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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 93 (Januar 1912)
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Hiller, Kurt: Der Sinn des Lebens und die Reichstagswahl
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0298

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Der Sinn des Lebens
und die Reiehstagswahl

Von Kurt Hiller

Ein sachliches Gespräch zwischen zwei Freunden

Schauplatz: Ein westliches Cafe; un-
schöne Architektur, ältliche Sessel, rote Plüsch-
rondells; an den Wänden verwaschene, fade Go-
belins und ein Oelbild voll Charakterköpfen; schräg
durch das Stuhldickicht schlurfen müde einige slo-
vakische Kellner; ihre Gesichter: Zitronen, mit
Kohle beschmiert; nicht weit von der Theke steht
ein bärtiger Bulldogg da, in der Pose eines Wir-
tes. Wenig Gäste, denn es ist Nachmittag. Ein
rundes Marmortischchen umsitzen, halbleeres Ge-
schirr vor sich, Franz und Guido. Beide schwer
bestimmbaren Alters, vielleicht neunzehn, viel-
leicht sechsunddreißig; ziemlich gut angezogen.
Franzens Kopf mehr energisch und verzeichnet,
Guidos blonder und blasser; dafür trägt Guido einen
Kneifer und ein (sehr schmales) goldenes Armband.
Sie rauchen und unterhalten sich.

F r a n z: Also wahrhaftig, ich freue mich wie
ein Kind auf den zwölften Januar. Alle Amüse-
ments des Krieges — bloß ohne Blut — und alle
Amiisements des Zirkus — bloß ohne attisch-
katholischen Gebärden-Schwindel — vereinigen
sich und bedonnern uns; ein grandioses, enervie-
rendes, fiebererzeugendes Schauspiel! Wie maß-
fos phantastisch und doch wie wirklich; wie
fabelhaft wirklich; bedenke, daß wir
selber mitspielen, alle; daß wir zugleich Zuschauer
sind, im Paroxysmus der Neugierde . . und daß
dennoch unsere Haut es ist, um die es geht. Be-
wundernswerte Theatralik des Wirklichen!

Guido: Ich begreife dich nicht. Was geht
uns dieser Rummel an? Was haben w i r zu
schaffen mit diesen Entrüstungen, Begeisterungen,
Katzbaigereien der Spießbtirger? Das taumelt
doch an uns vorüber, sehr fern, in einer fremden
Luftschicht.

Franz: Wirklich so fern? Ich glaubte es
auch einmal. Neuerdings bin ich aber hintenherum
auf den absurden Gedanken gekommen, daß unter
gewisser Perspektive die Biirger, wir Biirger, doch
alle gleich seien . . .

Guido: Nanu?

Franz: Unter der Perspektive der körper-
lichen Bedürfnisse; iener Bedürfnisse, die zwar
gewiß die „niederen“, aber immerhin die wich-
tigsten, die sozusagen condicio-sine-qua-nonsten
sind. Denk nur an das starke Bedürfnis, lebendig
zu bleiben: wie eng ist es mit der Staatsidee ver-
knüpft! Aber auch an viele nachgeordnete: des
Hungers, der die Parlamente bisher fast aus-
schließlich interessiert hat, und der Liebe, um die
sie sich noch wenig kiimmerten. Es gibt schon Ge-
setzmäßigkeiten der Physiologie, die auf sämtliche
Menschen zutreffen; ähnlich wie morphologische
Regeln für alle, auch für uns, gelten; daher ist
es garnicht so unangebracht, sich mit den Mit-
bürgern ziels gemeinsamer Regelung der körper-
lichen Angelegenheiten zu assoziieren. Die Partei
aber entsteht, wenn . . .

Guido: Ich weiß, wie Parteien entstehen;
und auch die Platitüden über persönliche Sicher-
heit, Schutz des Eigentums, Lebensmittelpreise,
Straßenreinigung und Tuberkeln, die du — ich
wette — jetzt plantest, kenne ich zur Genüge.
Es üegt kein Anlaß vor, sie mir an den Schädel
zu schleudern. Behandle mich doch, bitte, nicht wie
den stereotypen Anarchisten der Diskutierklubs,
dessen edler Optimismus durchaus nicht begreifen
kann, daß die Methoden, die er vorschlägt, auf
einem psychölogischen Schnitzer beruhen. Ich
weiß: der entfesselte Mensch wird Bestie sein,
nicht Göttersohn; und mein sittlicher Ernst zwingt

mich zu dem Witz, ohne jede ironische Unter-
strömung zu erklären: „Ich bejahe den Staat“.
Aber, bester Franz, ich bejahe schließlich auch die
Untergrundbahn — ohne daß diese Einrichtung
darum mit meinem Erleben in einem inbrünstige-
ren Zusammenhang stünde. Der Staat ist eine
sehr zweckmäßige Maschinerie; aber nichts als
eine Maschinerie und nichts als zweckmäßig; da-
rum bin ich erstaunt, Reparaturen an ihm dich
seelisch erschüttern zu sehen.

Franz: Erschüttern! Du willst mich vor-
beikapieren. Du traust mir Bezirksvereins-Idea-
lismen zu. Es gibt Paradoxien, iiber die man
hinauskommen muß. Der Gestus, Politik für eine
ganz besonders gieichgültige Sache zu halten, ist
eine dieser Paradoxien; es ist der Gestus von
neulichmal. Du ignorierst das charakterologische
Gesetz der Spirale, das schon Goethe, glaube ich,
aufgestellt hat. Du scheinst zu glauben, ich stiinde
noch auf der Stelle, die du stolz bist eben über-
wunden zu haben. Du irrst: ich bin nicht noch
Politik-Enthusiast, ich bin es w i e d e r.

Guido: Das sind Bekenntnisse und Edikte;
Argumente sind das nicht.

Franz: O, auch Argumente stehn mir zur
Verfügung; metaphysischere als du ahnst. Vor-
läufig werde ich dich aber nur erinnern, wie
furibund du, neulich auf dem Heimweg, über die
deutsche Sexualordnung herzogst, die erwachse-
nen Haussöhnen bei Zuchthausstrafe der Eltern
verbiete, in der elterlichen Wohnung die bürger-
üchsten Orgien zu absolvieren. Mit Recht be-
hauptetest du damais, dieses Verbot schädige deine
pekuniären und deine sanitären Interessen; es
zwinge einen armen Literaten zu Kosten, die der
Sache nach nicht notwendig wären, und einen
Fanatiker der Reinlichkeit zum Aufgeben eines
Teils seiner peniblen Gewohnheiten. Nun bedenke,
daß der neue Reichstag die Möglichkeit haben
wlrd, diese sinnlosen Kuppelei-Nummern zu revi-
dieren und sie in einer Weise umzugestalten, daß
sie deinen Finanzen und deinen hygienischen
Grundsätzen mehr entgegenkommen würden. Be-
denke, wieviele Menschen unseres Alters und
gerade unseres Niveaus unter diesen und ver-
wandten Bestimmungen leiden; wie sehr solche
Kalamitäten ins Geistige hineingreifen, zum Bei-
spiel das Schaffen lähmen; wie hartnäckig sich
die agrarisch-klerikale Cüque gegen eine verstän-
dige, das asketische Gift heraustreibende, naiv-
geniale Reform dieser Regelungen sträubt —: und
bestreite noch, daß wir, gerade wir, ein starkes
Interesse an einer freiheitüchen, intellektuellen, ra-
dikalen Zusammensetzung des Parlaments haben.
Denk auch an die Abschaffung des Krieges —
einer Einrichtung, die imstande ist, tausende von
gesunden, produktiven, lebensfreudigen jungen
Männern zu zwingen, sich für nichts und wieder
nichts (nämlich für Gott und Vaterland) wegen
eines Stückchens Balkan oder wegen eines Stück-
chens Sahara von einer Granate zerschmettern zu
lassen.

Guido: Lieber Junge, du neigtest von ieher
zu demokratischen Allüren. Hast du immer noch
nicht eingesehen, daß ünks die Vernageltheit eben-
so würdig vertreten ist wie rechts? Giaubst du
immer noch an das Dogma deiner Vorväter, wo-
nach sämtliche Tugenden des Geistes und des Ge-
mütes sich bei den „Fortschrittlichen“ finden,
während der „Reaktionär“ eo ipso ein Trottel und
ein Halunke sein muß? Der ünkische Ünke Leit-
artikel; die brüllende Ungeistigkeit der Reden
aller Oppositionshäuptlinge; die prüde Stumpfheit,
der gerade die dringendsten Probleme sozialer
Reform, die sexuellen, bei der Demokratie be-
gegnen; die bornierte Gehässigkeit, die in jenen
„entschieden liberalen“ Tageszeitungen, von deren
Judikatur sich das kaufkräftige Publikum beherr-
schen läßt, allem Neuen, Revolutionären, Enormen
in Künsten und Philosophie dargebracht wird —:
das hätte dich doch allmähüch erkennen lassen

sollen, daß Freisinn und Schwachsinn zwei Be-
griffe sind, die einander keineswegs ausschließe«.

F r a n z: Ich kenne die Engel, die das Tor
des volksparteilichen Literaturparadieses be-
wachen; sie heißen mal Eduard, mal Fritz; ihr
Schwert ist Stahl; und sie lassen, wofern Gott
der Herr sie nicht kitzelt, iimner bloß ihresgleichen
herein. Ich kenne die Engel und bedarf deines
Hinweises nicht. Meine Imaginationskraft ver-
mag ich sogar bis zu dem Grade anzuspanne«,
daß ich deutüch die Grimasse sehe, die jeder be-
liebige Stadtrat, Wohltäter, Handelskammerjäger
vor einem Gedicht von Rilke oder vor einer
Landschaft Schmidt-Rottluffs zu veranstalten ge-
nötigt sein wird. Weiß der Deibel, ich hasse die
Bande nicht weniger innig als du. Aber die Kre-
tins zur Linken widerlegen nicht das Vorhanden-
sein der Kretins zur Rechten; urid daß wir über
die zur Rechten bloß lachen, aber über die zur
Linken uns aufregen, beweist, daß wir mit unsem
Instinkten ünks stehen. Jeder anständige Mensch
ist fiir den Umsturz; wobei sich gleich bleibt, was
umgestürzt werden soll; Revolution als formales
Prinzip hat recht. Das eine will ich gern zugeben:
daß der Kampf gegen die Konservativität keines-
falls die Fronde gegen riickständigen Progressis-
mus hemmen darf. Unsereiner „vergibt“ sich bei
derlei Fronde nichts. Noch vor wenigen Tagen
hatte ich iiber dieses Thema eine Auseinander-
setzung mit dem phantastischen Schriftsteller Je-
robeam Üe; der warf mir protzig vor, man kämpfe
nicht mit einem Haustier, folglich auch nicht mit
einem Engel; das sei unter der Würde eines bes-
seren Anthropen. Ich parierte den Hieb mit der
Baziüentheorie.

G ui d o: ? ? ! !

F r a n z: Du kennst meine Bazillentheorie
nicht? Ich sagte: Der Arzt, der Typhusgeschöpf-
chen, Schlafkrankheitserreger, anderweitige Kok-
ken mit aller Energie auszurotten sucht, strengt
sich nicht deshalb so an, weil sie geistig über-
legene Persönlichkeiten seien mit Prinzipien, die
ihn ärgern; sondern deshalb, weil ihr Dasein, die
brute, ungeistige Tatsache ihres Daseins, gewal-
tigen Schaden stiftet. Aehnlich unintellektual ist
auch das Vernichten von Feuilletonbazillen; es
ist kein üterarischer, sondern ein medizinischer
Akt; nicht gegen ihre Seelenstruktur, sondern ge-
gen ihre Wirkungen zieht man los; man kämpft
nicht in i t ihnen, man kämpft g e g e n sie.

Guido: Und dennoch stimme ich dem Jero-
beam Üe zu. Was hat die ganze Kämpferei für
einen Sinn? Wahrheiten, gesetzt, daß es welche
gibt, zerfallen in . . .

Franz: Du willst sicher bemerken: in be-
langlose und noch belanglosere. Ich kenne diese
heruntergezogenen Mundwinkel.

Guido: Nein, ich werde einen dir näheren
Standpunkt beziehen und werde sagen: in belang-
lose und wichtige. Auch du wirst dann das Kämp-
fen für die belanglosen gewiß freudig dem Affen-
tum überlassen. Und für die wichtigen Wahr-
heiten zu kämpfen —: ach d'ie sind ewig, die wis-
sen die Weisen seit Anbeginn. Sie zu verkünden,
nützt keinen Pfifferüng; denn wem verkündet
man sie? Die Dummen begreifen sie nicht; die
Verlogenen wollen sie nicht wahrhaben; und der
Eliite sind sie bekannt. Wozu also kämpfen, pro-
pagieren, geistige Aktionen managen? Total über-
flüssig, in allen Fällen!

Franz: Nimm doch Strichnin!

Guido: Das wäre gar nicht so undiskutabel.
Im übrigen gesteh ich dir gern: Hörte ich einen
Weltmann mit Lebensformen, einen abgeklärten
deutschen Dandy, einen blasierten Antipolemiker
meine Reflexionen äußern, ieh wäre zu Ohrfeigen
bereit. Aber was soll ich tun? Mensch, fäglich
deutlicher wird mir der Mumpitzcharakter unserer
ganzen vermaledeiten Beweglichkeit; man lebt,
man stirbt, — was ändert sich dazwischen? Und
selbst, w e n n sich etwas änderte: wen erfreut es?
Mensch, lastet nicht die erbarmungslose Futurität

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