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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 59 (April 1911)
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Walden, Herwarth: Gelesenes und Erlebtes: Glaube und Heimat
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Walden, Herwarth: Offener Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0028

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Der Verleger Schönherrs legt einen Prospekt über
einen nur druch den Bauernfeldpreis ausgezeichneten
Roman „Die Glocken der Heimat“ bei, dem Natürlich-
keit, Gradheit, Klarheit und eine bedeutsame Erweiterung
des Begriffs Heimatkunst nachgerühmt wird und der
brausende Erotik und deutsche Choräle in sich ver-
einigt. Ich werde das Buch nicht lesen, weil Peter
Rosegger behauptet, es sei ein ragendes Zeichen der
Zeit und mehr als ein Buch. Ich begnüge mich mit
Büchern. Nur keine Zeichen der Zeit!

Zeichen der Zeit

Die ganze Presse ist ausser sich vor Vergnügen
über das in Nummer 55 dieser Wochenschrift veröffent-
lichte Gedicht „Dämmerung“ von Alfred Lichtenstein.
Die meisten begnügen sich, es mit dem esprithaften
Zusatz: „Wirklich dämmerhaft, nicht?“ wörtlich abzu-
drucken. Was dem Autor reichliche Honorare bringen
wird Wie man dichten muss, zeigt der Generalan-
zeiger für Elberfeld-Barmen. Er veröffentlicht sozu-
sagen als Gegenbeispiel ein überaus herziges Gedicht,
dessen erste Strophe die Leser des Sturms durch seine
Morgenstimmung für die Dämmerung entschädigen mag.

Es sprang der Frühling ins Land herein . . .

Es sprang der Frühling ins Land herein
Mit lautem Juchhei! und Frohlocken,

Und durch den Jubel zitterten fein
Schneeglöckchens silberne Glocken.

Die schäumenden Bäche rauschten zu Tal;

Herr Starmatz war guter Dinge.

Und in dem funkelnden Sonnenstrahl
Tanzten die Schmetterlinge!

Schon sah man im leuchtenden Spitzenkleid

Den Kirschbaum im Wiesengrund prangen--

Du sonnige, wonnige Frühlingszeit:

In deiner strahlenden Herrlichkeit
Kommt singend das Glück gegangen —

Kommt singend das Glück gegangen!

Der Erfurter Allgemeine Anzeiger stellt fest, dass
Herr Alfred Lichtenstein höllisch ernst genommen werden
will. Ich weiss nicht, ob sein Ehrgeiz sich auch auf
Erfurt erstreckt. Endlich sei zu diesem Kapitel noch
bemerkt, dass die Frankfurter Zeitung den oben zittierten
esprithaften Zusatz der „Wahrheit“ des Herrn Bruhn
nachdruckt.

Die literarische „Wahrheit“

Man sollte Herrn Jacobsohn zusammen mit Herrn
Bruhn blau schlagen. Herr Jacobsohn gibt in Berlin
ein kleines Theaterblättchen heraus, das sich mit der
„Verwissenschaftlichung des Tinterltums beschäftigt und
dessen Notizenteil eine gute Handhabe bietet, sich je-
weils über den Stand des psychologischen Schmocktums
in Deutschland zu informieren.“ So charakterisiert
Karl Kraus einfach und würdig die Tätigkeit des
Herrn Jacobsohn. Kein Wunder, dass dieser
Grieche sich herostratisch fühlt, vor der Tat aber
zurückschreckt und Herrn Wittels aus Wien als
starken Mann vorschickt Die Arbeiten des Herrn
Wittels sind, so weit sie nicht wörtlich denen des Karl
Kraus entnommen sind (Knockabout) so trostlos, dass
jeder Witz versagen muss. Der Arzt Wittels kann nur
noch medizinisch behandelt werden. Um der
„Wahrheit“ die Ehre zu geben, lässt sich ferner Herr
Jacobsohn von einem gewissen Harry Kahn eine
Schmähschrift über Alfred Kerr schreiben. Der Herr
Kahn bildet sich ein, den Kerrschen Stil zu treffen, in-
dem er dem eigenen breiigen Quatsch willkürlich zahl-
lose Interpunktionen hinzütut. Es wäre unbillig, den
Sturm gegen einen Kahn loszulassen. Wer so steuer-
los ist, geht selbstätig unter. Nur das bekannte
deutsche Montagsblättchen ist entzückt. Es versucht
den Untergang des Kahns aufzuhalten, in dem es aus
seiner Pfütze munter gegen Kerr spritzt. „Wir machen
in folgendem unsere Leser mit Herrn Alfred Kerr be-
kannt. Herr Kerr ist seit Jahren bemüht, als berliner
Theaterkritiker durch seine Stilverrenkungen Aufsehn
zu erregen. Was diese bisher nicht vermochten, hat
nun der grosse Bluff zu Stande gebracht.“ Diese
Lüge wagt das Montagsblättchen drucken zu lassen.
Anonym natürlich. So dreiet diese Sätze zu unter-
schreiben, ist niemand. Herr Jacobsohn ist auch der
Theaterkritiker des Montagsspektakels. Die Wahrheit
färbt ab. Auch die „Grosse Glocke“ hat ihre „litera-
rische“ Nachahmung gefunden

Der Prozess

Herr Justizrat Hoffstaedt, Schwager und Rechtsbei-

stand des Inhabers der Firma Egon Fleischel & Co.,
fühlte sich durch den Beitrag DerKlüngel in
Nummer 37 dieser Wochenschrift beleidigt. Ich nannte
ihn dort einen dreisten Juristen und wurde deshalb
vor Gericht freigesprochen. Zu einer Geldstrafe von
zwanzig Mark wurde ich wegen eines Briefes an den-
selben Mann verurteilt, in dem ich ihm vorwarf, etwas
wider besseres Wissen behauptet zu haben. Das Ge-
richt sah in diesen Worten eine formale Beleidigung.

Gegen die Verurteilung habe ich Berufung einge-
legt. Nach ihrer Erledigung werde ich mich über den
Fall selbst äussern.

Trust

Offener Brief

Sehr geehrter Herr Schmied!

Sie wünschen meine Ansicht über Ihre Bücher
kennen zu lernen. Sie „hassen“ mich seit Jahren, wie
Sie mir versichern, weil ich ihre Kinder gemordet habe.
Weil ich den Knaben Carlos und Nikolas, den Helden
Ihrer Bücher Iieblos gegenüberstehe. lch habe Ihr
erstes Buch „Carlos und Nikolas Kinderjahre in Argen-
tinien“ ein zweites Mal jetzt. gelesen, ich habe Ihr
Buch „Carlos und Nikoias auf dem Meere“ ein erstes
und zweites Mal gelesen und — so leid es mir tut —
ich kann mich nicht zu Ihren Büchern bekennen. Wohl
aber zu Ihnen. Wir haben uns ausgesprochen, wie
man das so nennt. Und ich gewann den festen E(n-
druck, dass Sie eine Persönlichkeit sind, das
heisst ein Mensch, der aus sich und in sich gegründet
ist. Aber Sie haben nicht Wurzel fassen können in
Ihren Büchern Sie haben mir Episoden Ihres zweiten
Buches erzählt, die mir imponierten und die zweifel-
los in Ihrer Erzählung einen künstlerischen Wert be-
sassen. Ich suchte sie mit Spannung in Ihrem zweiten
Buch, Sie schrieben sie nicht auf. Oder besser ge-
sagt: sie sind nur stofflich, embryonal vorhanden.
Das Wichtige, Entscheidende: das Künstlerische fehlt.
Was Sie in der Erzählung mit geradezu grandioser
Plastik und dichterischer Kraft gaben, ist spurlos ver-
schwunden. Wenn ich w i 11, kann ich mir natürlich
fhr Gewolltes rekonstruieren. Als Künstler sind Sie
gezwungen, den Leser zu sich zu zwingeri. Was ist
das für eine Kunst, die auf den guten Willen des
Lesers angewiesen bleibt, was ist das für ein Leser,
der zu einer Wirkung auf ihn selbst Sie erst persön-
Iich bemühen muss. Sie sind ein vornehmer Mensch.
Sie hassen das „Offenbaren“, Sie wollen nicht unter-
streichen, sagen Sie. Aber Kunst bleibt nun einmal
eine Sache des Unterstreichens, des Betonens, der
Prostitution der Persönlichkeit. Hier gibt es nur eine
Methode der Vornehmheii: nichts zu veröffentlichen.
Das Künstlerische liegt nicht nur im sogenannten
Produzieren, es liegt nicht im Werk, wenn es nicht im
Menschen ist. Da Sie aber, wie die Bücher beweisen,
das Bedürfnis zur Offenbaruug fühlen, so habe ich das
Recht, in Ihren Werken das zu suchen und zu finden,
was Sie als Mensch geben. Ihre anderen Freunde
sind in Kunstdingen offenbar loyaler als ich. Ich habe
mich nie, weder für mich noch für andere, mit dem
Willen begnügt. Kunst muss gekonnt sein.

Dennoch: Sie sind ein Mensch, von dem ich

Künstlerisches erwarte. Die Knaben Carlos und Nikolas
werden älter, vielleicht kann ich den Männern Carlos
und Nikolas die künstierische Anerkennung ent-
gegenbringen, die ich als kunstwahrer Mensch den
Knaben versagen muss. Ich hoffe es, und Sie können
versichert sein, dass es mich herzlich freuen würde.

Ihr

H. W.

Rudolf Johannes Schmied: Carlos und Nikolas Kinderjahre in
Argentinien/Carlos und Nikolas auf dem Meere. Verlag Erich Reiss
Berlin W.

Warum?

Von Quintus Fixlein

Ich bin in ihren Augen ein Nichtstuer, der sich
das Recht, sich frei bewegen zu dürfen, ohne Berech-
tigung angemasst hat. Gott mag wissen, ob sie eia
Recht haben, mich so hart zu verurteilen und den
Saft ihres Kautabaks so verächtlich hinter mir herzu-
spritzen, wenn ich bescheiden an der Baustelle vor-
übergehe, auf der sie zuweilen gewiss recht hart ar-
beiten müssen.

Aber sie sollten es sich doch nicht so heftig an-
kommen lassen.

Da ist zum Beispiel der baumstarke Maurer mit
einem Gesicht, das prall und rot wie ein Winterapfel
leuchtet. Er spukt nicht aus, wenn ich vorübergehe.
Nein, so weit geht er nicht. Aber ich sehe seinen
herausfordernden Augen mit den hochgezogenen Brauen
an, dass er mit mir fertig ist. Und um den Mund
hat er einen Zug, der mir beweist, dass er mich nicht
eigentlich nur verachtet. Dass er mich eher fast be-
mitleidet.

Und ich gehe mit zusammengezogenen Schultern
an ihnen vorbei Eine heisse Röte kriecht um meine
Schläfen. Immer erfüllt mich nur dieser eine Gedanke:
wie ich ihnen helfen könnte — ich, der schwächliche
Mensch mit den schlaffen Mtiskeln und dem blutleeren
Gesicht, diesen Riesen mit den prallen Gesichtern, die
wie Winteräpfel glänzen.

Ob sie es ahnen und mich aus diesem Grunde
verhöhnen? Das wäre doch ein Grund, um dessen
willen man zu ihnen treten und sie mit diesen Worte«
ansprechen möchte: „Recht so, meine Brüder! Ihr
seid Männer mit Muskeln und Fäusten — ich aber
bin ein Narr und hochmütiger Tropf, nicht wert, dass
ihr mit euren schweren Holzpantinen nach mir werft.
Nicht wert eures harten herausfordernden Gelächters.“

Aber das ist es nicht, ich fühle es. Warum hassen
sie mich also ?

Einmal, es war an einem klaren hellen Vormittag,
dessen ich mich noch heute wie eines warmen Frauen-
lächelns erinnere, stand der Riese mit dem Apfelgesicht
rauchend vor der Bauhütte, als ich vorüberging.

Ich ging in Gedanken und achtete nicht auf den
Weg. Ich hatte etwas Schönes geträumt und als ich
erwacht war, hatte sich die Sonne in einer breiten
leuchtenden Staubsäule durch den Spalt des halbge-
öffneten Fensters auf meine Bettdecke ergossen. Das
hatte mich so froh gemacht, das ich, um nun auch
gleich ein freudiges Gesicht zu sehen, dem Briefträger
meine letzte Mark schenken musste. Und dann , war
ich schnell fortgegangen, immer dieses helle Bild in
meiner Seele und ein feines Klingen in allen meinen
Adern und Nerven. So glücklich hatte mich die Sonne
gemacht.

Als ich an der Baustelle vorüber kam, hustete
jemand so iaut, dass ich zusammenschrak und empor
sah. Der Riese mit dem Apfelgesicht sah mich mit
einem Blick an, der meine Freude zu Eis erstarrte.
Ich errötete und blieb einen Augenblick hilflos stehen.

Im Weitergehen hörte ich sein kurzes trockenes
Gelächter hinter mir. .

Ich fühlte eine schwere Traurigkeit und ich grübelte;
Was habe ich getan? Welche Geheimnisse birgt dieses
Leben! Warum hassen mich diese Menschen?

Notiz

Die Nummer 58 der Wochenschrift DER STURM.
wurde wleder einmal auf den Berliner Bahnhöfen nicht
zum Verkauf gestellt: wegen des „nicht geeigneten“
Bildes, wie uns mitgeteilt wurde. Die Nummer ist
durch die Kioske und direkt durch den Verlag zu be-
ziehen. Verlag DER STURM

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich-Ungarn
V. I.: Oskar Kokoschka

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