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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 77 (September 1911)
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Zerbst, Max: Bewegung: Grundlage einer neuen Weltanschauung, [1]
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Döblin, Alfred: Der Dritte, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0169

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vor dem „Atom“, wie Heraklit vor dem „Feuer“
Half gemacht hat.

VIII

Wäre nicht in der einmal gefundenen Er-
kenntnisrichtung der nächste und konsequenteste
Schritt der, dass man auch den „Atombegriff“
noch zu überwinden suchte, dass man auch noch
diesen letzten Rest der Substanzvorstellung ein
für alle mal beseitigte und auch noch für die-
sen letzten Beharrlichkeitswert reine Bewegungs-
werte ein- und ansetzte?

IX

Wohlan! — ich tue diesen Schritt! — ich
sprenge auch noch das „Atom“ in die Luft! ich
löse die „Substanz“ vollständig und restlos auf
in „Bewegung“, in Bewegungsformen, Bewe-
gungsbeziehungen, Bewegungskomplexe, Bewe-
gungsmöglichkeiten! —

Ich formuliere meine neue Erkenntnis:

1. Es gibt nur eine Grundwirklichkeitstatsache.
Diese heisst Bewegung.

2 Die ganze iibrige uns bekannte Natur oder
Welt, alle übrigen Dinge, Erscheinungen
und Vorgänge, — Substanz (körperliche so-
wohl wie geistige), Kraft, Stoff, Raum, Zeit
etcetera — sind, soweit wir sie als „Nicht-
bewegung“ oder „Nicht- Nur-Bewegung“,
wahrnehmen, Scheinwirklichkeit. Tatsäch-
lich sind sie alle selbst nichts wie Bewe-
gungsformen, die von uns nur als solche
nicht oder noch nicht erkannt werden.

3. Alles „Sein“ ist „Schein“, alles „Werden“
ist „Wirklichkeit“ und ist nur Wirklichkeit,
soweit es „Bewegung“ ist.

X

So selbstverständlich, so klein und unbedeu-
tend dieser letzte Schritt der Erkenntnis vom
„Atom“ zur „reinen Bewegung“ zur „Bewegung
an sich“ auf den ersten Blick zu sein scheint, so
ungeheuer und riesengross, von so unabsehba-
ren Folgen ist er doch in Wirklichkeit, von so
beispielloser Wichtigkeit wird er für den, der
seine immense Wirkung, seine Weltbedeutung nur
zu ahnen beginnt.

Diese neue grosse Bewegungseinsicht und
Bewegung9erkenntnis bedeutet die tiefste und
grundsätzlichste Umwertung, die bis jetzt in der
ganzen Entwicklungsgeschichte der Menschheit
zu verzeichnen ist.

Ich vermischte mit meiner Lehre eine ganze
Welt, eine ganze Scheinwelt, nämlich die Welt,
die Euch bis jetzt bis in die feinsten Fasem
Eures Bewusstseins hinein als die festeste und
unerschütterlichste aller denkbaren Welten galt,
und lasse vor Euren erstaunten Blicken eine
neue tausendmal grossartigere Welt auftauchen,
eine ungeahnte und unerforschte Welt unermess-
licher und unerschöpflicher Bildungs- und Ge-
staltungsmöglichkeiten: Diese neue Welt heisst
— Bewegung! — Damit befreie ich den Men-
schen von dem mächtigsten, verhängnisvollsten
und furchtbarsten Vorurteil, das ihn bis in die
untersten Wurzeln seines Wesens und Lebens
beherrscht und in eisernem, unbrechbaren Bann
hält, von dem Vorurteilungeheuer, dessen star-
res Medusenantlitz uns aus allem menschlichen
Tun und Denken, Empfinden und Wollen, Schaf-
fen und Vernichten unfassbar-entsetzlich ent-
gegengrinst, — von der Substanz, von der Au-
torität der Substanzvorstellung, von der Tyran-
nei des ,,Seins . Pcrtsetzung toigt

Der Dritte

Von Alfred Döblin

Der berühmte Frauenarzt Dr. William Con-
verdon in Boston erliess am vierzehnten IV eine
Annonce in den Täglichen Nachrichten, in der
er eine Sekretärin suchte. Er war durch seine
Wahl zum Vorsitzenden der Gesellschaft für
Gynäkologie mit Schreibarbeit übermässig be-
lastet worden; seine bucklige Haushälterin, der
er sein Bedrängnis mitteilte, entschied sich da-
für, eine Dame zu suchen; diese sei billig, vor
allem leichter zu entlassen.

Am achtzehnten IV stellte sie ihm zum
Schluss seiner Sprechstunde zwei Damen vor.
Converdon drehte sich teilnamslos auf seinem
Stuhl um, nahm mit Kopfnicken die leichte Ver-
beugung eines scharfzügigen, schwarzen, intel-
ligenten Fräuleins entgegen, richtete länger seine
grauen kalten Augen auf das blonde Mädchen
neben ihr, die ihm mit Erröten ihre Zeugnisse
reichte. Wie er dann mit der Hand iiber sein
breites Kinn fuhr, entschied er sich, ohne die
Papiere zu öffnen, für die blonde, schüchterne,
vollwangige, weil sie schöne Flechten trug und
es ihn beunruhigen würde, ihre Reize auf die
Strasse zu schicken, und weil er hoffen konnte,
ihrer rasch überdrüssig zu werden.

Bei Beginn der Diktate am nächsten Mor-
gen empfand der hagere Mann eine Störung
seines Gedankenganges durch die Anwesenheit
des Mädchens. Er zögerte daher, über den Läu-
fer des Sprechzimmers hin und her gehend, nicht
lange, hinter dem Sessel halt zu machen, auf
dem sie sass, in blauem Kleid, den Kopf mit
sauber gewundenen Flechten über den Pult ge-
beugt. Bei Betrachtung ihres Nackens blieb er
an ihrem blossen Nacken hängen; so hob er
denn langsam ihren weissen Stehkragen auf, und
küsste sie in den Spalt hinein zwischen Kleid
und Kragen. Sie fuhr zurück, ihre Augen leuch-
teten auf; als er ihre hellen Nackenhaare durch
seine Zähne zog, legte sie kichernd ihre heisse
Wange nach rückwärts an seinen Kopf und
dehnte sich auf dem Stuhl. Dann, als er mit
seinen schmalen Lippen ihre Wangen abtastete,
warf sie sich plötzlich vorn über die Schreib-
platte, vergrub den Kopf in den Armen,
schluchzte sehr leise eine kleine Weile, während
er nachdenklich hinter ihr stand, das scharfe Ge-
sicht gesenkt, die linke Hand am Kinn. Sie
schüttelte sich noch einmal, wischte sich die Au-
gen mit einem sehr dünnen Taschentuch, stand
auf, wandte sich um und sah ihn aus geröte-
ten Augen von unten an. Das blondhaarige
Fräulein, sie hiess Mery Walter, legte dannihren
Kopf an seine weisse Weste und bot ihm zu
seiner grossen Ueberraschung den Mund: Er
wollte erst mit der freien linken Hand in die
Rocktasche fahren nach seinem Kneifer, um die
Erscheinung aus der Nähe zu betrachten; küss-
te sie aber entschlossen und nannte sie vorsich-
tig „liebes Fräulein Walter“. Fräulein Walter
setzte sich wieder auf ihren Sessel, er spazierte
befriedigt über den Läufer, diktierte weiter. Er
machte ihr am Ende der Arbeit, weil es ihm
so einfiel, einige Liebeserklärungen, die sie erst
gedankenlos mit stenographierte, dann aber beim
Nennen ihres Namens verstand; sie spazierte
Arm in Arm mit dem erschrockenen Mann über
deri Läufer; der beschäftigte Arzt freute sich
aber herzlich über den raschen Ablauf des Vor-
gangs.

Er ging mit ihr ins Theater, speiste abends
mit ihr zusammen, trieb dies ein paar Tage.
Bis ihm nach genau einer Woche, als er bei

Beendigung des Diktats auf seiner Chaiselongue
sass und Fräulein Walter betrachtete, ein weite-
rer Gedanke kam. Sie band sich eben über
ihren blauen Rock eine spitzenbesetzte weisse
Schürze und sah dabei auf ihre weissen Tennis-
schuhe, als er um die Erlaubnis bat, die Schürze
hinten zuzuknöpfen, und ihr bei dieser Tätig-
keit dann mit stockender Stimme von hinten
ins Ohr flüsterte, sie möchte heute das Nacht-
lager in seiner unmittelbaren Nähe aufschlager.
Sie betrachtete eine Weile ihre Fingerspitzen,
löste sich mit einem Ruck von seinen Händen,
stampfte dann mit dem Fuss auf, sagte zunächst
leise: „Es geht nicht“. Er ebenso leise: „Wa-
rum“ und duzte sie sofort in Vorbedacht der
kommenden Situationen. Nun einfach darum
nicht, weil sie doch zu Hause wohne. Es wur-
de nun noch die Depesche an die Mutter abge-
sandt, in der berichtet wurde, dass Fräulein
Mery den Herrn Chef für einen Tag auf einer
Reise begleiten müsse, die bucklige Haushälterin
orientiert, welche ein hierfür seit langen Jah-
ren benutztes Zimmer freundlich abstaubte, so
dass Dr. Converdon seinem Plan entsprechend
die fröhliche Nacht mit seiner Sekretärin ver-
lebte.

Nur störte ihn im Verfolg seiner not-
wendigen Bemühungen an dem Fräulein mehre-
res, nämlich die grosse Energie ihres anfäng-
lichen Widerstands, ihre auffallende Erregtheit
während der ganzen Nacht, besonders aber der
Befund einer unzweifelhaften Jungfräulichkeit.
Ueber diesen Befund war Herr Dr. Converdon
heimlich ausserordentlich entrüstet. Er erhob
sich sehr früh, machte dem Fräulein am Mor-
gen vor der Waschschüssel laute Vorwürfe we-
gen ihres Lebenswandels; man solle es nicht für
möglich halten, wenn man sie betrachte mit ihren
blonden Fleehten: was wollte sie eigentlich' von
ihm; es zeuge von einer unglaublichen Unreife,
von einem völligen Missverstehen seiner Person;
er wisse garnicht, wie er über diesen Punkt
ihrer Vergangenheit wegkommen solle. Siewein-
te, im blossen Hemd am Fenster sitzend, furcht-
bar; bettelte um Verzeihung, sie wisse ja selbst
nicht, wie es gekommen sei. Er diktierte ihr

wütend stundenlang am Vormittag; diktierte, bis
sie halb schlafend über den Tisch sank; war
ausser sich über die Rohheit dieser anscheinend
harmlosen Person.

Sofort wollte er sie vor die Tiir setzen.

Aber er überlegte sich, dass sie dann zu leich-
ten Kaufs davon käme. Es wäre ihr ein Ver-
gnügen jetzt zu entwischen nach diesem Ver-
brechen an seiner Seele. Er erklärte ihr abends,
als sie zum Nachtessen erschien, dass er sie
nunmehr fest engagiere zunächst auf drei Mo-
nate; sie klatschte in die Hände; er verlangte
dringend, dass sie einen förmlichen Ver rag, den
er entworfen habe, unterschriebe. Sie unter-
schrieb ungelesen, hängte sich an seinen Hals.
Er lächelte finster. Niemand erkannte den ern-

sten Mann tagelang in seiner explosiven Wut.
Er mietete ihr schon nach einigen Tagen eine

Wohnung in dem Nebenhause, entsetzte sie ihrer
Stellung als Sekretärin, engagierte einen alten
Bureaubeamten. Sie sollte als Gesellschaftsdame
fungieren in seinem Hause. Sie hätte nichts wei-
ter zu tun, als zugegen zu sein, wenn er es
verlangte.

Sie stellte nun seine Möbel um, hing klei-
ne Liebesbilder und Fähnchen auf, setzte sich
allabendlich zu ihm an den Tisch. Er sprach
tagelang mit ihr kein Wort, er duldete sie, gab
ihr mit jeder Miene seine Verachtung zu er-
kennen. Eines Tages schwoll sein Gesicht, wäh-
rend sie ruhig ass, blaurot an, die Stirnader

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