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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 104 (März 1912)
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Walden, Herwarth: Gedankenloses
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Marinetti, Filippo Tommaso: Manifest des Futurismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0390

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Hierauf wurde der Interviewer verwirrt und
hielt folgenden Ausspruch von Multatuli für pa-
radox:

„Eine Sammlung von Holz, Stein, Kalk und
so weiter ist nicht immer ein Oebäude.“

Bei seinen sonstigen Ideen nimmt der Stadt-
baurat vor allen Dingen architektonische Rück-
sichten, sogar weitestgehende auf minder-
begüterte Dienstmädchen. Er äußerte sich über
seine Absichten fiir den Bau des Rudolf Virohow-
krankenhaus'es:

Es soll in allen seinen Teilen der modernen
Anschauung. daß auch auf den Miinderbegüter-
ten die weitestgehende Rücksicht genommen
v. ird, Rechnung getragen werden. Ein armes,
krankes Dienstmädel soll auf dem Weg vom
äußeren Tor bis zum Krankenbett nur ange-
nehme Eindriicke gewinnen. Mit welchen
ä u ß e r e n Architekturformen ich dies am bes-
ten erreichen kann, werde ich mir sehr sorg-
fältig iiberlegen.“

Der Lokal-Anzeiger will eine ganze Artikel-
reihe bringen, in der sidi deutsche Künstler über
ihre Kunst äußern sollen. Das Denken ist schon
schlimm, das Bauen noch schlimmer, aber beim
Reden stiirzt alles ein.

Kunst verpfHchtet

Gerhart Hauptmann ist ein Dichter. Ufnso un-
erhörter, daß er es wagt, in seinern Roman At-
lantis diesen Absatz drucken zu lassen:

Das Leben Ritters hat in der Heimat einen
Knick bekommen. Irgendein rüder Vorfall beim
Militär hatte den jungen Menschen erst zur
widersetzlichen Tätigkeit und dann zur Deser-
tion bewogen. Nun war er seit sieben Jahren in
Amerika und rnußte sich sagen, daß d e r
Knick in der Heimat eine unumgäng-
liche Sache gewesen war, um das Reis in
den neuen, wirklich f ü r e s geeigneten Humus
verpflanzen zu können. Schlicht, harmonisch
und gerade wuchs die Persönlichkeit Ritters hier
wie ein bevorzugter Baum empor, und der
Mangel des jungen Prinzen aus
Qenieland an militärischer Sub-
ordination ward vom Fatum durch die ihm
zukommende Superordination ein- für
allemal ausgeglichen.

Und statt über Strindberg zu denken, daß er
ein eigenartiger Dichter sei, sollte er sich über-
legen, ob man Whisky rnit Brot und Kümmelkäse.
als den besten Teil seines Wesens verborgen hal-
ten soll, bis man die definitive Entscheidung zwi-
schen Sein und Schein trifft:

„Einmal hat er im Vorbeigehen zu mir ge-
sagt,“ schloß Lobkowitz: „Wenn Sie mal in
Amerika gelegentlich einem Maurergesellen be-
gegnen sollten, der in der Arbeitspause s e i -
nen Whisky mit Brot und Kümmel-
käse zu sich nimmt und mir ähnlich sieht,
so denken Sie nur getrost, iöh bin’s. Und dann
brauchen Sie mich nicht zu bedauern, sondern
Sie können mir gratulieren.“

Wieder einer, dachte Friedrich, der das
besteTeil seines Wesens unter der kon-
ventionellen Qeckerei seiner Zeit verborgen
gehalten hat, und der, wie ich, viel-
lpicht ebenfalls immer vergebens
die definitive Entscheidung zwischen Sein
und Schein treffen wollte.

Diese Denkerei ist doch zu sehr auf Zeitungs-
romane abgegessen.

Zurfick zur Natur

In seiner warmherzigen Jungfernrede
über die Säuglingspflege richtete der
fortschrittliche Pastor einen warmen Appell
an die Mütter, zur natürlichen Säug-

lingsernährung zutückzukehren,
den Staat aber ermahnte er, für Säuglingsfür-
sorge das Zehnfache aufzuwenden.

Der warmeAppell der warmherzigen Jungfern-
rede über Säuglingspflege sollte die fortschritt-
lichen Mütter eigentlich in ihrem künstlidhen Oe-
baren stören.

Trust

Manifest des Futurismus

Von F. T. Marinetti

Wir hatten die ganze Nacht gewacht, meine
Freunde und ich, unter den Lampen der Moscheen,
deren Kupferkuppeln, die ebenso durchbrochert
waren wie unsere Seele, doch elektrische Herzen
hatten. Und indem wir in unserer angeborenen
Faulbeit auf iippige Perserteppiche traten, stritten
wir an den äußersten Grenzen dcr Logik und be-
deckten das Papier mit wahnsinnigen Schriftzei-
chen.

Ein unendlicher Stolz dehnte unsere Brust,
uns allein stehen zu sehen, wie Leuchttürme odcr
wie weiter vorgeschobene Vorposten, gegenüber
dem Heer feindlicher Sterne, die in ihrern heimat-
lichen Biwak kampieren. Allein mit den Mechani-
kern in den höllischen Heizräumen der großen
Schiffe, allein mit den schwarzen Eantomen, die
den roten Leib der Lokomotiven füttern, allein
mit den Trunkenen, die mit ihren Flügeln gegen
die Mauer schlagen

Und plötzlich werden wir durch das Rolleu
der zweistöckigen Straßenbahnen abgelenkt. die
hüpfend und buntscheckig vor lauter Licht vor-
iiberfahren, wie der aus seinem Bett getretene Po
plötziich die Weiler überfällt und entwtirzelt, um
sie mit sich über Kaskaden und Wirbel bis ans
Meer zu ziehen.

Dann wurde das Schweigen noch tiefer,
drückender. Da wir dem abgezehrten Qebet des
Kanals und dem Knirschen der Qebeine der tod-
kranken Paläste in ihrern Bart von Griin lausch-
ten, brüllten unter unserem Fenster plötzlich
die hungrigen Autotnobile.

Los, meine Freunde, sagte ich. Qehen wir!
Endlich sind die Mythologie tmd das Ideal iiber-
wunden. Wir werden der Qeburt des Zentauren
beiwohnen, und bald werden wir die ersten Enget
fliegen sehen! Wir werden die Pforten des Le-
bens erschüttern miissen, um ihre Angeln und
Riegel zu prüfen! . . . Gehen wir! Seht die crste
iiber die Erde aufgehende Sonne! . . . Nichts
kommt dem Qlanz ihres roten Schwertes, das
zum ersten Male streitet, in unserer tausendjähri-
gen Finsternis gleich.

Wir näherten uns den drei schnaubenden Ma-
schinen, um ihre Brust zu streicheln. Ich streckte
mich auf meiner Maschine aus wie ein Leichnam
auf der Bahre, aber ich richtete mich plötz-
lich unter dem Lenkrad auf, — diesem Guillotine-
Hackmesser —, das meinen Magen bedrohte.

Wirbelnd entführte tins der Wahnsinn uns
selbst tind trieb durch die steilen, tiefen Straßen
wie ausgetrocknete Wildbäche. Hier und da tauch-
ten an den Fenstern Lampen auf, die uns lehrten.
unsere mathematischen Augen zu verachten.

—Die Witterung, rief ich, die Witterung ge-
niigt dem RotWiild! . . .

Und wir jagten wie junge Löwen den
schwarzhaarigen Tod, der vor uns in den weiten,
malvenfarbigen, lebenden Himmel lief.

Und dennoch hatten wir keine tdeale Qebiete-
rin, die ihre Gestalt bis in die Wolken streckte,
noch eiite grausame Königin, der wir unsere wie
byzantinische Ringe gewundenen Leichname hät-
ten geben können! Nichts, um zu sterben, wäre
es auch nur der Wunsch, endlich unseres nur allzu
drückenden Mutes ledig zu sein!

Wir sausten dahin “ und ! zermalmten auf 'den
Schwellen der Häuser die Hunde, die sich unter
ansere brennenden Pneumatiks legten, wie Kragen
unter Plätteisen.

Der geliebkoste Tod iiberholte mich an jeder
Kurve, um mir artig seine Pfote zu geben und unr
sich dann wieder mit einem Geräusch knackender
Kinnbacken der Erdoberfläche anzuschmiegen, in-
dem er inir aus den Wasserlachen sammetweiche
Blicke zuwarf.

— Verlassen wir die Weisheit wie einen
scheußüchen Qang, und betreten wir wie voa Stolz
gepfefferte Friichte den ungeheueren. magenwei-
ten Mund des Windes! . . . Qeben wir uns deni
Unbekannten zum Fraße, uicht aus Verzweife-
lung, nein, nur um die unergriiruHichen Vorräta
des Absurden zti bereichern!

Kamn hatte. ich diese Worte gesagt, als ich
mich plötzlich um mich selbst drehte wie ein
trunkenes Pudelhündchen, das sich in den
Schwanz beißt; und plötzlich sind zwei Radfahrer
uicht einverstanden, die vor mir wie zwei über-
zeugeride und sich widersprechende Ueber-
legungen torkeln: Ihr Auf- und Niederwallen be-
herrscht'mein Terrain . . . Wie langweilig! Poh?
Ich bremste kiirz und aus Ekdl pflanzte ich mich—-
bums! — Hintern iiber Kopf in einen Qraben...

0, mütterlicher, mit schlamimigem Wasser ge-
füllter Qraben! Fabrikraben! Mit vollcm Munde
kostete ich deinen stärkenden Schlamm, der mich
an die schwarze Brust rneiner sudanesischen
Amme erinnerte!

Als icli meinen kotigeu, iibelduftenden Körper
erhob, fühlte ich wie das rote Schwert der Freude
siiss mein Herz durchbohrte.

Eine Menge Qrundangler und podagristische
Naturforscher hatten sich aus Schreck um das Wun-
der gesammelt. Mit gtxluldiger und kleinlicher Seele
hoben sie eisernes Wurfgarn, um mein Automo-
bil glejch cinem schlammüberzogenen Haifisch zu
angeln. Langsam tauchte es hervor und hinterliess
seine schwere Karosserie und komfortable Polste-
rung wie Schuppen im Graben.

Man glaubte ihn tot, meinen guten Hai, aber
mit einem einzigen Streicheln über seinen allmäch-
tigen Riicken, weckte ich ihn auf, und schon ist er
wieder aufgerichtet und läuft mit ganzer Qeschwin-
digkeit auf seinen Flbssen.

Mein Qesicht war mit dem guten Schlamm der
Fabriken uberzogen, voll Metatlruß, voll unnützen
Schweißes und himmlischer Schlacke. So diktierten
wir, mit verbundenen Armen unter dem Mitleid der
weisen Fischer und der Naturiorscher unsere ersten
Absichten allen auf dieser Erde lebenden Menschen:

Manifest des Futurismus

1 Wir wollen die Liebe zur Qefzdir singen, die
gewohnheitsmässige Energie und die Tollkühnheit.

2 Die Hauptelemente unserer Poesie werden
der Mut, die Kühnheit und die Empörung sein.

3 Wie die Literatur bisher die nachdenkliche
Unbewegliohkeit, die Ekstase, dem Schlummer ge-
priesen hat, so wollen wir die aggressive Bewegung,
die fiebrige Schlaflosigkeit, den gymnastischen
Schritt, den gefahrvollen Sprung, die Ohrfeige und
den Faustschlag preisen.

4 Wir erklären, daß der Glanz der Welt sich
um eine neue Schönheit bereichert hat: um die
Schönheit der Schnelligkeit. . Ein Rennautomobil,
dessen Wagenkasten mit großen Rohren bepackt
sind, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen,
ein heulendes Automobil, das auf Kartätschen zu
laufen scheint. ist schöner aJs der „Sieg bei Samo-
thrake.“

5 Wir wollen den Mann preisen, der am Lenk-
rad sitzt, dessen gedachte Achse die auf den Um-
kreis ihrer Planetenbahn geschleuderte Erde durch-
bohrt.

6 Der Dichter muß sich mit Wärme ausgeben.
mit glanzvoller Verschwendung, um den begeister-
ten Eifer der Uranfänglichen zu vergrößern.

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