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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 92 (Januar 1912)
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Friedlaender, Salomo: Polarität: Philosophiseher Vortrag
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0291

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also vorläufig die Verdächtigung aus, Unendlich-
keit sei nichts als so ein ähnliches Röhrensystem
des eigentlichen persönlichen Erlebnisses; Unend-
lichkeit sei nichts als die intrikateste Katoptrik des
. . . Selben. Das hat man oft läuten hören, die
Weit sei nicht das Wesen, sondern bloß dessen Er-
scheinung. Man hat auch die tollen Kapriolen ge-
sehen, welche die Skepsis um diese Pantomime
schlug. Diese logische Qebärdung ist uns zu steif
geworden, wir pfeifen auf das Wesen, und seitdem
feiert Erscheinung längst ihre Saturnalien. Der
Perspektivismus macht eine sehr wesentliche
Miene. Der Relativismus gedeiht, ohne viel We-
sens zu machen; und alles ginge wie am Schnür-
chen, wenn nur das geistige Band nicht eben fehlte.
Der erstaunlichste Logiker, den die Erde kennt,
Immanuel Kant, ein kritischer Qeist, von ebenso
großer V o r s i c h t wie Kiihnheit, hat der lo-
gischen Spekulation das Weltwesen selbst nur des-
wegen entzogen, weil seirie Logik auf den, wie es
schien, unüberwindlichen Widerstand des Unend-
lichen stieß, dem sich die Empirie in jedem Be-
tracht annähert, ohne es anders zu erreichen als
durch den Glauben, ‘durch das Organ einer p r a k -
t i s c h e n Qewißheit. Nach Kant sind wir all-
wissend, aber bloß formal: diese halbe Allwissen-
heit wird lediglich praktisch ergänzt: hingegen theo-
retisch müssen wir im Schweiße unseres Ange-
sichts empirisch arbeiten; höchstens, daß wir
ästhetisch der Sinneswahrnehmung eine bunte
Symbolik der ewig finsteren Gewißheit abgewin-
nen; ein Punkt, worin sich Qoethe gern mit Kant
berührt. Im übrigen hat Kant niemals bezweifelt,
daß unsere Logik direkt auf das Wesen der Dinge
gehen w ii r d e, wenn sie ihre Sinneserfahrung
nicht passiv hinzunehmen brauchte, sondern aktiv
(archetypisch) selbst erschaffen könnte; aber das
kann ja nicht einmal der Phantast, nicht einmal der
Träumer oder Halluzinierer; sie alle stehen noch
fremden Gebilden gegeniiber; die sie vielleicht
herbeizitieren, aber nicht e r s c h a f f e n. Unsere
Logik sei nicht schöpferiscb, sie e m p f a n g e ihre
Qegenstände — dies konstatiert Kant, ohne iiber
den Qeber dieser Dinge aufklären zu können;
hier muß er sich praktisch, moralisch bescheiden;
die reine Spekulation hieriiber hat er sich kritisch
verboten; und die empirische mußte ja zweck-
los bleiben. Diesen ungemeinen moralischen Re-
spekt hat Nietzsche der Logik aufgekündigt, aber
a u s einem viel ungemeineren Respekt, welcher
den sensualistischen Aufkündigern, flachen Herzen,
fehlt. Nietzsches Gelächter sind diese logischen
Oberhoheiten, die, wenn man ihnen auf den Leib
rückt, majestätisch verstummen. Seine Religion
ist die Empirie des Unendlichen, deren theoretischer
Abrundung durch eine mindestens alle menschliche
Erfahrung umspannende Maxime er nachspürt und
zwar mehr mit seherisch-dichterischer als mit
eigentlich logischer Schärfe. In dem Säkulum zwi-
schen Kant und Nietzsche haben einige immer
wieder versucht, der Logik auf den Thron
zu helfen, bis dann Nietzsche sie so radikal wie
möglich entthront hat. Hinter der Empirie steckte
bei Nietzsche kein anderer Qott als der Zufall des
schöpferischen Wurfs, das Chaos, das sich selbst
irgend eine Logik abgewinnt. Indem nun Nietzsche
bis in unsere letzten und zartesten Ordnungen hin-
ein die ursprüngliche rohe Gewalt des absurdesten
Chaos dringen ließ, entsteht ihm bis in den chao-
tischen Ursprung unserer selbstgeschaffenen Welt
hinein ein dankendes, segnendes Verehren, ein Ja-
sagen auch zur Vernichtung alles Gesetzlichen. —
Wir nun wollen hier nicht gegen alle diese fliich-
tig perlustrierten Lehren polemisieren — im
Qegenteil, es schiene uns wünschenswert, wenn
auf der Skala der Möglichkeiten und Menschen
auch die geringste Nüance nicht übergangen würde.
Wir haben die Maxime genannt, welche uns nicht
weniger geräumig erscheint als die Unendlichkeit
aller möglichen und unmöglichen Lehrmeinungen.
Es ist die Lehre von der Welt als einer Polarität,
das heißt einer unendlichen Entzweiung des Selben;

oder einer unendlichen Identifikation des Verschie-
denen. AIs diese Selbigkeit, welche keine Einheit,
sondern unendiich innig, exorbitant innig ist, spre-
chen wir die Bedingung aller Möglichkeit von Er-
fahrung, die P e r s o n , das persönliche Erleben an,
dessen pluralistische Entzweiung Leiber sind, sinn-
lich warnehmbares Leben ist als das Organ der
Selbsterfahrung des Unendlichen. Und jetzt nenne
man mir die Polemik, deren Gegenpolemik dieser
Satz nicht mit der gleichen Kraft heraufbeschwö-
ren muß, indessen er unanfechtbar beides har-
monisiert! Ich will mit Freuden die Münchhau-
sen’sche Person erwarten, die sich selbst bei den
Haaren aus dem Sumpf des Unpersönlichen zieht.
Ich will die Person devotest salutieren, die sich
einbildet, absolut zu sein wie der Fichte parodie-
rende Bakalaureus im „Faust“. Wir erleben Ver-
schiedenheit in jedem Sinne unendlich. Wir er-
öffnen jetzt folgende Alternative: Entweder ist es
krasse Verschiedenheit ohne alle Identität; alsdann
verlöre das Erleben allen Zusammenhang; oder
Identität sitzt irgendwo im Zentrum als mystische,
monistische Weltspinne — dann gewänne unser
Erleben beträchtlich an Absurdität: wie, fragen
wir vergebens, wie entspringt der Plural aus dem
Singular?? Dieses Identifizeren bleibt absolut
mystisch, also finster, da es doch platt gewiß nicht
vorgenommen werden kann; ebenso wenig wie
eine platte Identifizierung der Welt mit Gott.
Wählt man den Mittelweg der Mittelmäßigkeit und
demonstriert darwinistisch oder sonstwie die V e r -
wandtschaft des Verschiedenen; so verlan-
gen wir sehr neugierig nach dem Q r u n d dieser
auffallenden Verwandtschaft und erhalten eine
Menge unbefriedigender Einstweiligkeiten. Qut!
Qut! Ohne den erzphilosophischen alleinigen Ehr-
geiz der persönlichen Erlebens mag es getrost
Verschiedenheiten geben, deren gemeinsame Wur-
zel uninteressant bleibt. Es kommt eben vor allem
auf den Qrad an, bis zu dem man sich persönlich
interessiert! Und bei Philosophen geht eben dieses
bis zum Wahnwitz, bis zum persönlichen Welt-
interesse, bis zum logischen Fieber. Man hält ihn
für uninteressiert, weil man sich Hitze in Dingen
nicht erklärt, welche sonst jeden kalt lassen;
schmerzempfindliche Nervenfäden bis in ab-
strakte Begriffe hinein, bis in den Zentralbegriff
Identität. Ohne diese mörderliche Inter-
essiertheit bis in diesen Zentralbegriff hinein mag
man mit akademischer Politesse von hunderttau-
send Kathedern der Welt schwatzen, was man
Lust hat; es wird weder den Schwätzer noch den
Hörer heiß oder kalt machen. — Also, Alternativen
erledigt man nicht durch Halbierung, Bejahung,
Verneinung; sondern durch Aufwägung, Aufhebung,
Qleichwägung. Was ist Wahrheit? Eine unend-
liche logische Alternative! Aber die Seele dieser
Alternative ist, etwas rasch gesprochen, die
„Seele“, die Person, das persönliche Erleben!
Pardon! Das totale, das roheste, das zarteste, das
unendlich innige. Der Blick in eine Kaffeetasse
genügt nicht, es muß ein Blick in den Sternen-
himmel hinzu! Das persönliche Erleben, nicht
irgend eins; das Welt-Erlebnis! Praktisch, ästhe-
tisch und schließlich theoretisch. Sonderbarer
Weise ist das theoretische Erleben bis zum heuti-
gen Tage noch ohne den Egoismus, der das prak-
tische und das ästhetische so kräftig anfeuert. Zur
praktischen Anwendung läßt man sich die
Theorie gefallen; aber in ihr selbst schlägt bis
jetzt kein gesundes Herz. Und diese Herzkrank-
heit des logischen Menschen influiert auf den prak-
tischen und ästhetischen ganz beträchtlich.

Deswegen ist es nicht so müßig wie es
scheint, eine rein logische Frage h e r z h a f t zu
traktieren. Identität als Erlebnis ist ganz ein
ander Ding, ein blutigerer Begriff als die Schulfaxe
Identität. Man versteht hierin die einfache, ein-
fältige Wahrheit als unendlich innig, überinnig: als
das Raffinierteste, Allerkomplizierteste, das den-
noch elementar bleibt, jedoch polar, das heißt nicht
pluralisch, sondern gegensätzlich pluralisch, wider-

sprechend pluralisch, oppositiv pluralisch, oder gar
nicht sich manifestieren kann und meist extrem
pluralisch. Zum Beispiel also nicht als ein Streben,
Drängen, sich immerfort Entwickeln und Uebertref-
fen; sondern ebenso sehr als ein Widerstreben, Hin-
tersichzurückbleiben, sich entgegegesetzt entwickeln
in infinitum. Aber diese Pole, diese Extreme sind
mit gleicher, jedoch eben konträrer Gewalt bezo-
gen auf ihre eigne Identität, deren Sein Polar-
sein ist. Identität, wo sie wirklich besteht, ist
das Element eines Vertrags, einer Konvention,
aber einer kosmischen. Das Identische ist von
einer so lyyperbolischen Erlebnisgewalt, daß es
sich nur polar auslassen kann; oder überhaupt
nicht. Hierin haben wir die Schranke seiner All-
macht: es kann nicht platt identisch sein und ist
zu sich selber dennoch gezwungen. Es ist durch
eigene Enormität entzweit, zerrissen, polarisiert.
Und niemals dennoch wird diese Entzweiung die
einigende Kraft vermissen können. Die Welt ist
keine einfache Welt, sondern ein Weltgegensatz
des Identischen, des Persönlichen, das in ihm wal-
tet wie ein Gott, ob es nun darum wisse oder
nicht. So findet sich die Welt von einem Prinzip
regiert, welches gar nicht anders als differenziert
in ihr angetroffen werden ka n n. Ohne diesen Welt-
kunstgriff der Polarisierung wäre unendliche Iden-
tität die Unmöglichkeit selber; und 'dieses bleibt
sie auch so; aber als Unmöglichkeit in eigener
Person und als deren leiblich differenzierte Inkar-
nation. Jeder Wink des Identischen wird nicht
bloß befolgt, sondern wesentlich immer p o 1 a r
befolgt, weil er enorm ist und sein ungeheures plus
von einem ebenso ungeheuren minus reflektiert
wird. So entspringt aus der Ueberschwänglichkeit
des Identischen dessen Qesetz als eine Welt,
welche nicht harmonisch, sondern harmonisier-
b a r ist und sein muß.

Möge diese Andeutung hier genügen. Es soll
immer mehr praktische Energie und ästhetische
Qlückseligkeit in die Logik des Lebens dringen:
sie enthält das letzte Qeheimnis aller Person,
das ja ewig anonym bleiben muß:

„Denn Wer durch alle Elemente
„Luft Wasser Feuer Erde rännte
„Der wird zuletzt sich überzeugen
Er sei kein Wesen ihres Gleichen“

Goethe

Wir werden das Qeheimnis der Identität aus
einem sehr plausiblen Qrunde niemals lüften: In-
differenz läßt sich ihrem W e s e n nach nicht dif-
ferenzieren. Dennoch ist es ihr selbst kein Qe-
heimnis. W e r nämlich differenziert, vermag dies
nicht ohne ein Etwas, das sich durchaus jeder
Möglichkeit der Differenzierung entzieht, trotzdem
es ihm bekannter ist als alles übrige —: das ist
seine Individualität, Selbsteigenheit, Persönlichkeit.
Je weniger Jemand diese mit dem Rest gemein
macht; je mehr Jemand diese frei hält von jeder
Lokalisation, jeder Identifikation mit etwas Posi-
tivem oder gar, wie Asketen, mit Negativem: desto
mehr macht er sie zur spielsicheren Angel aller
diametralen Differenz. Im seltensten Falle würde
die Welt, welche um menschliche Personen ächzt,
wie eine schlecht geteerte Radnabe, reibungslos
um ihn spielen. Freiheit ist nichts als die Angel
polarer Notwendigkeit.

Briefe naeh Norwegen

Von Else Lasker-Sehüler

Lieber Herwarth, Tristan selbst will mir auch
nicht glauben, daß ich ihn liebe, aber er war sehr
milde, als wir uns begegneten; wir gingen Hand in
Hand, und er erzählte mir die Geschichte von dem
Wolf, ohne zu wissen, daß die Geschichte eine
wahre Begebenheit ist, ich selbst war damals der
Knabe, der atemlos durch die Stadt schrie: „Der
 
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