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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 64 (Juni 1911)
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Adler, Joseph: Deutsche Phraseure
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0067

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Das Feuilleton

Idealistische und realistische Richtung

Versinnlichte Presse / Zeichnungen von Ludwig Segebarth

Deutsche Phraseure

Jeder, der mit der Geistesgeschichte der Deutschen
vertraut ist, begreift, daß keinVolk Europas, über
alle Stellungnahme der Regierenden und jede offizielle Ver-
tretung hinaus, an den italienischen Jubelfesten so sehr mit
cem H e r z e n teilnimmt als das deutsdie. Eine große
Anzahl führender Persönlichkeiten Deutschlands
än Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Kunst haben
gern die Gelegenheit ergriffen, dies aufs neue in zum
Teil sehr eindrucksvollen Kundgebungen darzutun, mit denen
sie auf eine vom Berliner Korrespondenten des „Giornale
d ' 11 a 1 i a “, veranstaltete Umfrage geantwortet haben.

Unter den „führenden Persönlich-
k e i t e n “ in Wissenschaft und Kunst, den
„besten Männern Deutschlands“, begegnen
wir auch der Ida Boy-Ed, der Clara Viebig,
Fedor v. Zobeltitz, Eberlein, Maximilian Harden,
Ludwig Fulda, Paul Heyse, Richard Voß und der
Chefredakteure der größten deutschen Zeitungen.
Sie alle haben die flüchtige Gelegenheit „ e r -
g r i f f e n “, den Italienern, die von dem Unter-
bleiben der Kaiserreise schmerzlich berührt wurden,
zu sagen, wie „groß und aufrichtig in allen
Schichten der deutschen Nation die Sympathien
für Italien sind.“

Der Deutsche, der einzelne, krankt zuweilen
an der ererbten Italiensehnsucht, aber das Volk
selbst empfindet für die Jubelfeste Italiens gar-
nidhts. Das will ich behaupten, ob ich auch mit
der Geistesgeschichte der Deutschen weniger gut
vertraut bin — als ein Redakteur desTageblattes-
Das Volk liest von den Jubelfesten, ohne ihnen
,Verständnis entgegenzubringen“.

Nur seine Dichter, sofern sie weniger deutsch
empfinden als das Volk, sind ganz erfüllt von
dem Glück Italiens. Heyse. Alle höhnischen Ant-
worten, die ihm vor garnicht langer Zeit die
italienische Presse auf seine blöde Erniedrigung
eines bedeutenden Dichters Italiens gab, sind um
einer Umfrage willen vergessen worden, und der
Süßinsüßkolorist, unter „den glühenden
Verehrern Welschlands der berufenste“,
brannte darauf, dem Giornale d’Italia dieses zu
schreiben:

„Ein alter deutscher Dichter, der es sich seit mehr als
einem halben Jahrhundert zur Ehre rechnet, sidi einen
„ganzen Italiener im Herzen" nennen zu hören, sendet,
während Italien sich zur festlichen Begehung des Jubiläums
der ruhmreichen Einigung rüstet, über die Alpen hinüber
seine wärmsten Grüße und Wünsche für die beständige Wohl-
fahrt seines geliebten zweiten Vaterlandes.“

Der „ganze Italiener im Herzen“ ist nur ein
halber deutscher Dichter, und er ist nicht allein
alt, er war stets veraltet.

Aus allen Ecken einer Rundfrage kriecht die
breite Phrase, und selbst Künstler, die in ihren
Werken maccaroninüchtern und polentatrocken
sind, reden Worte, die im Ö1 des Schwulstes
auf dem raschen Feuer der Begeisterung ge-
braten wurden. So gedenkt Reinhold Begas „in
schwärmerischer Erinnerung des klassischen Landes“.

„O, g-öttliches Rom, wo bist du? Als ich jung war,
warst du noch das alte Rom. Jetzt, wo ich alt bin, bist du
jung und modern. Ich glaubte einer der ersten zu sein, der
scheiden müßte, und nun bin ich der letzte. Böcklin, Feuerbach,
Lenbach, Passini (!I) sind vorausgegangen und haben mich

Der Kolportageroman

als a!te knorrige Eiche stehen lassen, im hohen Norden.
Und bunte und grüne Spechte klopfen und hacken an dem
Stamm.

Ich dadite an Rom, und der Traum war versdiwunden.“

Heyse nennt sich einen alten deutschen Dichter,
aber Begas will nur eine alte knorrige Eiche sein,
die im hohen Norden steht und träumt. Welche
plastische Anlehnung an die Fichte des „Stamm-
vaters aller Journalisten“. Oder: Begas träumt
nur, daß er eine Eiche sei, solange er an Rom
nicht denkt; erinnert er sich an die ewige Stadt,
leben Len- und Feuerbach, Böcklin und Passini
wieder, und er selbst ist keine Eiche mehr, die
von bunten und grünen Spechten behackt wird.

Klarer als dieser Bildner, der Berliner Michel
Angelo, gibt „seiner glühenden Verehrung für
Italien der glänzende Schilderer der Campagna
Ausdruck“.

„An Italien, dem einzigen, herrlichen, geliebten. Der
ewigen Sdiönheit Italiens habe idi mein Dichterleben
geweiht wie ein Liebender sein Lebcn der Geliebten, ein
Priester der Gottheit weiht. Itaiien zu lieben, zu preisen,
zu verklären — so viel mir gegeben ward — gehört zu
meinen höchsten Errungensdiaften, meinem schönsten Giück.
Möge das einige Italien in seiner zweiten Renaissance blühen
und gedeihen! Dieser Wunsch ist ein Gebet an Italiens Genius.“

Freilich behauptet Manzoni, der seinDichter-
leben nur seiner eigenen Heimat geweiht hatte,
daß die Leiden und die Freuden einer Nation im
Innersten nur ein ihr Angehöriger wird nach-
empfinden können, und daß es einem Dichter,
wenn nicht außergewöhnliche Umstände
vorwalten, niemals möglich sein wird, aus

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