Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI issue:
Nr. 86 (November 1911)
DOI article:
Gause, Hans: Gedichte
DOI article:
Rung, Otto: Der Vagabund, [1]
DOI article:
Kunowski, Lothar: Doktrinäre und Lehrmeister der Kunst
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0244

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Glanz

Ich Iiege krank am Fenster; ; ^

Frühlingsaroma.

Hundert Schritte über den zartgrünen

Wiesenrasen bis zur Donau:
Drüben, gerade gegenüber, ist eine Lichtung

in der Au,

Ein großer Obstgarten,

Birnbäume in schneeweißem Blütenschauer

und rosaknospende Apfelbäume.
Dahinter verriegelt die schwarze Waldkuppe

mit dem betürmten Klosterschloß
Und rechts, links, schimmern bläulichere

Waldköpfe entgegen.

O Blütenbaum! Hinter den blauen Hiigeln.

Ich lächle im Radfahren,

Neben mir mein Freund, auch er erhellten Qesichts.
Die Reichsstraße ist glatt wie Parkett.

Blauer, frischer Sommertag und

Sonnenglanz und Stille.
Die Apfelbaumaileen sind reif, wir essen

ununterbrochen,

Nach der Straße fernem Qlitzerschwanz
Fliegen wir lächelnd, ganz in

Vergessenheit aufgewacht,

Bis in den Abend.

Der Vagabund

Von Otto Rung

Es hatte zum drittenmal an Klerkers Tür ge-
klopft, unckdiesmal nicht mehr behutsam wie vor-
her, sondern äußerst energisch.

Klerker seufzte und erhob sich langsam. Er
ging durch die vier Zimmer der untersten Etage
der Villa, ziindete Licht an und öffnete. Draußen
auf der Steintreppe stand, wie er erwartet hatte,
ein großer, breiter Mann in geduckter, bittender
Stellung, ohne unter dein Halbdach Schutz vor dem
Regen zu suchen, der in uncrgründlichen Ncbel ge-
hüllt, über die Wege hinfegte.

Klerker wußte nichts zu sagen; und die paar
stumpfen Silben, die der Mann hervorstieß, ver-
stand er nicht. Doch cr begriff, daß der Mann ob-
dachlos war. Vor einer Weile hatte er den Hund
des Nachbars hinter einer Tiir, die sehr schneli
zugeworfen worden war, wiitend bellen hören.

Er überlegte: dieser Mann hat also wahr-
scheinlich heute abend durch sein gewalttätiges
Aussehen schon manchem einen gehörigen Schreck
eingejagt. Darum hat man ihm die Tür vor der
Nase zugeschlagen. Die Aengstlichen haben, ab-
gesehen von den wenigen Minuten Unbehagens,
keinen weiteren Schaden erlitten. Er selbst ist der
einzige wirklich Qeschädigte, weil die Leute ihm
keinen Einlaß gewähren wollten. Um den Schaden
nicht noch zu vermehren. ist es am richtigsten, ich
lasse ihn herein.

Und so forderte er den Obdachlosen auf, ein-
zutreten.

Da stand nun im Lichte der Lampe, die Klerker
hielt, ein rothaariger junger Bursche von starkem
Körperbau mit großem, leerem weißen Qesicht, das
der Regen griindlich benetzt hatte; unter den ge-
schwollenen Lidern schielten die blassen Augen
kränklich hervor. Eine rostrote Jacke klebte an
dem gewaltigen Torso.

Jetzt verstand Klerker ein paar Worte: „Krank
— hur.grig — Seemann ohne Heuer — keine Unter-
kunft!“ Und so etwas durfte nicht sein. Er öffnete
die Tür zum Wohnzimmer, ging voran: „Kommen
Sie herein!“

Die Füße des Bettlers bewegten sich schar-
rend iiber die Schwelle. „Setzen Sie sich nur,“
sagte Klerker, und der Mann setzte sich. Dann
stellte ihin Klerker, der selber gerade beim Abend-
brot war, einen Teller zurecht.

Therese, des Schwagers junge, unniündige
Tochter, die dem Onkel bei den Mahlzeiten zur
Hand ging, sah mit ihren blanken, aufrichtigen
Augen zu. Eine große Blase formte sich über ihrem
weitgeöffneten, erstaunten Munde. „Du kannst
nach Hause gehen, Therese,“ sagte Klerker und
nickte ihr zu. Das Mädchen stand sofort auf,
wiinschte gesegnete Mahlzeit und vcrließ das Zim-
mer, ohne sich umzusehen. Sie lief in wilder Ei!e
über die aufgeweichten Wege nach dem Hause der
Eltern, das am andern Ende der Villenstadt lag;
sie hatte Angst, doch interessierte das (icsehenc
sie ungeheuer.

Klerker strich seinen langen, viereckigen,
grauen Bart, während der Qast aß. Sein tabak-
brauner Daumen glitt langsam auf der starken Nase
hin und her. „Essen Sie nur!“ sagte er ermunternd.
Da der Bcttler vorsichtig und maßvoll aß, fiel ihm
ein, daß Menschen, die sehr lange gehungert haben,
Widerwillen vor aller Nahrung empfinden, und dar-
um wiederholte er die Aufforderung nicht.

Der Mann erhob sich; in der Har.d hieit er
eirten nassen Fetzen, der seine Mütze zu sein
schien. Er schwankte auf den ausgehungerteii
Beinen hin und her, und machte einc Drehung nach
der Tür hin. Klerker hatte ganz gewohnheits-
mäßig eine Zigarrenkiste-aus dem Schrank genom-
men, ein plötzlicher stummer ünd erbitterter Blick
seines Gastes erinnerte ihn. daß der augenblick-
iich an alles andere als an Zigarren dachte. Kler-
ker öffnete eine kleine Nebenkammer, in der sic’n
ein recht unbequemes, aber hinrcichend langes
Schlafsofa befand. „Da Sie obdachlos sind, weiß
ich keinen andern Rat, als daß Sie sich da drinnen
einrichten.“

Der Bettler volifiihrte eine Drehung - es
war fast, als fiele er gegen die Wand — und ge-
langte so in die Nälie der Tür der kleinen Schlaf-
kammer. Seine Lippen traten trichterförniig her-
vor. Ein saugendes Zuckcn seiner Halsmuskeln;
aber er gab keinen anderii Laut von sich als ein
dickes, breiiges Hä!, das man auf alle möglic'hen
Arten deuten konnte. Klerker, zerstreut, schloß.
ohne es zu nierken, die Tür so rasch, daß die Jacke
des Vagabunden eingeklemnit wurde. Aus der
Kamtncr ertönten fiirchterliche Schimpforte, bis die
Sache in Ordnung gebracht war.

Klerker starrte auf dcn braunen Lappen, der
langsam aus der Ritze verschwand. Dann ergriff
er die Lampe, um das Zimmer zu verlassen. In dem
Augenblick. als das Licht verschwand, begann der
Vagabiuid drinnen zu schreien: „Hilfe!“ und:
„Mach auf, du Höllenhund!“ Dann deutete er noch
an, daß er in eine Falle geraten sei. und daß nun
die Polizei kommen werde. Qleichzeitig bearbei-
tete er die Tiir mit den Fäusten, daß die Füllung
krachte.

Klerker stand mit der Lampe in der Hand da
und bewegte sie vorwärts, als wollte er init ihr
gegen den Lärm angehen. „Na! Na!“ sagte er
besänftigend. „Na!" Dann verließ er das Zimmer.
Es war erst zehn Uhr, und vor zwei Uhr legte er
sich nie schlafen. Er ging in das Eckzimmer. Auf
dem SofaTisch lag Schopenhauers „Parerga“. Ein
farbiges, geflochtenes Buchzeichen steckte zwi-
schen den Seiten 416 und 417, soweit war Klerker
in der letzten Nacht gekommen. Seitdem er sich
vor zwei Jahren von seinem Qeschäft zuriickge-
zogen hatte, las er solche Werke, weniger um sei-
nen Qeist auszubilden, sondern weil es ihm Ver-
gniigen bereitete. Namentlich Henry Qeorges und
Renans philosophische Werke lieferten seiner ord-
nenden Qedankenwirksamkeit guten Stoff. Sy-
steme interessierten ihn, ohne seine persönlichen
Ueberzeugungen zu verändern. „Die Philosophie,“
sagte er, „gleicht einer Registrierkasse. Man legt
einen Betrag in den Behälter, dreht eine Kurbel,
und sofort springt ein Plättchen mit der-numeri-
schen Bezeichnung aus der Weltordnung hervor.“
Schopenhauer erschien ihrn übrigens recht verwor-
ren, aber er las ihn, weil er ihm kein Unrecht zu-

fügen wollte, indem er ihn iiberging. Der leiden-
schaftliche Pessimismus des großen Philosophen
kam ilirn absurd und verwunderüch vor. Er schlief
an diesem Abend iiber seiner Lektüre ein.

AIs Klerker am nächsten Morgen ins Eßzitnmer
kam, war die vierzehnjährige Therese in größter
Eile damit beschäftigt, den Fußboden aufzuwi-
schen. Sic erhob sich ganz außer Atem, schlug
die Haarsträhnen aus dem Qesicht zurück und flü-
sterte: „Der Mann schläft rioch“. Klerker ging
deshalb außen um das Haus herum und guckte
durch das kleine Fenster der Nebenkammer hin-
ein. Ueber der hohen Seitenlehne des Sofas be-
merktc er den einen Fuß des Heimatlosen; eine ge-
waltige, flache Wandersohle ragte in die Luft, glatt
geschliffen vom Traben auf allen Wegen der Welt,
am Rand rauh und aufgerissen von Scherben und
Nägeln. Da, wo das Leder geplatzt war, starrte
eine große hellrote Zehe hervor — als wollte der
ungeschlachte, riesige Körper mit Gewalt durch
die geborstene Kulturhülle ins Freie. Auch an den
Knien und Ellbogen wuchs die Haut heraus und be-
gegnete der offenen, weiten, nackten Natur, in der
ein Vagabund zu Hause ist. Jetzt aber fuhr der
Mann mit einem Ruck empor, genau so, wie er sich
aus einem Graben oder Heuschober aufrichten
mochte, wenn auf dem Weg Schritte ertönten. Und
nun stand er da, die Nase gegen die Scheibe ge-
preßt, die Fäuste geballt: bereit, sich zu verteidi-
gen und bückte Klerker zornig, erstaunt und lau-
ernd in die Augen.

Fortsetziing folgt

Einzige autorisierte Uebersetzung aus dem Dänischen vo«
HBRMANN KIY

Doktrinäre und Lehr-
meister der Kunst

Von Lothar von Kunowski

Vor zwanzig Jahren disputierte ich als junger
Mann mit Künstlern und Literaten in einem Mün-
chener Cafe. Alle waren der Meinung, daß ein
rechter Künstler ausschließlich mit Kohle und Oel
arbeiten dürfe. Ich erwähnte die Feder, den Rötel,
den Pinsel für Zeichnung. Man lachte mich aus.
Die ganze Gesellschaft machte mich mundtot. Da-
mals saß ein künftiger Lehrmeister der Kunst Dok-
trinären gegenüber, die jetzt wesentliche Stützen
der „Moderne“ in Berlin sind. Was inan in den
Anfängen ist, bleibt rnan sein Lebeii lang.

Es war die schlimmste Zeit deutscher Kunst.
Die heutige Jugend ahnt gar nicht mehr, was wir
durchgemacht haben. Jetzt sind zwanzig Lebens-
möglichkeiten für eine geboten, die damals
fiir die rechte, schlechte, gute Kunst erklärt
wurde. Es gab nur Oelfarbe, Kohle, Staffelei-
bilder. Moderne Illustrationen, Plakate, Kunstge-
werbe, Raumkunst, Bilder, die mehr ais Augenpho-
tographie sein wollen, waren noch unbekannt.

Aber die Doktrinäre von damals sind nicht
ausgestorben. Bilder, die ihnen nicht passen, nen-
nen sie .kunstgewerbüch oder Plakate oder Pro-
dukte des Verstandes, des Gedankens, des Nach-
denkens. Denn mit dem Evangeüum „Kohle und
Oel“ wurde die Doktrin verbuuden: der Maler
muß dumm sein. Stumpfsinnig sitze er im Ateiier
und male vor sich hin. Darüber verhungerten tau-
send deutsche Maler. Das Ausland vernichtete die
deutsche Ausfuhr.

Einstmals verband der Griffel in winzigen An-
deutungen alle Künste. Maler, Bildhauer, Archi-
tekten telegraphierten sich ihre Anschauungen in
rhythmischen Zeichnungen. Qebildete Laien ver-

686
 
Annotationen