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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 92 (Januar 1912)
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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Schmidt, Paul Ferdinand: Die Expressionisten
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0292

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Wolf ist da, der Woli ist da!“ Und zweimal heulte
ich die Leute an, versetzte sie in Schrecken, und
als der Wolf wirklich einmal aus einer Menagerie
ausgebrochen war, wollte es mir niemand glauben.
„Er“ will mir nun auch nicht glauben, daß ich ihn
liebe, und ich werde vom Kumtner zerfressen wer-
den und sicher die ganze Stadt.

Herwarth, bitte, laß diese Qedichte im Sturm
•drucken, sie sind an Tristan — vielieicht glaubt er’s
•dann — bei Qedichten kann man nicht lügen.

Wenn wir uns ansehn
Blühn unsere Augen.

Und wie wir staunen

Vor unseren Wundern — nicht?

Und alles wird so süß.

Von Sternen sind wir eingerahmt
Und fliichten aus der Welt.

Ich glaube wir sind Engel.

*

Auf deiner blauen Seele
Setzen sich die Sterne zur Nacht.

Man muß leise mit dir sein,

O, du mein Tempel,

Meine Qebete erschrecken dich;

Meine Perlen werden wach
Yon meinem heiligen Tanz.

Es ist nicht Tag und nicht Stern,

Ich kenne die Welt nicht mehr,

Nur dich — alles ist Himmel.

*

*

Gar keine Sonne ist mehr,

Aber dein Angesicht scheint.

Und die Nacht ohne Wunder,

Du bist mein Schlummer.

Dein Auge zuckt wie Sternschnuppe —
Immer wünsche ich mir etwas.

Lauter Gold ist dein Lachen,

Mein Herz tanzt in den Himmel.

Wenn eine Wolke kommt —

Sterbe ich.

*

lch kann nicht schlafen mehr
Immer schüttelst du Gold über mich.

Und eine Glocke ist mein Ohr,

Wem vertraust du dich?

So hell wie du,

Blühen die Sträucher im Himmel.

Engel pfliicken sich dein Lächeln
Und schenken es den Kindern.

Die spielen Sonne damit
Ja . .

Herwarth, Tristan hat mir gesagt, er habe eine
Braut, ich will nun nie mehr iiber ihn sprechen —

Ich gehe jetzt so oft allein in die Stadt, fahre
mit ail den Maulwürfen Untergrundbahn. Ich hab
•schon eine Erdfarbe bekommen. Ich soll schlecht
aussehen. Daß mir das gerade auf hypo-
chondrisch Jemand gesagt hat! Denn erst jetzt
fällt es mir auf, daß einen alle Menschen fragen:
„Wie gehts?“ Ich such nun immer suggestiv nach
«der hypochondrischen, erdfarbenen Linie in mei-

nem Gesicht — über Knie—Qörlitzer Bahnhof.
Aber ich bin allen Ernstes krank, es glaubt mir
nur dann erst Jemand, wenn ich ihn anstecke mit
meiner Schwermut. Aber die Menschen haben ja
von Natur alle so verkalkte Gesichter, Eier; wenn
es hoch kommt Ostereier; ich freu mich immer,
wenn ich ein lachendes Plakat unten im Erdfoyer
der Hochbahn entdecke. Das wilde Bengelchen
von seinem Vater Ludwig Kainer gezeichnet,
ich hab’s sofort wieder erkannt; morgens
iacht es auf der großen Hand seiner Die-

nerin kühn reitend mich aus der Zeitung

an, wie aus einem Marstall. Ich möchte
dem allerkleinsten Sezessionsmaler ein grünes
Zwergpferdchen bringen, es müßte wie ein Baum
so grün und sprühend sein, das wäre das Lustigste,
was ich mir vorstellen könnte. Schon lange steht
nun Natur auf der Asphalttafel der Stadt; das
steinerne harte Herz Berlins rührt sich. Tannen-
düfte färben das Blut in den Adern und die Ge-

sichter sehen frischer aus. Aber was geht es

mich an. ich habe-kein Interesse für das Wohler-
gehen dieser Welt mehr, schwärme nur noch für
ihren ärmsten Tand; Schaumglaskugeln in allen
sanften Farben, manche sind wie kleine Altäre ge-
formt, in ihrer Nische leuchten verborgene Schim-
merblumen der Miaria. Ich glaube schon, ich
spüre die gläsernen Bldten in der Brust. Diese
Offenbarung! Und bin doch keine Christin; wo
könnte ich an mir Christin werden? Das hieße
sein Blut verstoßen. Diese Erkenntnis sollte des
Jehovavolkes hochmütigster Reichtum sein.

Gulliver hat hier eine Stadt gebaut. Der ist
ja Architekt; das erzählte mir schon Adolf Loos.
Tausend Zwerge, so groß wie Streichhölzer, tram-
peln durch die Straßen iiber den Marktplatz von
Midgesstown. Wir waren zu fünf Riesen dort und
haben uns geradezu unserer Größe geschämt —
und gingen behutsam gebeugt. Und doch hatten
wir Unglück, einer von uns, der Schauspieler Mor-
nau, hat einen Zwerg zertreten. Habt Ihr’s gelesen?
Und Peter Baum hat sich einen zehn Zentimeter
hohen Feuerwehrmann in die Tasche gesteckt in
Gedanken. Lauter Detektive und Kriminalpoli-
zisten laufen dort herum. Cajus Majus, der Doktor
Hiller sah aus, wie ein gutmütiger Menschen-
fresser, mit seinem runden Bauch. Und Hans
Ehrenbaum-Degele ,hat doch die Zwerge einge-
laden zur Bowle Sylvester; ich glaub, er will sie
hineinschütten.

Herwarth und Kurtchen, Ihr kennt doch Cha-
may Pinsky, er ist mit Beate nach Jerusalem ge-
zogen, das Land säuern. Der Scbelm! Er weiß
ganz genau, zum gelobten Land gehören gelobte
Leute. Und nicht jüdische Bourgeois, die von
posener- Berlin in das Land der Könige ziehen;
ihre Frömmigkeit besteht aus bröckelnden Mat-
zen, kräftigen Fleischbrühen. Vierzig Jahre lehrte
Moses seinem Volk die Freiheit der Wüste und das
Brüllen der Schakale, und das Gesetz vom göttlichen
Angesicht lesen, bevor er sie durch das Tor Je-
rusalems führte.

Ich denke jetzt viel an Religion, aber zur Re-
ligion gehört eine Welt: Alleinsein. Nicht ein
Idyll mit einem Haus, das still. Ich war dazu be-
stimmt, Tempeldienst auszuführen, ich hätte Gott
Heilige gepflückt von den Ufern leiser Ströme
Und das Licht der Seele blau erhalterv

Auch lege ich f r o m m e B i 1 d e r mit den
Sternen, die über das Allerheiligste schweben und
immer wüßte ich vor Gott zu knieen, daß es ihm
kein Zorn entfacht. Ich sage zu Gott: du; sie
duzen sich mit ihm.

Die Expressionisten

Von Paul Ferdinand Schmidt

Vielleicht stehen wir wieder an einer Wende
in der Entwicklung der Malerei, wie zu der Zeit, da
Manets erste Bilder Wut und Entsetzen erregten.
Die Begleitumstände sind ganz ähnliche: das Pu-
blikum lacht oder rast, Künstler bekommen Angst
und protestieren, und die Kritik schließt sich ihnen
an — zum Teil wenigstens. Nur darin sind wir
vorgeschritten, daß der bessere Teil der Kritik sich
vornehme Zurückhaltung auferlegt oder gar, wie
viele Sammler und ein großer Teil der Jugend, sich
mit Begeisterung der neuen Sache anschließt.

Was ist’s mit denen, die man „Expressionisten“
nennt, nach eigenem Wunsche? Warum sind sie
unzufrieden m ;t dem Impressionismus und suchen
neue Wege? Braucnen wir überhaupt etv/as Neues?

Schon die Tatsache des Neuen beweist die
Notwendigkeit; und die rasche Ausbreitung seiner
Ideen sollte sagen, daß in ihr.en werbende Kraft ist.
Es gilt vom Impressionismus loszukornmen: nicht
das wahllose Wiedergeben eir.er Wirklichkeit mit
Luft und Licht diinkt jenen Künstlern das Ziel, son-
dern die Auslese; nicht ein idealistisches Verfäl-
schen, wohl aber das Aufsuchen der starken und
reinen Klänge in der Natur und ihre ausdrucksvolle
Darstellung bedeutet ihnen ihre Tätigkeit. Die Welt
wollen sie in ungebrochenen reinen Tönen
sehen; und diese ihre Welt wird schön durch Far-
higkeit. Und in einem neuen, dem Impressionismus
unbekannten Sinne erfüllt sie sich wieder mit
Poesie.

Dies Unterfangen ist nichts unerhört Neues. Es
hat sich folgereoht in Frankreich mit dem Impres-
sionismus entwickelt. Cezanne lehrte die große
Vereinfachung der Töne, Gauguin die Wirkung der
Flächen, und van Gogh fügte die flammende Leucht-
kraft der Farbe hinzu. Maurice Denis, Vuillard
und Bonnard versuchten eine flächenhafte Verein-
fachung im großen Stile vorzubereiten, aber ihnen
fehlte der zwingende Ausdruek: den fanden Ger-
manen des Nordens und äußersten Siidens, Munch
und Hodler. Der Impressionismus selbst war schon
vor fünfundzwanzig Jahren auf dem besten Wege
gewesen, die Analyse durch äußerste Konsequenz
in ihr Gegenteil zc verwandeln. Aber der Pointii-
lismus konnte die Synthese nicht geben, weil er zu
sehr auf technischer Unfreiheit aufgebaut war. Evo-
lutionisten könnten sagen: die Zeit Seurats war in
ihrem Materialismus nicht reif, die Form für die
große Synthese zu finden.

Man sieht, der Ring der Entwicklung ist lücken-
los geschlossen. Es bedurfte nur des Entdecker-
mutes, um das Mittel zu finden, die Frische des
großen Natureindrucks festzuhalten. Warum wir-
ken Entwürfe und Skizzen von großen Meistern oft
bedeutender auf uns als ihre ausgeführten Werke?
In ihnen geben sie ihre malerischen Gedanken ganz
unmittelbar und unverfälscht durch die Kontrolle des
Studienobjektes. Gewiß brauchte Raffael seine
eminenten Aktstudien zu seinen Kompositionen.
Aber warum brauchte sie der moderne Künstler,
der seine Eindrücke wiedergeben will? Daß sich
akademische Korrektheit mit den Zielen der Im-
pressionismus nicht verträgt, das unterscheidet ja
die Arbeiten der Sezession von denen der offiziellen
Kunst. Heißt es da nicht nur die letzte Folge aus
dem Eindrucksprinzip ziehen, wenn man die Unmit-
telbarkeit der Skizze in das Bild selber rettet?
Das anscheinend so revolutionäre Mittel besteht
also nur in einer weisen Beschränkung des darzu-
stellenden Objektes: statt der Auflösung ins Weite
und Viele, statt der unabsehbaren Differenzierung
in allerkleinste Tonwerte, vm denen man zuletzt
(man denke an Corinth und Beckmann) kaum mehr
irgend einen farbigen Eindruck erhält, setzt man
die Konzentration auf das Wesentliche, auf die Li-
nien und Farben, welche den Eindruck regieren.
Natürlich läßt sich für solche Arbeitsweise kein
Rezept geben, und keine Malschule kann sie lehren,

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