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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 101 (März 1912)
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Walden, Herwarth: Zeitschriften!
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Friedlaender, Salomo: Verstellung
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0367

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Da hätteti wir das ganz«. internatio-nale 0-e-
hehrnns. Hoiien wir nur, daß die rote Internatio-
nale detn Herrn Schmitz keinen Strich durch den
vorietzten Satz macht. Sonst müßte er sich der
Mühe unterziehen, ein neues Brevier herauszu-
jrebie.ti.

EndJich möchte ich die Leser des Sturms da-
ratif aufmerksarn machen, daß nicht nur der Schnei-
der, sondern auch die Schneiderzeitung einen
Briefkasten besitzt, durch deu merkwürdiger-
weise „Anfragen irgend welcher Art bereit-
willigst erledigt werden“. Man kann sich
auf die Erledigung verlassen, denn kein Oe-
ringerer als Herr Edmund Edel erteilt Rat in
sclrwierigen Fällen. Zum Beispiel über Krawat-
ten: „Wer nicht selbst einen ausgesprochenen
Earben&inn hat, sollte die Wahl seinem Chemisier
iiberlassen, dessen geiibtes Auge sicherlich das
Richtige finden wird. Vielleicht senden Sie uns
einmal ein paar Proben Ihrer Anzugstoffe“. Ja, der
Herr Edel ist viels.ei.tig, Einem Qutsbesitzer gibt
er atic-h guten Rat: „Wenn Sie einen Besuch
machen, sollten Sie u n b c d i n g t ein weißes
Oberhemd tragen“. Herr Edel versteht sich eben
auf Mondainität. Einem Herrn in Oldenburg, der
sich verzweifelt an ihn wendet, antwortet er mit
imponierender Sicherheit: „Der Erack soli über-
haupt nicht am Tage getragen werden“. Zum
Scbluß siegt aber der Revölutionär Edel über den
mortdainen Kosniopoliten:

’W'ir können es dem Sommer 1911 danken,
daß er ein bißclien Bewegung in die festen For-
me.n unserer Männerkleidung gebracht liat. Daß
er die dunuuen Vorurteile beseitigte und uns den
Stehkragen w e i c h gesch witzt und die
Weste ausgezogen hat. Ja. daß er uns er-
laubte. in Damengesellschaft sogar in Hemd-
ärmeln zu erscheinen.

Ein Qliick, daß die deutschen Dichter sich in
der Schneiderzeitung einmal selbst ausziehen.
Viel|e.icht trterkt dadurch das deutsche Volk, das
sie lieben, doch endlich einma-1 die schäbige
Eleganz.

In «teiiiem Oeist

Das Literarische Eclio widmet seinent Qrtin-
der, Herrti Josef Ettlinger, den iiblichen tiefgefühl-
ten Nachrttf und verspricht, daß die Zeitschrift in
seinem Qeiste weiter geleitet werden solle. Man
braucht also dieses Organ auch fernerhin
nicht zu iesen.

Bekenntuisse

Das Deutsche Theater läßt in seinen „Bläi-
tern“ von seinem Dramaturgen Artur Kahane eine
„Nänie“ über das deutsche Lustspiel weinen:

Üesellscliaftliche Kultur gedeiht nicht in
Winkeln: sie braucht einen Mittelpunkt, ein
gesetzgebendes, maßgebendes Zentrum, das ent-
scheidet. Hier ist das Zentrum nocli zu jung,
zu ungelenk. Noch fehlt ihm jede Verfeinerung,
Differenzierung und A b sehattierung, das Talent
,zur Nuance. Noch fehlen ihni Takt und Qe-
schmack. Und das Recht, Qeschmack für iiber-
fliissig zu halten, hat nur, wer selbst Geschmack
hat. Noch fehlt hier das angeborene, ererbte.
sichere Qefiihl von deni, was erlaubt und nicht
erlaubt ist, von dem, was möglich und nicht
möglich ist. Dort aber, wo alies m ö g I i c h ist,
ist nichts w i r k 1 i c h.

Bekenntnisse, vaschteste!

Trnst

Verstellung

Von Mynona

Vori Terr, ein Mensch, der sich. er wußte
selbst nicht, wie iange, seines Todes erfreute, hatte
das gespenstische Spuken, das bekanntlich Qestor-
benen selten erspart zu werden pflegt, redlich satt.
Ueber das Wiedergeborenwerden dachte er viel
zu skeptisch, als daß er Anstaiten dazu getroffen
hätte. Auch war es, selbst wenn es gliickte, mit
viel zu vielen Beschwerden fiir Mutter und Kind
verbtinden. Von Terr zog es vor, sich so kräftig
wie möglich zu verstelien und durchaus den An-
schein des bliihendsten Jiinglings zu geben. „Da
das Menschenleben,“ nieinte er ziemiich griesgrä-
mig, „so wie so eine Tartüfferie zu sein scheint —
warum soilte ein toter Herr nicht den echtesten
Tartiiff des Lebens vorstellen können?“

Von Terr ging die lange Allee hinaus, die uacli
der Stadt führte. Das hagere, unfrohe Skeiett, das
er war, bewegte sich knöchern und blechern iiber
die Erde, und die Morgensonne skizzierte die spin-
nenartige Arabeske seines Schattens auf die von
Pferdespuren verunglimpfte Chaussee. Qar man-
cher Bauer sah ihm verwundert nach, auch ver-
fehlte kein Tier, seine Haare ziemlich zu sträuben.
Aber die energische Selbstverständliclikeit, init der
hier eine tote Parodoxie wie eine lebendige Trivi-
alität daherschritt, hypnotiserte Bauern itnd Tiere
dermaßen, daß Terr sich der Unauffälligkeit seiner
Erscheinung gemächlich erfreute. „Der Tod“.
schnatterte er gräßlich laut mit seinen Schädelkie-
fern, „bedarf gar keines besonderen Ueberniaßes
von Verstelhmg. um im Leben als Lebeit zu er-
scheinen. Fast fragt er sich: bin ich wirklich tot?“
Erst zwei weibliche Wesen , offenbar Mutter und
Kind, blieben als sie seiner ansichtig wurden, wie
vom Doimer gerührt stehen. Das Weib jedes Jahr-
gangs hat kolossale Instinkte, Leben und Tod zti
unterscheiden - und hier witterte es, trotz der
rasselndsten Lebendigkeit, den Tod. Von Terr sah
nicht so bald sein Inkognito gelüftet, a!s er die Not-
wendigkeit fiihlte, sich besser zu verstelien. An-
statt eines Skelettes stand also jetzt ein charman-
ter Stadtherr vor den Erschrockenen, ordentlich
zivii gekleidet, faßte an die Hutkrempe und fragte
höflich, wie weit es noch nach der Stadt wäre. Das
kleine Mädchen schlug, während die Mottter ver-
dutzt dastand, heftig nach der fein behandschuhten
Totenhand und schrie: „Mutter, komm weiter, der
tut nur so, das ist ein Schelrn, der ist gar nicht
richtig.“ Die Mutter, ein dralles hiibsches Land-
weib, verwies das dem: Kinde, gab dem Fremden
mit ängstlicher Stimme Auskunft und nahtn dan-
kend die kleine Miinze in Empfang, die von Terr
ilir bot. „Es ist unglaublich“, sagte Terr weiter-
promenierend, „wie Kinder jede Verstellung zu
durchschauen wissen; gliicklicher Weise gibt es
keine reinen Kinder; sonst könnte ich nur grade
wieder weiterverwesen - - und was man aucb
sagen möge: totseinlangweilt!“ Bekannt-
licli braucht ein Toter, der sich verstellen wilk
vermöge der intensiven suggestiven lilusionskraft,
die er ausübt, keinerlei äußeren Behelf; sondern
eben bloß die allerdings recht anstrengende und
erschöpfende Fähigkeit der Versteilting. Der Tote
zum Beispiel kann dir, wenn du Kellner bist, sein
Tninkgeld von 0,0 so treuherzig massiv in die
Hand drücken, daß du schwörst, es seien ailermin-
destens fünfzig Pfennig. Das bleibt natiirlich indi-
viduell: der tote Qoethe täuscht stichhaltiger als
der tote Kulike. Von Terr mietete sich in der
Residenz eine elegant möblierte Etage und ging
auf Abenteuer aus, die alle durch seine Unbeson-
nenheit ttnd Zerstreutheit geschmacklos endeten.
In dem Bestreben, seinen Tod ztt vergessen, tat
er oft des Quten zu viel, bis er zur Unzeit und
zum nicht geringen Befremden der Lebendigen
skelettartige Interinezzi spieite. Zu spttken. zu
gespenstern ist für Tote freilich Kinderspiel, fällt

aber auch so schwach aüs, daß fast kein Lebender
was davon merkt; und merkt Einer was, zum Bei-
spiel die Anmne Lehmann oder das Pferd Sirius, so
glaubeit es ihm wieder bloß Armmen und Pferde.
Das ist ja die Tragödie des Wunderbaren, daß es
vom Gewöhnlichen ersehnt, aber nie erlebt wer-
den k a n n! Um von ihm erlebt zu weraen, muß
es ihm gieichen, aber dadttrch wird cs imauffällig.

Das bischen Stutzen der Animen und Pferde
kann öespenster nicht über den Stumpfsinn der
Allermeisten trösten. Daher eben strengen mo-
derne Qespenster sich viel mehr an — bis zur
völligen Mimicry und Ununterscheidbarkeit vom
Leben. Ja, es gibt einen äußerst merkwürdigen
Ausspruch eines Qespenstes, das wegen dieser In-
diskretion seine ganze Beliebtheit bei den Kom-
militonen eingebiißt hat. Es ließ nämlich durch-
blicken, daß nran unfreiwillig bis zur greifbaren
Iliusion spuken könne; und daß v i e 1 i e i c h t —
(man lächie ob dieses diplomatischen Vielleichts!)

also daß vielleicht alle tot w ä r e n , wetl sie
es w ü r d e n!! Es ist nichts peinlicher, als wenn
Tote aus der Schttle platiderrt. Der allerböseste
Streich von Terrs war. daß er ein argloses Mäd-
chen in sich verliebt zu machen verstand, bis es
ihtn blindlings in seine bel etage folgte. Liebe ist
bekanntlich fiir tote I.eute der feinste Lecker-
bjssen. Sie haben Kretize gern, Kränze gern, Qe-
betlein gern; iiberhaupt aüe Gräber-Annehinüch-
keiten, welche die Lebendigen ihnen gönnen — aber
von Terr gehörte zu den anspruchsvolfen Toten,
die ein eclttes Eurioso der Liebe verlangen, und
so freute er sich, daß Fräulein Pietsch ihm be-
vorstand. Er riahrn sie also mit sich, und wie
verstellte Kadaver nun mal sind, überbot er sich
dermaßen iti Qalanterien, daß er sich int Vorsaal
bereits wieder Skelett werden fühlte: gibt es zur
Liebe etwas Ungeeigneteres als ein Knochengerüst?
Aber die Liebe tut ia Wunder, bis in das Rück-
grat hinein — wie hätte sie r.icht hier, wo sie es so
Ieicht hatte, eins zeitigen sollen! Die Pietsch riihmte
Herrn von Darrs feste Qebeine, ihr war aber
nicht allzu wohl dabei. Endlich riet sie ihm, sich
besser zu pflegen, sie empfahl ihm eine Mastkur;
sie war der abnungsloseste Engel, in Armen
rtthend, die sich merklich verknöcherten. Da
seufzte von Terr auf und lispelte ihr ins Ohr:

„Ist nicht ein Skelett das wahre Filigran der
Zärtlichkeit? Ist nicht die Plastik das hetmnendste
Hindernis der Vereinigttng? Entzückend ist der
Kuß zweier Schädel ohne diese garstige Einschal-
tung der widerlich fleischernen Lippen. Ach, rnein
Kind, diese Maske aus rinnendem und geronnenem
Blut von den Knochen werfen zti können — ist
das nicht der Triumph der Liebe? Tod ist nackte
Wollust!“ Während er so dozierte, wo er ent-
schieden der Pietsch anders hätte dienen sollen,
tat er mehr und mehr, was er sagte: rnan stelle
sich gefälligst die Oefühle der Pietsch vor, als sie
sich die Braut eines Qerippes erkennen mußte —-!
Sie stieß... das heißt sie wollte einen jener ent-
setzlichen Schreie ausstoßen, wie er kunstgerecht
von enttäuschten Jungfrauen fabriziert zu werden
pflegt; aber erstlich erstickte ihr die Stimme in
der Kehle, sodann gab ihr Entsetzen dem Heuch-
ier nette Verstellungskräfte, und ihr ganz passabler
schlanker Kavalier von vorhin fragte, was ihr sei,
und verbat sicb energisch alle Hysterie. Die
Pietsch erhoite sich miihsam, sie seufzte und
sprach etwas von Alpdruck und dergleichen.
„Was reden Sie auch fiir törichtes Zeug,“ schalt
sie tnit schüchterner Schelmerei, „ich bin so wahn-
sinnig suggestibel, ich sah Sie wahrhaftig einen
Augenblick lang als Schädel — puhhh!“

„Na? Und das liätte Sie wohl gestört? Wie?“
erkundigte sich von Terr malitiös genug, und mit
dem Mut zur furchtbarsten Deutlichkeit vollzog
er blitzschneil die praktische Osteologie, um soiort
wieder der hagere Amoroso zu sein. Jetzt hatte
die Pietsch gar keine Zeit gehabt, sich sonderiich

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