichts von Lyrik wissen,
kann aber eben deswegen eine gewisse philoso-
phische Sentimentalität — so ist das Leben —
nicht unterdriicken. Natürlich muss der Mensch
bestraft werden, aber nicht zu sehr: das Schwur-
gericht ist also für Totschlag. Der Verteidiger
sucht im Strafverfahren die Rechtspflege zu hem-
men Man kann nämlich nie wissen, wie sich
alles ändert. Die zweite Tätigkeit des Verteidi-
gers, das Beschleunigen der Rechtspflege, übt er
nur im Zivilverfahren als Vertreter des Klägers.
Solange es sich um so einfache Dinge wie Mord
und Totschlag handelt, läsSt sich immer der Aus-
weg mit der Körperverletzung finden. Kompli-
ziert wird die Angelegenheit, wenn man, natür-
lich mit aller Vorsicht, das Gebiet der Unzucht
beschreitet. Die sexuelle Frage erhält keine Ant-
won, sie darf sogar, wie etwa die soziale Frage,
nicht einmal besprochen werden. Zwar ist kein

Mensch sich darüber im Unklaren, dass clie Se-
xualität existiert. Man ist von ihrer Existenz-
berechtigung durchaus nicht überzeugt;
da sie sich aber offenbar nicht beseitigen
lässt, so ist man stillschweigend übereingekom-
men, sie stillschweigend zu dulden. Vor allem
stillschweigend. Nur die Wissenschaft, die über-
all ihre Hände ,,selbst im Spiel' haben muss,
nur die Wissenschaft hat gewisse sprechende
Rechte. Sie darf sich aber nur mit den Abarten
der Sexualität beschäftigen. Die ncrmale, clas
heisst die am meisten verbreitete Art der Erotlk
versteht sich von selbst. Trotzdem gibt sie zu
vielen Missverständnissen Anlass. Der Gesetzge-
ber hat es gut. Er schreibt einfach Unzucht und
iiberlässt es den Leuten, die zufällig nicht Ge-
setzgeber sind, sich gewerbsmässig mit der Er-
klärung dieses Begriffs zu befassen. Ich bin
überzeugt, dass dies unter gewerbsmässige Un-
zucht zu verstehen ist. Die Gelegenheit zur Wis-
senschaft über Unzucht ist nicht häufig. Die
Gerichie pflegen nach dem schon erwähnten
Uebereinkommen unzüchtige Handlungen hinter
verschlossenen Türen zu besprechen. Umsogrö-
sser müsste die Freude der nach Wissen Dür-
stenclen sein, als sie endlich einmal wieder an
der Quelle schlürfen konnten. In Mainz wurden
die unzüchtigsten Dinge öffentlich verhandelt.
Das erste Gefühl ist, das Angesicht zu verhüllen
und sich mit Grausen von dem Entsetzlichen zu
wenden. Man begreift, warum der Gesetzgeber
schamhaft nur das schlichte Wort Unzucht nie-
derschrieb. Denn: hätte er das alles drucken
lassen, was unter diesem harmlosen Begriff sich
in Mainz ereignet hat, dann wäre ihm die Straf-
verfolgung durch den Staatsanwalt nicht erspart
geblieben. Man freut sich über die eigene Men-
schenkenn'nis. Man hat stets ein leises Grauen
vor cler Einrichtung der jungen Mädchen gehabt.
Auch die Leutnants scheinen ihr Leben nicht ganz
mit Kriegswissenschaften ausfiillen zu konnen.
Man schweift in die Ferne nach einem Begriff,
und sieh, die Unzucht liegt so nah. Besonders
in Mainz. Man sollte einer deutschen Kleinstadt
garnicht so viel Verworfenheit zutrauen. Der Va-
ter Staat kann vergnügt sein, class er ohne Ge-
tängnis, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte
uncl Zulässigkeit von Polizeiaufsicht wegen Kup-

pelei davonkommt. Denn er hat zweifellos ge-
wohnheitsmässig durch Gewährung und Ver-
schaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub
geleistet. ( § 180 St. G. B.) Warum muss er in
Mainz eine Garnison errichten, wo doch das
Wesen cier Leulnants ihm aus allen schlechten
und von ihm gelesenen Romanen der Gegenwart
mehr als „sattsam“ bekannt sein müsste. Eine
bedauerliche Stellung nimmt in dieser unzüchti-
gen Welt die Polizei ein. Der Gesetzgeber be-
droht die Unzucht mif Haft und die Polizei
rnuss ihr von Amtswegen eigentlich Vorschub
leisfen. Sie muss auf alle Weise bestrebt sein,
die Unzucht festzustellen, und sei es mit Hilfe
von Polizeiassistentinnen, darf sie aber nicht dem
Richter ausliefern. Sie muss vielmehr dieWeibs-
person, wie der Gesetzgeber etwas unhöflich die
Dame nennt, gesund erhalten und geradezu für-
sorglich beaufsichtigen. Andere Menschen wun-
dern sich darüber, dass es dabei gelegentlich et-
was grob zugeht. Aber die Prügelpädagogen
sind nicht aus der Welt zu schaffen. Schon der
hebevolle Name Fürsorgezögling zeigt, welches
Interesse man allseits am Wohlergehen der Un-
zucht nimmt. Doch in Mainz. handelte es sich
um etwas ganz anderes. Nämlich um junge
Mädchen, die sich energisch gegen die mütter-
liche polizeiliche Fürsorge sträubten. Frau Doktor
Schapiro schien zwarselbstdenSchutzmännern nicht
weiblich genug vorzugehen. Die Sentimentalität
ist nun einmal eine Eigenschaft deutscher
M ä n n e r. Vor Gericht ergab sich ausserdem,
mit welchen Geschöpfen die Frau Doktor sich
einlassen musste, nur zu dem edlen Zweck, diese
Damen zur Aufrechterhaltung der Gesundheit
und zur Vermeidung öffentlichen Aergernisses
unter staatlichen Schutz zu stellen. Den jungen
Mädchen hätte es schlimm gehen können, wenn
der Polizei nicht nur die vermittelnde Tätigkeit
zugedacht wäre, zu kontroliieren, ohne Strafan-
zeige zu machen denn: „Mit Haft wird bestraft,
eine Weibsperson, welche wegen gewerbs-
mässiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht
ünterstellt ist, wenn sie in den i n d i e s e r
H i n o i c h t zur Sicherung der Gesundheit, der
öffentlichen Ordnung und des öffentlichen
Anstandes erlassenen polizeilichen Vorschriften
zuwiderhandelt, oder welche, ohne einer solchen
 
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