Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 90 (Dezember 1911)
DOI Artikel:
Baum, Oskar: Die Rettung: aus einem unveröffentlichten Roman
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0276

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
ich genug fiir ein Nachtlager bei mir habe.“ Ich
ärgerte mich, so deutlich angespielt zu haben. „Wer
keinen Beruf hat, ist ein Bettler oder ein Lump,“
murrte ich ingrimmig, während sie in dem Licht
eines schmalen Mondstreifens am Wegrand ihr Geld
zählte, „darf denn der Mensch wirklich nichts an-
deres als Luxusartikel oder Nutzgegenstand sein?“
„Acht, acht fiinfzig —'neun fünfzig —“ zähite
das Mädchen.

„Aber das ist ein großes Vermögen,“ scherzte
ich, urn nicht länger so dazustehen, als wartete ich
auf ihr Geid, „so viel brauchen wir nicht.“

Und wir suchten uns zur Brücke zurück. Ich
liatte die Idee, daß in dem engen schmutzigen
Gäßchen, in dem es so nach Fischen roch, Schlaf-
steilen für einen Pappenstiel zu haben sein müßten.
Ich erinnerte mich dunkel, so eine Art Gasthof mit
BierausschanL und Branntweindunst gesehen zu
haben. In ein ordentliches Hotel konnten wir um
diese Stunde in unserem Aufzug ohne Reisegepäck
nicht gehen. Ich fand das Haus. Es war noch offen.
In der Wirtsstube drehte man gerade die Lichter
aus. Das Mädchen wurde immer ängstlicher, als
wir da waren und woilte nicht mit hinein, um keänen
Preis! Dabei war'es nicht die Furcht vor der Sorte
von Leuten, die hier zu verkehren schienen, und
auch kein Ekel; sie gab es zu. Ich wurde ungeduldig:
„Also was sonst?“ Sie begann zu weinen. Ich
nahm sie um den Hals, aber sie entwand sich und
weinte nur stärker. „Ich muß es Ihnen sagen,“
schluchzte sie, „einmal muß es doch sein. Ich...“
Es blieb mir nichts übrig, als sie nicht durch Unter-
brechungen zu stören. „Ich bin nämlich von zu-
hause — aus dem Pensionat meine ich —, davon-
gelaufen, weil .... ich weiß nicht wie ich dazu
kam, — ob von einem Dienstmädchen oder einer
Mitschiilerin angesteckt, . . .“ Sie schüttelte sich
wie vor Kälte, „ich habe Läuse!“

„Was?“ lachte ich, „machen Sie keine Witze!“
„Nicht, weil die Mädchen mich auslachten, im
Bogen um mich herumgingen und hinter meinem
Riicken tuschelten, nur weil ich mich so vor mir
ekelte und nicht schlafen konnte bei Tag und Nacht,
war ich so verzweifelt und wollte allem ein Ende
machen. Dabei wusch und kämmte ich mich im-
merfort, überwand die Angst und den Abscheu, ,so
schwer es mir fiel, und alles, aües umsonst! Lassen
Sie mich wieder gehen, sonst stecken ,Sie sich am
Ende fiir alle Ihre Freundlichkeit noch an!“

Zitternd und in sich gebückt, daß sie viel kleiner
aussah, drückte sie sich die Mauer entlang an mir
vorbei und wollte fort. Ich faßte sie grob am Arm:
'„Seien Sie nicht gleich so dumm! Morgen früh ist
von dem ganzen Unglück nichts übrig. Ich weiß
eine schwarze Saibe, die bei uns zuhause eine reiche
Dame immer den Kindern russischer Flüchtlinge
kaufie, fiir die sie ein kleines Heim errichtet hatte.
Sie werden diese Nacht kaum schlafen, weil das
Zeug schauderhaft brennt, aber dafür sind Sie es
ein fiir allema! los.“ Während ich auf sie einsprach,
zog ich sie energisch mit mir ir.s Haus. Eine be-
häbige Frau, sehr dick und sehr rot, kam mit einer
kleinen Laterne die Stufen herab auf uns zu, als
wir zwischen den Türen umhergingen, die in beun-
ruhigender Zah! nahe beieinander zu beiden Seiten
die Wände des längen gassenartigen Hanseingangs
unterbrachen. Es war friiher einmal ein Durchhaus
gewesen, wie ich nachträglich erfuhr.

Nach einigen Unterhandlungen mußten wir der
Frau, die uns sehr mißtrauisch fixierte, das Zimmer
im Voraus für die Nacht bezahien, ehe sie stch an-
schickte, uns heraufzufiihren, Wir staunten sehr,
im ganzen Haus. — wir rriußten sehr hoch steigen, :
so weit es sich beim Licht der Handlateme unter-
scheiden ließ, die peinlichste Ordnung und Sauber-
keit ztt finden, wie in einem ersten Hotel. Aui den
Treppen des ersten Stockwerkes lag ein Lauf-
teppich, die Malerei des Stiegenhauses schien neu,
die Messingstangen des Geländers und die Tür-
klinken glänzten durch das Dunkel.

. Im Zimmer oben sah ich mich erst gar tiicht ttm.
Ich zündete die Kerze auf dem Tisch an; das Mäd-

chen versprach sich schlafen zu iegen und ich ging
der Wirtin nach, die mit einem sehr undeutlichen
„Gute Nacht“ vor der Türe umgekehrt war. Ich
tragte sie, wo die nächste Apotheke wäre. Vor
Aerger und Verwunderung über meine sonderbare
Eile, die ihr wahrscheinlich zu unserem gesunden
Aussehen nicht passen wollte, brummte sie, indem
sie mich nochmals beunruhigt musterte, sie wisse
es nicht. Und ich sah ihr an, daß sie es wußte. Ich
zeigte ihr ein wenig rneine Verachtung und ging.

Es war schwerer eäne Apotheke, als eine
Brüeke zu suchen, aber ich konnte diesmal einen
Wachmann fragen. Ich war denn auch bald da.
Der verschlafene Magister sah mich hinter seinen
zusammengekniffenen Augenlidern sehr komisch an,
weil ich wegen einer solchen Salbe die Nachtklinge!
zog. „Man sollte die Nachttaxe erhöhen!“ knurrte
er, und ich beeilte mich, aus dem Laden zu kommen.
Draußen erwartete mich ein Schrecken. Der lange
knochige Mensch von vorhin stand da und zupfte
mich an der Bluse, als ich ihn nicht bemerken wollte
und große Schritte machte. Er mußte mich hinein-
gehen gesehen haben

„Nun ich dächte, ich hätte Dich lang genug ge-
sucht!“ rief er vorwurfsvoll, „wohin hast Du es
so eilig?“

„Aber schauen Sie, daß Sie weiter kommen!“
schnaufte ich, atemlos vor Eile. Aber er lachte
nur und hielt mühelos Schritt mit mir.

„Ich muß doch herausbekommen. was für eiri
Individuum Sie sind; da hilft Ihnen nichts. Sie in-
teressieren rnich.“ Als ich sah, daß das Laufen
keinen Sinn hatte, antwortete ich ilirn nicht und ließ
ihn auf mich einreden. Der Gasthof war ja nicht
weit; aber er schien sehr befriedigt, als ich vor dem
Hause hielt. Ich mußte schellen; das Tor war
schon geschiossen: „Ich dachte mir gleich, daß Du
hierher gehörst; drum blieb ich in der Gegend,“
sagte er, „aber lange kannst Du noch nicht hier woh-
nen. Ich bin sehr oft da und hab Dich noch nie ge-
sehen.“ Mir kam eine ldee: „Ich habe das Zimmer
Nr. 43. Besuchen Sie mich morgen Vormittag.“ Ich
lächelte höflich. wie sichs gehört, „ich habe eine
reizende Nichte bei mir; Sie werden sich glänzend
unterhalten.“ Er sah mich mit einem furchtbar
dummen Gesicht an. „Aber das „Du“ müssen Sie
sich natürlich abgewöhnen! Ich werde Ihnen iiber-
haupt morgen alles erklären.“

Mit einem energischen Geräusch drehte sich der
Schliissel im Torschloß. Die dicke Wirtin mit der
Handlaterne erschien, griißte den jungen Mann mit
breitem Lächeln und war auch gegen mich nun
freundlicher. „Aiso, also!“ rief sie ungeduidig, als
ich mit sehr förmlichen Kopfnicken ins Haus eilte
und der lange Mensch auf der Straße blieb.

„Nächstens wieder, Erau Strimpll!“ hörte ich
ihn tröstend zu ihr sagen, als ich schon vorsichtig
längs des Geländers die Treppe emporklomm, die
durch die üchte Malerei der Wände ein wenig erhellt
war. Langsam kam die Wirtin hinter mir drein, ent-
täuscht, weil ihr die einfache Erklärung filr meine
Existenz und mein Benehmen plötzlich wieder aus
den Händen gerutscht war.

Aus einem unveröffentlichten Roman

Briefe naeh Norwegen

Von E!se Lasker-Schüler

Liebe Jungens, warum fragt Ihr mich nie an,
was ich mit dem geheimnisvollen: Schweigt mir
von Rom gemeint hab? Ich wollte mir nämlich
einen Wahrsagesalon eröffnen, „Schweigt mir von
Rom“ — aber da Ihr beide stillschweigend darüber
hlnweggegangen seid, wie sollen da die Fremden
hereinfallen. Ich gehe nun lieber hausieren.

Denk mal an, Herwarth, eben kommt unsere
Grete und kündigt mir; muß ich nun aus dem Haus
oder sie? Sie hat heimlich über Leipzig den Sturm
abonniert und bezieht den Spaziergang mit mir
durch die Eriedrichsruherpeterbaumstraße auf sich.
Ihr Ehrgefiihl ist angegriffen; sie fühlt sich verletzt,
und ich muß mir nun meine Wohnung wieder seibst
reinigen oder nicht reinigen, ich bin zu Staub ge-
worden zwischen Staub. Ihr Wiily wiirde sie nun
nicht heiraten, was meinst Du, wenn ich ihr ver-
spreche, ihre Hochzeit bei uns zu feiern?

Peter Baum sieht schlecht aus, er sehnt sich
nach Elberfeid, selbst an seine Amme denkt er noch
mit großer Anhänglichkeit. Er trägt sie an seiner
Uhrkette in einem Herzenveloppe. Sie hat seine
Vorfahren schon gesäuget und stammet aus Rem-
scheid. Sie war es ja, die ihn eigentlich auf die
Verse gebracht hat. Nicht?

Liebe Reisende, ich habe mir in Hieroglyphen-
Schrift ein fiir allemal eine Antwort drucken lassen
auf die vieien Briefe, die icb empfange, auf jeden
Brief ohne Ausnahme von wem er kommen mag.
„Krabbein Sie mir den Buckel herauf!“ Was werden
Richard Weiß in Wien und Paui Leppin in Prag,
beide, die ich so gerne habe, zu der Unhöflichkeit
sagen! So eine Unhöflichkeit kann direkt eine
Zwangsidee werden, sie wird dann plastisch ein
Feind, der Eeinde bereitet. Wenn mir nun in die-
sen Tagen die Venus von Siam einen Brief schreibt
und ich ihr die Antwort in Hieroglyphen übersende.
Oder Ramsenith? Wißt Ihr wer Ramsenith ist —
in München wohnt er seit dem Testament und trägt
eine Pyramide auf dem Kopf und ist schön, seine
Augen reichen bis in den Himmel. Er ist der einzige
Mensch, der historisch nachweisen kann: Ich bin
Jussuf der Egypter, denn ich lebte an seitiem Hof.

Lieber Herwarth. Mein Herz ist sehr krank
oder fühlt es übergroß? Wenn es übergeht, glaubt
man ja immer so kleinlich, man ist krank. Das hat
man noch so von den Aerzten überliefert.
Herwarth, gestern abend war mein Herz
granatrot, ich konnte die Farbe im Munde
vernehmen, kosten. Mein Herz war das
Abendrot und ging unter. Draußen kann es in der
trüben Winterstimmung nicht mehr geschehn; ich
starb am Abendrot. Kannst du das fassen, konnte je
ein Mensch fassen.wenn ich von den Sternen spracb,
wie von meinen Brüdern, den Mond geieitete durch
die Wolken, er ein lustiger, alter Herr ist und heim-
Üch goldenen Wein trinkt, Berncastle Doktor, edeie
Auslese? 0, ich scherze nicht, ich will Dich und
Euch nicht amüsieren, aber mich immer retten mit
Tyli Eulenspiegel Spielen. Ich wäre Clown gewor-
den, Herwarth, wenn ich Dich nicht dadurch be-
leidigt hätte.

Internationaie Postkarte

Lieber Herwarth, ich bin sehr traurig, ich höre
den ganzen Tag weineti in der Stadt. — Wie ich
mich umdrehte, war ich es. Ich weine, Herwarth,
weil mir jemand böse ist.

Gute Kinder, ich bin tief ergriffen, meine Seele
hat sich aufgelöst, es füeßt an ihr herunter, Smaragd,
und Rubin und Saphir, auch Mondstein wie bunte
 
Annotationen