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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 83 (Oktober 1911)
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Friedlaender, Salomo: [Rezension von: Max Zerbst, Die vierte Dimension]
DOI Artikel:
Dirsztay, Victor: Unser Photo, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0222

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zwischen ihren eigenen Ausschweiiungen, Extre-
men, Polen. Dadurch enthüllt das ewig Ontolo-
gische sein ganzes Qeheimnis. Nur verfahre man
recht vorsichtig — sonst gerät man selbst ins Ex-
trem. Der Raum streitet um sein H i e r, die Zeit
um ihr J e t z t, Bewegung um R u h e, um . . .
„Materie“: Das Unendliche streitet^in diesen und
zahlreichen anderen Sinnbildern um: ... S i n n. um
seinen persönlichen Sinn für sich selbst.

Herr Doktor Z. gibt (an anderem Orte) zu ver-
stehen, dafi der Kern und Keinr aller Bewegung,
die E i n h e i t, das „Atom“ — oder wie man es
nenne — die Bedingung des persön'li-
chen Seibstbewußtseins der absolu-
ten Bewegung sei. Aber kaum hat er diese
einzige Wichtigkeit des persönlichen Elemen-
tes anerkannt, als er, in seiner furiosen Vorliebe für
a b s o 1 u t e Bewegung, sofort wieder es explo-
dieren läßt. Und hierin erblicken wir den Kardi-
nalfehler seiner Denkweise und Weltanschauung,
deren Kardinalvorzug eben in der Mobilisierung
des Atoms besteht Man darf diese nicht so vor-
nehmen, daß dariiber das Element gar zum Teufel
geht; sondern hat einzusehen, anzuschauen, daß
ailemal Bewegung ihre eigne (persönliche) Eiemen-
tarität (Einheit, Sein) differenziere — auf zahllose
Arten. W a s bewegt sich? — Dr. Z. läßt die
Tradition antworten: „Substanz“; und will revolu-
tionieren, indem er kiihnlich verbessert: „Bewe-
tung“ Bewegung sei alles. Aber genau ge-
liomrnen, hat er die Substanz doch nur mobil ge-
macht, nicht vernichtet. Sobaid es iemanden gibt,
der absolute Bewegung konstatiert, enthält
deren Absolutes das offenbare Qeheimnis der Sub-
stanz, der Identität, Einheit, des Elements. Also
der aggressive, negierende, niederreißende Qestus
gelingt Herrn Dr. Z. vie! überzeugender als der
oonierende, der nur auf geistreiche, scharfsinnig
ausgeklügeite, willkiirliche Mutmaßungen hinweist.
Es ist schön, die Substanz aus ihrer faulen Ruhe
aufzurütteln: aber Bewegung ohne alle Ruhe, „ab-
so'nte“ Bewegung ist vom S c h c i n e mindestens
der Ruhe nie zu absolvieren. Wir erhalten abso-
lute Bewegung mit variablen Etementen, immerhin
mit einer Einschränkung also der Absoiutität,
welche denn doch viel zu prinzipiell ist, utn obenhin
ais „Schein“ so leicht eriedigt werden zu diirfen.
Vieimehr wiirde, ohne diesen so wesentlichen
„Schein“, Bewegung sich selber entrinnen, Man
darf aiso nicht behaupten: ailes „Sein“ ist Schein,
Hnd nur das „Werden“ Wirklichkeit: — sondern
muß das Sein ais das Integra! der Differenz des
Werdens verstehen. Bew'egung hat wesentlich den
Charakter einer Differenz, einer Poiarität; Rich-
tung und Qeschwindigkeit sind polare Wesen-
heiten. Folgiich hat man einen Denkfehler be-
gangen, wenn man Substanz, Element, Atom, Ein-
heit, Identität ftir simpel hemogen hält: es liegt in
thnen, also im „Sein“, eine ganz immense poten-
tieile Energie in dem Maße, daß mari sie iiberhaupt
nur kinetisch wahrhaft erfassen kann; und zwar po-
lar. Somit sind Sein und Schein, Sein und Werden
gar keine Qegensätze; sondern das Werden ent-
hält in sich selbst jenen Kontrast, welcher am
„Sein“ rütteit und die Materie schon in den Augen
der Alten zum menclaciutn verax machte. —

S c h 1 i e ß 1 i c h i s t m a n, w i e m a n s i c h
a u c h g e b ä r d e, T h e o 1 o g! Der Qott ist die-
ses Mal die „Bewegung“. Wie nun, wenn man es
umkehrte, und an den Anfang den enormen K u 1 -
t u s, diese evoici furori, die edel rasende Anbe-
tung des Dr. Z. stellte, deren Ausgeburt erst seine
Qemüts- und sonstige Bewegung wäre? Oh, wel-
che Verkennung des ewig göttiichen Mysteriums
der Allmacht, der Urdivination, wenn sie zum spä-
ten Resultate dessen gemacht wtirde, das ihr Spiel-
zeug, ihre Ausgelassenheit bloß bedeutet? der Be-
wegungü Oh, mehr Theologie, armseliger
Menscb;* noch niehr Theologie!

Qemeint ist das Qenus, also auch Rezensetit.

Unser Photo

Fortsetzung

Trotz der bekannten Popuiarität, die meine
bescheidene Person in irdischen Kreisen so un-
verdienterweise genießt, nahm mich dieser spon-
tane Ausbruch der Liebenswuirdigkeit und Hoch-
achtung von Seiten des aiten Herrn nicht wenig
Wunder. Um auch meinerseits in taktvoller Weise
Interesse an seiner Person zu bektinden, frtig ich
ihn, welches Ressort er denn in der Kablnetts-
kanzlei innehabe tind zu wem ich denn die Ehre
hätte. „Das wissen Sie gor nix,“ antwortete der
alte Herr iebhaft, “ich bin doch der bekannte Lu-
gensoger. Von mir hat noch nie eirier e’ wahres
Wort gehört!“ Diese Aeußerung des berühmten
Diplomaten, des Herrn Qeheimrates Edlen von Lu-
gensoger, schien mir in gewisser Hinsicht den
Wert seiner früheren scbmeichelhaften Ausdrucke
etwas herabzusetzen, doch ersetzte mir die Be-
kanntschaft mit diesem hochtalentierten und an-
scheinend so viei beschäftigten Funktionär vollauf
diese kleine Enttäuschung. Indem ich der Hoffnung
Ausdruck verlieh, daß er auch fürderhin irn volien
Besitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte
seinem hohen Berufe voll itnd ganz sich hin-
geben und sich nie bei der Wahrheit werde er-
tappen lassen, empfahl ich mich nrit warmem
Mändedruck von dem mir so schnell liebgewor-
denen alten Herrn. Inr Abgehen rief er mir noeh
nach: „Auf baldiges Wiedersehen, Sie lieber netter
Herrj“, doch wolite ich nach den vorangegangenen
Aufklärungen all dies Schöne und Schmeichelhafte
lieber nicht auf mich bezogen wissen, und eilte
schleunigst hinweg. Ich wollte diese Qelegenheit
nicht verstreichen lassen, ohne ein Konterfei des
hervorragendsten Engels für Ihr g. Blatt g r a t i s
anzufertigen. Bekanntlich hat ja vor nicht langer
Zeit Ihr Konkurrenzblatt die Abbildung der Qe-
briider Engel (Baumwollen) gebracht, und ich be-
tracbtete es somit als rneine Ehrenpflicht, Ihnen
nun das Bild cines wirklichen Engeis aus den
höchsten Kreisen zu verschaffen. AIs ich mich
daher nach einer besonders markanten Persönlich-
keit unter den himmlischen Engeln erkundigte,
machte man mich auf ein Original aufmerksam.
Besagter Engel soll ein ebenso geistvoller Causeur,
wie auch merkwürdiger Kauz sein, der stets in
Paradoxen spricht. Auch sein Aeußeres soll
stark von dem bekannten Famiiientypus der Engel
abweichen. So suchte ich ihn denn in seinen Ap-
partements auf. Da mir aber trotz wiederholten
Anklopfens niemand antwortete, öffnete ich end-
lich die Tiir, trat ein, steiite mich vor, und teilte
dem jungen Mann in einer kleinen Rede mit, daß
ich ihn für Ihr Blatt zu photographieren gedenke.
Nachdem ich meinen Speech voliendet hatte und
gespannt auf die Antwort wartete, erhielt ich als
Antwort nur soviel: „Hhherein . . .!“ Ich wußte
anfangs nicht, was dies bedeuten sollte, doch
stellte es sich heraus, daß der bedauernswerte junge
Mann leider stottere und daher jetzt erst die Ant-
wort auf mein früheres Anklopfen hervorgebracht
habe. Ich bemerkte auch, daß er momentan sehr
unbeschäftigt und daher äußerst nervös sei. Ich
versuchte nun mit den gar nicht wirschen, ja, ge-
radezu unwirschen jungen Mann ein Qespräch
anzuknüpfen. „Herr von Engel!“ sagte ich, —
„Pardon!“, unterbrach er mich, „heiße bereits
Angyal“ — „Herr von Angyal“ fuhr ich also fort,
mich schnell verbessernd, „ich möchte, wie gesagt,
ein kieines Interview mit Ihnen haben. Was lesen
Sie da, wenn ich fragen darf?“ „Dda ich, wwie
Sie gehört haben werden, ein Ssalonppiauderer bin,
werde ich es Sie in einetn Paradoxon raten lassen,“
war die Antwort. „Der erste Teil ist ein großer
Vvogel, der zweite Teil eine f . . forchterliche
Schschießwaffe. Wwer ist das?“ Das konnte ich
natürlich s e I b e r nicht erraten. „Grillpanzer“
sagte er. „Wieso“, erlaubte ich mir einzuwenden,
„ ist denn Panzer eine fürchterliche Schießwaffe?“

„Nu ist denn Qgrill ein großer Vogel?“, sagte Herr
von Angyal, indem er sich vor Lachen bog, und
daher noch undeutlicher stotterte, als gewöhnlich.
Auch ich mußte über diesen komischen Einfall
lachen, obgleich ich gestehen muß, daß ich etwas
deratiges bereits eintnal gehört zu haben glaubte.
Doch hütete ich mich dies zu verraten. Jetzt erst
hatte ich auch Qelegenheit, Herru von Angyal voli
zu sehen, da er mir bis dahin das eigentliche Ge-
sicht noch nicht zugewendet hatte. Ich bemerkte
nun, daß er ein auffallend mießer Engel war. Dies
ist umso merkwürdiger, als die Engeln alle sehr
f e i n und gar nicht prononziert aussehen. Er trug
einen etwas abgegriffenen schwarzen Qehrock, einen
keinesfalls tadei- aber ganz krempenlosen Zylin-
der, Zwicker und war gar nicht rasiert, lauter
Dinge, die ich noch an k e i n e n Engel bemerkt
liatte. Auch iiatte er einen Wasserkopf, der ihm
aber gar nicht gut stand. „Sie sind ja ganz an-
ders, wie die übrigen mir bekannten Mitglieder
Ihrer werten und so angesehenen Familie,“ sagte
ich, indem ich an die Qebrüder Engel von der
Baumwollbranche dachte, deren Porträts, wie ich
erwähnte, jüngst erschienen sind. „Natürlich bin
ich anders, denn ich bin ja längst vverschieden:
im Himmel sind ja nur Vverschiedene“, war die
Antwort, worauf er auf ziemlich taktlose Weise
herzhaft iiber seinen eigenen Tod lachte. „Uebri-
gens können Sie auch laut reden, denn schwerhörig
bin ich auch,“ fiigte er sich immer noch vor Lachea
schiittelnd hinzu. Als ich dies hörte, konnte ich
mir nicht verhehlen, daß der junge Mann, unleug-
bar ein ganz hervorragend befähigter Engel, eine
so schöne soziale Position wie hier, bei uns nicht
einnehmen könnte. Angenehin berührte es mich
hingegen, daß er den einmai angeschlagenen an-
genehinen und leichten Stotter-Ton konsequent
fest hielt, was zwar etwas pedantisch, aber keines-
wegs unsympatisch war. Ich machte ihm auch
mein Kompliment, indem ich ihn versicherte, daS
es mir ein großes Vergnügen bereite, mich mit
eineni so hochgebildeten jungen Enge! nach Her-
zenslust auszustottern, was ihn sichtlich schmei-
chelte. Er bemerkte zu mir, daß er das Stottern
sehr leicht gelernt habe und sich nie einer anderen
Ausdrucksweise zu bedienen pflege, da ihn das
Stottern, besonders das schneile, — das sehr
schwer sein soll - viel Freude bereite. Er übe
sich auch täglich und hoffe, es in absehbarer Zeit
so weit zu bringen, daß Niemand auch nur eirt
Sterbenswörtchen von ihm werde verstehen kön-
nen. Da konnte ich ihm nun mit ehrlicher Ueber-
zeugung versichern, daß dieser Zeitpunkt keines-
falls Iange auf sich warten iasse. Er erwähnte auch
noch, daß er eine unfehibare Methode erfunden
habe, jedem, auch den Unbegabtesten, das Stot-
tern binnen vierundzwanzig Stunden beizubringen
und empfahl mir sein Buch: Wie stottere ich
leicht und elegant? auf Allerwärmste. Da ich mich
für meine Person bestens bedankte, mich aber mit
Zeitmangel entschuldigte, mußte ich ihm wenigstens
versprechen, für sein Werk zu Hause Propaganda
zu machen, was ich auch recht gerne tue. Ich löse
hiermit mein Wort ein und fiihre zu gleicher Zeit
die geradezu umwälzende Bedeutung der Stotter-
sprache als internationaler Weltsprache an, da aus
der allgemein gleichen Unverständlichkeit dieser
Sprache gleich ihre Ailgemein-Verständlichkeit
foigt. Nicht mit Unrecht dachte ich nun, daß er
sich durch das Erscheinen seines Bildnisses in Ihrer
g. Zeitschrift sehr geschmeichelt fühlen würde,
sagte daher: „Wenn es Ihnen recht ist, Herr
von Engel“ — „Angyal“ verbesserte er mich aber-
mals — „Herr von Angyal, so würde ich jetzt eine
gute Aufnahme von Ihnen machen.

Schluß folgt

Viktor von Dirsztay

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE
 
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