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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 78 (September 1911)
DOI Artikel:
Zerbst, Max: Bewegung: Grundlage einer neuen Weltanschauung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0176

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Bewegung

Grundlage einer neuen Weltanschauung
Von Max Zerbst

Zweites Buch

Fortsetzung

I

Alte Welt

Frage: Was bewegt sich?

Antwort: Eine „Substanz“.

Neue Welt

Frage: Was bewegt sich?

Antwort: „Bewegung“.

Alte Welt

Frage: Was ist „Bewegung“?

Antwort: Ein „Zustand“ der „Substanz“.
N e u e W e 11

Frage: Was ist „Bewegung“?

Antwort: „Alles.“

II

Die Tatsache der Bewegung kommt uns nur
durch deren scheinbaren Gegensatz, das heisst
durch scheinbare Nichtbewegung — das ist Be-
wegung mit der Geschwindigkeit = o = Ruhe
— zum Bewusstsein.

Die Bewegungsvorgänge — denn um solche
handelt es sich selbstverständlich auch hier wie-
der — nehmen sich im Schema unserer mensch-
lichen Vorstellungsweise so aus:

Es gibt elne kleinste Wahrnehmungstatsache,
die uns als Vorstellungswert der „Einheit“ be-
kannt ist. Dieses kleinste punktuelle wiederum
nur durch Bewegung erzeugte Bewegungsmo-
ment ist der Keim oder der Keimvorgang, ist
das Element aller Wahrnehmungstatsächlichkeit
und Wahrnehmungsmöglichkeit überhaupt. Die
Bewegung konstatiert da gleichsam durch ihren
Scheingegensatz, dass heisst durch scheinbare
Nichtbewegung sich selbst und zugleich diesen
Scheingegensatz. — Es ist clies die Möglichkeits-
form, in der die Bewegung sich gleichsam ihrer
selbst bewusst wird, das heisst zur Form des
Bewusstseins gelangt. Diese kleinste Wahrneh-
mungstatsache, dieses Wahrnehmungselement be-
steht, wenn man schärfer prüft, in Wirklichkeit
aus zwei Elementen, nämlich aus einem Ele-
mente, das in unsere Vorsteilung als „Einheit“
gewertet wird und aus einem anderen Elemente,
von dem wir wahrnehmen, dass es die Tendenz
und Wesensrichtung hat, die „Einheit“ zu ver-
nichten, das heisst aus einem Elemente, das
wir als die Tatsache der Bewegung selbst per-
zipieren und werten.

Dieses die „Einheit“ wieder zerstörende Ele-
ment der reinen Bewegung behält bei tieferer
Prüfung schliesslich recht und zeigt uns jeden-
falls, verglichen und gemessen mit dem Einheits-
element, die Richtung, in der Das zu suchen ist,
was wir Wirklichkeit oder Realität nennen.

Diese Doppelnatur des kleinsten Wahrneh-
mungsmomentes, wie es auf allen Sinnesgebieten
festgestellt werden kann, giebt zwei grosse Grund-
richtungslinien der Erkenntnis überhaupt. Die
eine dieser beiden grossen Grundrichtungsbah-
nen der Erkenntnis fiihrt in die Scheinwelt al-
ler als Nichtbewegung oder „Nicht-Nur-Bewe-
gung“ bekannten Dinge und Wahrnehmungstat-
sachen (Substanz, Kraft etcetera), die andere in
die Wirklichkeitswelt der Bewegung selbst.

Die ganze Welt des „Seins,“ die sich auf
der Wahrnehmungstatsache der „Einheit“ auf-
baut — die „Vielheit“ ist kein Grundgegensatz
zur „Einheit“, denn sie setzt diese als Element
voraus —, wird demnach zu einer Wirklichkeits-

welt zweiten Grades, der die „Bewegung“ als
Wirklichkeitswelt ersten Grades zu Grunde liegt.

Das auf der kleinsten punktuellen Einheits-
empfindung und Einheitsvorstellung basierende
System unserer gesamten Wahrnehmungs- und
Erkenntnismöglichkeit, dieser ganze aus Bewe-
gungstatsachen sich zusammensetzende „Seeden-
atomismus“ (Empfindungsatomismus) wurde dann
gleichsam in die Natur objektiv hinein verlegt,
in die Wirklichkeitswelt der „Bewegung“ selbst
projiziert. So wandelte sich durch eine unge-
heure Urtäuschung der doch selbst nur schein-
bare „Seelenatomismus“ in einen für „objektiv-
real“ geltenden „Substanzatomismus“ um, soent-
stand infolge grund-irrtümlicher Auslegung und
Deutung von Wahrnehmungs- und Erkenntnis^
vörgängen die ganze Scheinwelt der „Substanz“
des „Seins“, des „Seienden“ und „Beharrlichen“
im Gegensatze zur Welt des „Werdens“ und
der „Bewegung“, und wurde im Vergleich mit
dieser ais Welt höheren Realitätsgrades und grö-
sseren Wirklichkeitswertes empfunden.

III

Aus der kleinsten nachweisbaren Wahrneh-
mungstatsache, aus dem Element der kleinsten
punktuellen Einheitsvorstellung lassen sich, wenn
wir von der Bewegung als von der Grundwirk-
lichkeitstatsache ausgehen, ohne Schwierigkeiten
sämtliche Grundformen unserer menschlichen Er-
kenntniswelt entwickeln.

Das denkbar minimalste und schwächste
Moment menschlicher Wahrnehmung, die aller-
kleinste Einheits-Bewusstseinsform, sagen wir
meinetwegen einmal der „Empfindungspunkt“, das
„Bewusstseinsatom“, die punktuellste Perzeption
eines „Sein“ oder eines „Seienden“ in jeder Form
unserer Sinnestätigkeit, auf jedem Gebiet un-
seres sinnlichen Wahnehmungsvermögens, be-
steht, wie wir feststellten, im Grunde aus zwei
Wahrnehmungselementen oder entsteht, besserge-
sagt, erst durch diese zwei Wahrnehmungsele-
mente. Das eine dieser Elemente ist die Erzeu-
gung des punktuellen Eindruckes, der funda-
mentalsten und embryonalsten Empfindungs- und
Vorstellungstatsache, die von uns als „Einheit“
objektiviert und gewertet wird und gleichsam die
Keimform alles dessen, was wir überhaupt
„Sein“ nennen, — bezeichnet. Das andere Element
hat eine der Einheitsform entgegengesetzte Ten-
denz, einen der Einheit feindlichen Charakter,
indem es uns von der „kleinsten Einheit“ zur
„Vielheit“ und zu grösseren und höheren „Ein-
heitsformen“ fünrt und auch diese wiederum ver-
nichtet. Dieses Element ist uns bekannt als die
Tatsache die wir „Bewegung“ nennen. Taufen wir
das eine Element „Einheitselement“, das andere
„Bewegungselement“. Beide sind für unsere
menschlichen Wahrnehmungsweise von einander
untrennbar, weil eben eines erst durch das an-
dere für uns vorstellbar wird.

Durch „Bewegung“ entsteht das „Einheits-
element“, das für uns die Grundlage, das Fun-
dament unserer ganzen Erkenntnis- und Bewusst-
seinswelf bedeutet. Durch das Einheitselement
nehmen wir überhaupt erst die „Bewegung selbst“
als solche wahr und „ahnen“, im Gegensatze zu
ihm, das Urwesen der „Bewegung“.

Durch diese elementare Erkenntnisfunktion
des Einheitselementes kommt es, dass es uns
von grösserem Wirklichkeitswert und von hö-
herer Wirklichkeitsbedeutung erscheint als das
Bewegungselement. Erst die tiefere Einsicht er-
kennt in dem Bewegungselement die Urwirklich-
keit

Die kleinste punktuelle Wahrnehmungstat-
sache, das heisst also, wie wir bemerkten, das
„Einheitselement“, verbunden mit dem „Bewe-

gungselement“, ist nun der Keimpunkt, aus dem
sich wiederum durch „Bewegung“, durch ge-
wisse in dem Bewegungselemente enthaltene
Grundrichtungspotenzen, Gestaltungs- und Grup-
pierungs-Tendenzen die grossen Urformen unse-
rer gesamten Erkenntniswelt entwickeln.

Je nachdem die Bewegungsvorgänge unserer
Wahrnehmungstätigkeit sich im Sinne und in der
Richtung des Einheitselementes als solchen voll-
ziehen, soweit es uns nämlich als Gegen-
satz zur Bewegung, als Nichtbewegung, als
punktuelle und beharrliche Grösse erscheint, oder
im Sinne und in der Richtung des Bewegungs-
elementes verlaufen, soweit es uns durch Ein-
heitselement, das durch Summierung von klein-
sten Einheitstatsachen, als „Bewegung selbst“,
als „Bewegung an sich“ zum Bewusstsein
gebracht wird, — je nachdem entstehen zwei
Hauptformen, zwei Hauptgruppen oder, bes-
ser gesagt, Hauptgruppierungstendenzen unserer
Erkenntnis. Bezeichnen wir das Charakteristi-
sche der einen Gruppe als „das Prinzip der
(scheinbaren) Nichtbewegung“, oder kürzer als
„das Prinzip der Substanz“, das der anderen
Gruppe als „das Prinzip der Bewegung selbst.“

Innerhalb der beiden grossen Erkenntnisge-
biete, wie sie durch diese beiden „Prinzipe“ cha-
rakterisiert sind, gibt es wieder je zwei Haupt-
und Grundformen der Wahrnehmung, die durch
gewisse Grunclrichtungsqualitäten und Richtungs-
beziehungen, sowie durch gewisse Geschwindig-
keitsverhältnisse und GesChwindigkeitsgrade ver-
ursacht werden. Diese je zwei Haupt- und
Grundformen aller Wahrnehmung, diese je zwei
grossen Bewegungstatsachen und Bewegungs-
bildungen resultieren aus zwei Hauptrichtungs-
und Geschwindigkeitsqualitäten, die wir als
„Prinzip der Intensität“ und „Prinzip der Ex-
tensität“ bezeichnen wollen.

Das „Prinzip der Intensität“ ist im wesent-
lichen bedingt durch ein gewisses konzentrato-
risches Grundrichtungselement, sowie durch eine
gewisse Bewegungsgrösse (Geschwindigkeit), das
„Prinzip der Extensität“ im wesentlichen durch
ein gewisses exzentratorisches „Grundrichtungs-
element“.

Hieraus ergeben sich vier Grundformen un-
serer Erkenntnis.

1 Das „Prinzip der Substanz“ (das heisst
das Prinzip der scheinbaren Nichtbewegung, das
„Prinzip des Seins“) verbunden mit dem „Prin-
zip der Intensität“ fiihrt uns zur Wahrneh-
mungstatsache: — Stoff (Dichtigkeit).

2 Das „Prinzip der Substanz“ verbunden
mit dem „Prinzip der Extensität“ (Ausdehnung)
führt uns zu der Wahrnehmungstatsache: —
R a u m (Räumlichkeit).

3 Das „Prinzip der Bewegung selbst“ (das
heisst das „Prinzip der als Bewegung“ wahrgenom-
menen Bewegung, Prinzip des „Werden“) ver-
bunden mit dem „Prinzip der Intensität“ führt
uns zu der Wahrnehmungstatsache: — Kraft
(Stärke).

4 Das „Prinzip der Bewegung selbst“, ver-
bunden mit dem Prinzip der Extensität“ führt
uns zu der Wahrnehmungstatsache: — Z e i t
(Flucht).

„Stoff“ und „Kraft“, sowie „Raum“ und
„Zeit“ sincl also je zwei nach den Prinzipen der
„Intensität“ und „Extensität“ korrespondierende
Wahrnehmungswerte.

Für dieses Schema unserer vier Grunder-
kennnisformen beanspruche ich nicht den Glau-
ben unbestreitbarer Richtigkeit. Es ist denkbar,
dass unsere Erkenntnis- und Wahrnehmungsele-
mente auf andere Bewegungstatsachen und Be-
wegungsmöglichkeiten zurückzuführen sind.

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