Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 69 (Juli 1911)
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Literatur, Wissenschaft und Kunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0104

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Literatur, Wissen-
schaft und Kunst

Fortschritt

Das Berliner Tageblatt liest den Sturm nicht
ohne Nutzen. Die Ueberschrift Literarische Rund-
schau (die Rubrik, die bekanntlich hinter Hypo-
thekenmarkt und Rasensport steht) hat jetzt ein
neues Cliche in zehnfacher Vergrösserung erhal-
ten. Die Cliches des Textes, der sogenannten
Kritik, sind natürlich von dieser Neuerung vor-
läufig nicht betroffen worden. Maschinelle Ver-
änderungen sind ja auch wesentlich leichter zu
treffen, als geistige. Aber so unglaublich es
klingt: Das Berliner Tageblatt wendet sich

mit einer helien „Fanfare“ gegen die Wortcli-
ches Am ersten Pfingstfeiertag konnte man sich
noch freuen, dass Herr V. A. tiefsinnig und tief-
innig vom „Biihnenvölkchen“ berichtete. Am
zehnte Juni stellte ich das „Bühnenvölkchen“ im
Sturm. Und kaum sechs Wochen später, das
historische Datum ist der vierzehnte Juli, schreibt
das Berliner Tageblatt:

„Altes Vorurteil sieht in den Artisten noch
heute die „fahrenden Leute“ und geschmackvolle
Menschen bezeichnen sie noch immer als „Völk-
chen“.“

Also die Völckchen werden im Berliner Ta-
geblatt ausgerottet. Eß lebe der Fortschritt!

Was sind Artisten?

„Zielbewusst stramm organisierte Erwerbs-
menschen, die ihre Interessen nicht weniger kräf-
tig zu wahren wissen, als die Angehörigen vie-
ler anderer Berufe.“

Auskunft des Berliner Tageblatts über die-
sen Beruf.

Schon wieder Fortschritt

Jetzt hat Herr V. A. selbst auch den Sturm
gelesen. Der Kampf gegen die Cliches wird fort-
gesetzt und zwar bereits am sechzehnten Juli. Wenn
das Berliner Tageblatt alle zwei Tage drei Cliches
zum alten Blei wirft, wird es in einigen Jahren
nicht mehr erscheinen können. Denn so schnell
erhalten neue Cliches nicht Marktwert. Und da
das Schreiben für unsere lieben Tagesschriftstel-
ler nur aus einem Aneinanderreihen alter Cli-
ches besteht, muss bei einem so beschleu-
nigten Ausverkauf dieser Ware das Geschäft völ-
lig geschlossen werden. Vor einigen Wochen
noch hätte Herr V. A. meine Befürchtung eine
cura posterior genannt. Heute kann ihm das
nicht mehr passieren. Denn er schreibt:

„Bei uns laufen zwei oder drei ekelhaft ab-
gegriffene Zitate um — quousque tandem oder
festina lente — sonst aber gilt wissenschaftliche
Bildung für unmännlich und macht in manchen
Kreisen gesellschaftlich unmöglich.“

Man beachte den Fortschritt. Deutsche Cliches
sind am vierzehnten Juli nur geschmacklos, lateini-
sche am sechzehnten Juli bereits ekelhaft. Das Blü-
hen will nicht enden. Gespannt bin ich nur, wie die
Leitartikler ohne die trefflichen Aussprüche non olet
und videant consules auskommen werden. Ich
denke mir das so, dass man einfach die Leitar-
tikel aufgibt. Ein Ende des Schreckens.

Höhenstunden des Lebens

„Und jene Höhenstunden des Lebens, wenn
du auf den Seinekais der Stadt Paris einen alten
Franzband kauftest, die Poesien Voltaires, und
nun mitten im französischen Strassenlärm den
Schatz aufblättertest, hochzeitliche Wonnen im
Herzen.“

Der Schatzaufblätterer ist Herr V. A., der
Schreiber deutscher und Feind lateinischer Cli-
ches. Aber er ist doch ein Poet mit hochze'it-
lichen Wonnen im Herzen.

s e i n geliebtes Deutsch übersetzt, von ihm be-
weint und durch schwarze Lettern mit ihm ver-
bunden worden.

Was aber, frage ich, wird mit der lateini-
schen Sprache? Der einzige Mensch, der noch
lateinisch versteht, und es „folgendermassen“ in
sein geliebtes Deutsch übersetzt, Herr V. A., ist
von der deutschen Sprache schon so aufgegeben
worden, dass er sich beruhigt als Lateinlehrer
niederlassen kann.

Der Altmeister

Der Dichter Baedeker

„Wenn uns ein grosser Dichter eine Wald-
wiese schilclert, über die der Gebirgsbach zu
Tal rauscht, so strahlt uns diese beschriebene
Wiese in kräftigeren Farben, als wirs je auf ir-
gend einer Reise beobachten konnten. Bei der
heimatlichen Lektüre des Baedeker scheint uns
Italien schöner, als wirs in Wirklichkeit zwi-
chen lärmenden Droschkenkutschern und andrän-
genden Postkartenverkäufem sehen werden . . .
Woher das kommt, woher diese verstärkende
Macht der Buchstaben stammt, ist schwer zu
sagen. Vielleicht daher, dass die dichterische
Schilderung alles akzessorisch Störende ausmerzt,
vielleicht, dass die Sehnsucht hinzukommt, die
alles Ferne schöner erscheinen lässt . . .“

Herr Baedeker ist sicher ein Dichter, dass
akzessorisch Störende wird ohne weiteres aus-
gemerzt, wenn man seinen clrei Sternen traut.
Auch über die Behandlung der Droschkenkut-
scher und Postkartenverkäufer orientiert der Dich-
ter Baedeker. Herr V. A. hat ihn neu bewertet.
Welcher Dichter aber mag ihm die Waldwiese
beschrieben haben?

Die Entstehung des Menschen

Auch diese Frage ist von V. A. gelöst:
„Vielmehr wollen wir schlankweg darauf auf-
merksam machen, dass nur der lesende und
schreibende Mensch Mensch ist. Erst seitdem
geschrieben und gelesen wird, ist der homo sa-
piens da und erst damit begann die Menschheits-
geschichte.“

Eins steht fest, der homo sapiens gehört
nicht zu den ekelhaften abgegriffenen Zitaten, er
schreibt sie höchstens.

Das geliebte Deutsch

„Auch in der Prähistorie gab es Reiche,
Grosskönigtümer, Kanzler, Päpste(!), Bauten,
Kriege . . . aber wir wissen davon nichts, es
ist eine fremde Welt, weil die schwarzen Lettern
uns nicht mit ihr verbanden. Unmöglich in sod-
chem Zusammenhang diese horazische Strophe
zu umgehen.

Vixere fortes ante Agamemnona
Multi, sed omnes illacrimabiles
Urgentur ignotique longa
Nocte, carent puia vate sacro.

Was ich, weil eben kein Mensch mehr la-
teinisch versteht, folgendermassenin mein
geliebtes Deutsch übersetzen muss: Es lebten
Helden schon vor Agamemnon, aber unbeweint
und unbekannt werden sie bedeckt von ewiger
Nacht, weil sie keinen Sänger fanden.“

Der homo sapiens V. A. stand den Helden
vor Agamemnon noch nicht als Sänger zur Ver-
fügung. Wohl ihnen, sie wären sonst auch in

Herr Professor Begas, der bekannte Verfer-
tiger monumentaler Nippes, ist achtzig Jahre
alt geworden. Der Kaiser hat ihn zum Wirkli-
chen Geheimen Rat ernannt, Herr Stassen ihm
eine Adresse mit „Rosen und Lorbeeren“ ge-
schmückt und der Verein Berliner Künstler „er-
hebt ehrfurchtsvoll und bewundernd den Blick
zu einem Lebenswerk voll reich queliender
Schönheit und ehrt den grossen Künstler, der
uns des Tages grauen Alltag mit den Strahlen
olympischer Heiterkeit veredelte und der das Be-
sitztum seiner Volksgenossen an froher Schön-
heitserkenntnis mehrte.“ Dagegen wäre nichts
einzuwenden, man stimmt in das olympische
Gelächter ein und bedauert nur, dass zur Verbrei-
tung der Schönheitserkenntnis Stein und Mar-
mor benutzt worden ist. „Die Stadt Berlin be-
tont in clem sehr herzlich gehaltenen Glück-
wunschschreiben, dass Begas der Schöpfer des
Schillerdenkmals, des Brunnens auf dem Schloss-
platz und des Nationaldenkmals ist.“ Das hätte
die Stadt Berlin lieber nicht betonen sollen. Fritz
Stahl ist schon kritischer. Er betont, dass Herrn
Geheimrat Begas „die Verantwortung für den
schlimmen neu-preussischen Denkmalstil schwer
belastet. Man darf es auch heute nicht verschwei-
gen, er trug die volle Schuld daran, er war sich

selbst untreu geworden.“ Zwar hat Fritz Stahl
einen früheren Begas entdeckt, einen „sozusagen
fleichlicheren“. Es werden verschiedene „leben-
sprühende“ Büsten aufgezählt, worauf Herr
Stahl resigniert bemerkt: „Mit diesen Werken ist
dann die eigentliche Entwicklung des Künstlers
abgeschlossen. Kamen die Forderungen des
neuen Kursus nach immer lauteren Formen, nach
immer barockeren Häufungen, nach immer
schnellerer Arbeit seinen Wünschen entgegen,
oder hatte er nur nicht den Charakter, so be-
queme Gelegenheiten abzuweisen. Er hat an die
wichtigsten Stellen statt ernster Monumente üble
und flüchtige Dekorationen gestellt.“ Die Stadt
Berlin b e t o n t diese Stellen. Wenn Fritz Stahl
schon diese üblen und flüchtigen Dekorationen
(ich halte sie für Nippes) s i e h t, was sorgt er
sich? Der Charakter ist Begas ja jetzt als Wirk-
licher Geheimer Rat verliehen worden. Der neue
Kurs kam nicht seinen Wünschen entgegen, son-
dern seine Wünsche pflasterten den neuen Kurs,
soweit das Auge dessen reichte, der ihm den
verloren gegangenen Charakter wieder verleihen
konnte. Wer sich Konzessionen geben lässt, dem
wircl ein Charakter verliehen. Wer aber als
Künstler einen Charakter besitzt, kann ihm nicht
nach der „ersten Epoche“ konzedieren. Auch
wenn er bekennt, Gegenwert erhalten zu haben.
Oder um mit Fritz Stahl zu sprechen. „Die Bi-
lanz schliesst mit einem mächtigen Verlust. Die
unzweifelhaften Aktiva sind rar.“

Trust

548
 
Annotationen