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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 78 (September 1911)
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Dirsztay, Victor: Wahrnehmungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0179

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Wahrnehmungen

Es ist eine Eigentümlichkeit der untersten
Zehntausend, dass es diese inkiusiven Kreise ais
ihre höchste Wonne betrachten, wenn die Exklu-
siven Feste feiern. Niemand weiss da über das
geringste Detail so gut Bescheid, wie sie. Das
blosse Aussprechen ihrer Namen bedeutet für
sie eine Delikatesse, die man mit schmatzendem
Behagen langsam auf der Zunge zergehen lässt.
Und über jede Gemeinheit und Dummheit die-
ser Menschen sprechen sie mit einer infamen
Nachsicht und honigsiissen Milde, aus der die
Melodie ihres „Tout comprendre, c’est tout
pardonner“ choralartig hervortönt. Besonders
jede Verlobung in der „haute volee“ gilt ihnen
als ihr intimes Familienfest. Sollte jedoch gar
eine Hochzeit in der Gesellschaft zu Stande
kommen, kennt ihre Freude keine Grenzen. Da
löst sich manches Wackeren Zunge im trauten
Familienkreise. Da erst wird es klar, mit welch
inniger Sorgfalt sie jede zarte Regung der Lie-
benden von jeher verfolgt und dass sie dem
freudigen Ausgang stets hoffnungsfroh entgegen-
gesehen hatten. Und in neckischen Worten er-

örtem sie die schelmischen Ränke der Lieben-
den.

Die unermässliche Schäbigkeit dieser seeli-
schen Parasiten erschöpft sich jedoch hauptsäch-
lich in der Innigkeit und verständnisvollen Zärt-
lichkeit, mit der sie die Neuvermählten des high-
life durch alle Möglichkeiten ihres Honigmon-
des begleiten. — Und bei dieser so anregenden
Lebensweise solien sich diese ausgesperrten Git-
terbewohner relativ recht wohl fühlen.

* *

*

Jene Schmöcke und Naturburschen, deren
Seele an saftiger Falschheit mit jedem Tiefland
wetteifert, deren plätschernder Redefluss stets in
schlammigen Deltas verläuft, und die durch das
Flattern ihres schmieriggenialen Schlapphutes die
öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken
bestrebt sind, pflegen den sie beherrschenden
Gefiihlen ihres innigen Zusammenhangeis mit
dem Weltganzen gewöhnlich durch den Ausruf:
„Natur und ich ■ sind Eines!“ Ausdruck zu
verleihen. — Die Natur ist bekanntlich wehrlos
gegen Intimitätskundgebungen.

* -t:

*

Ich habe eine ausgesprochene Scheu vor
jedem Gedanken austausch. Ich mache dabei
immer schlechte Geschäfte.

* *

*

Es ist sehr lehrreich die grundverschiedene
Art des Trinkgeldgebens eindringlich zu srudie-
ren Während der Eine dem Kellner seintn
Groschen mit väterlicher Milde in die Hand
drückt, der Andere wieder mit einer fein nuan-
zierten Gebärde seinen Sechser diskret unter die
Serviette plaziert, der Dritte es vorzieht, sich
vorerst mit dem Kellner in einen lebhaften Mei-
nungsaustausch zu verwickeln und ihn nach sei-
ner Fähigkeit Konversation zu machen hono-
rieit, überreicht der vierte sein Trinkgeld mit
einem strengen, bitterbösen Blick, der in das
tiefste Kellnerinnere dringt und doch nur die
angeborene Weichherzigkeit und Zartheit dieses
Gastes durch ein Zuschautragen rauher Aeusser-
lichkeiten verschleiern soll. Aber immer noch
besser, als die Aufdringlichkeit, mit der ein je-
der Niemand den Stempel seiner wässerigen
Persönlichkeit diesem Beschenkungsakt aufdrückt,
ist die Art des Trinkgeldgebens, keins zu ge-
ben. Denn nichts ist schäbiger als die Anma-

Holzschnitt von E. L. Kirchner

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