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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 83 (Oktober 1911)
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Weese, Artur: Hodler und die Eurythmie
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Ssollogub, Fjodor: Der Knabe und die Birke
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0219

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Ordnung fast dnrchgängig der eine Fal! dev Eu-
rhythmie befolgt.

Eurhythmie ist Geschlossenheit einer Ordnung
auf eine Mitte hin. Sie ist Ergänzung der Sym-
metrie, sie begreift die Proportionalität in sich.
Aber vor allem ist sie Zentrierung der Beziehun-
gen auf eine Mitte hin, so daß ein Einschluß der
Ordnung nach innen itnd ihr Abschluß nach
außen die Folge ist.

Diese Beziehung zur Mitte ist von Hodler
durchgefiihrt, indetn er die Figuren kreisförmig
um einen Mittelpunkt stellt; wo jedoch eine paral-
lele Nebeneinanderstellung der Figuren vorge-
zogen wurde, ist die mittelste entweder höher
oder tiefer gestellt oder durch größere Intervaile
ein wenig isoliert. Um eine gleichsam zahlenmä-
ßige. eurhythmische Ordnung zu erhalten und im
Orundriß schon die Qeschlossenheit um eine Mitte
Zu fixieren, wählt er gern eine Fünfzahl von Fi-
guren, so daß zwei Qruppen zu zwei beiderseitig
neben eine einzelne zu stehen kommen.

Die Eurhythmie wächst gleichsam von selbst
aus der linearen Struktur heraus, die die Figu-
ren beherrscht und in der kompositioneüen Plan-
disposition waltet.

Sie ist die harmonische Zusammenfassung der
gleichartig wiederholten Einzelmotive in einer ge-
ordneten Gruppe. Sie ist eine Konsequenz des
Parallelistnus. Sie dient der Idee, die dargestellt
wird, indem durch diese rhythmische Ordnung
jedes Einzelglied nur durch seine Beziehung zum
Ganzen seine Bedeutung erhält. Sie ist das Ge-
gengewicht gegen die Willkür und die überragende
Wichtigkeit des Individualismus. Sie löst das
Interesse für das Glück und das Elend persön-
lichen Schicksales auf und lenkt den Sinn auf die
Macht und Harmonie der Weltordnung'. Sie mil-
ilert die Pein, die uns die Nähe und unmittelbare
Üegenwart der Tragik des Einzelnen erweckt, und
flößt die beruhigende Erkenntnis ein; daß auch
das Weh und die Klage des tiefsten Schmerzes
nur ein Ton ist in dem Schmerzenslied, das das
All durchzittert. Sie verstärkt die Grundtendenz
des Künstlers, nur den Gedanken, den Begriff,
das allgemeine Schicksal, die ewige Wiederkehr
des immer gleichen Einzelfalles darzustellen. Und
wie er nicht das Erlebnis des Individuums be-
achtet, sondern nur das Gesetz, die Ordnung der
Dinge, die Notwendigkeit des Geschehens, so ist
auch seine Darstellung von diesen Notwendigkeits-
werten zu einem Ganzen zusammengeschiossen.
Diese Geschlossenheit tind Notwendigkeitsbe-
ziehung aller Teile zum Ganzen ist - die Eu-
rhythmie.

Dieses Prinzip eurhythmischer Gliederung hat
Ferdinand Hodler den iiberraschenden Erfolg ein-
getragen, daß er. ein historisches Getnälde, also
eine mit allen Bannflüchen der Kritik verstoßene
Bildgattung wieder zu Ehren bringen konnte. Er
hat das erste historische Bild großen Stils ge-
schaffen, daß im modernen Sinne eitie vollkom-
mene neue Lösung ist und kiinstlerische Quali-
täten besitzt, die es weit über den Stoff, ja sogar
über die Aufgabe hinatisheben. Das Gemälde, das
den Auszug der preußischen Freischaren in den
Befreiungskrieg von 1813 darstellt, detn Platz
nach, für den es bestimmt ist — fiir die Treppen-
haile in der Universität Jena — ein Wandbild
iiberlebensgroßen Formates, und dent stilistischen
Anspruch der Darstellung nach ein Momtmental-
gemälde feierücher Art und patriotischen Appel-
les, wie jede Glorifikation, ist dem Motiv nach
nichts als ein Episodenbild epischen Charakters.

Aber diese Episode steht da als eine Szene
für hunderte, die sich ebenso abgespielt haben.
„Der Aufruf an sein Volk“ ist vom König von
Preußen erlassen worden. Da leistet ihm alles
kampfesfreudig und begeistert Folge. Voran die
Studenten. Sie fahren eilig in die Waffenröcke,
sie schwingen den Tornister auf den Rücken, sie
steigen in den Sattel, sie jauchzen und lassen die

Säbel klirren, die unruhigen Rosse schäunten und
steigern die Kasernenunrtthe vor dem Abmarsch.
Aber schon sind die Bataillone fonniert. Sie sind
ini Marsch. Die Erde erdröhnt unter dent ehernen
Schritt und Tritt dieser Heere, die auf Paris los-
tnarschieren und nicht aufzuhalten sein werden,
bis sie unter dem Arc de Triomphe in der Haupt-
stadt des Erzfeindes einziehen. Welcher Rhyth-
mus, welch gewaltiger Zug, welch ungeheure
Masse, wenn auch das Auge 'nur einen Bruchteil
der langgestreckten Kolonne erblickt. Alles ist
aus dem Geist der großen Zeit entstanden.

Und doch ist die Szene keine Episode. Denn
aller genreartigen Wahrscheinlichkeit entkleidet,
ist das Einzelbild ein Simtbild für die große all-
gemeine Evokation, die das ganze Volk ergreift
und zu den Waffen ruft. Jeder dieser Studenten tut
seine Pflicht für sich und sein Volk; im Bilde wird
er zum Helden als Person und als Typus, auch
ohne die heroische Pose und das theatralische Pa-
thos, das solchen Bildern sonst vorbehalten ist.

Ob es nicht die stärkste Probe war, die Hodler
bestand, als er den kriegerischen Ruhm eines
fremden Volkes zu feiern unternahm? Eine Probe,
bei der die Ausdruckskraft seiner Phantasie und
die objektive Treffsicherheit seiner künstlerischen
Geschichtsauffassung sich zu bewähren hatten.
Hat nicht einer der großen italienischen Meister
dasselbe Motiv fiir ein Bild historischen Stiles auch
benutzt, das Trompetensignal, das die badenden
Soldaten zu den Waffen ruft? In der Hand des
Künstlers wird auch das Kleine groß und bedeu-
tend, weil er in ihm unzählige Strahlen des großen
Lichtes zusammenfaßt, das die Welt durchflutet.

Artur W e e s e veröffentlichte ein Buch über Ferdinand
Hodler, das im Veriag von A. Francke, Bern erschienen
jst. Die Zeichnung von Hodler wird mit Erlaubnis des
Verlags wiedergegeben.

Der Knabe und die Birke

Von Fjodor Ssollogub

„Mein Üebes, weißes Birkchen,“ flüsterte
er. Liebevoll sieht er die kleine Birke an. Er sitzt
auf der Bank in seinem Garten, ein kleiner, ntage-
rer, blasser Junge in einer hellen Kattunbluse. Er
sitzt eiri wenig gebückt. Seine Hände, die etwas
verbrannt sind, hält er auf den Knien. Dort schla-
fen sie.

Ganz leise kommt sie von hinten heran und
lacht plötziich attf, heü und kiingend. Das Lachen
zieht sich über ihr purpurrotes Gesicht und spiegelt
sich in ihren braunen Augen. Sie setzt sich auf
die Bank neben den Bruder.

„Dtt liebkosest mit deinen Blicken die Birke
und träumst von Liubotschka. Du bist dumm, Se-
rescha; sie hat einen Bräutigam.“

Unsicher und verwirrt sieht Serescha die
Schwester an, als ob er sie hörte, aber niclit ganz
fhre Worte versteht. Er seufzt gezogen:

„Du hast auch Einfälle! Was geht mich deine
Liubka an! Die sollte mich gerade interessieren;
sie ist ungefähr dreimal so schön wie der graziö-
seste aller Sumpffrösche.

„Pfui, Dummkopf,“ lacht das Mädchen, „darf
ntan so von jungen Damen reden?“

Seröscha sieht sie ruhig an: „So wenig du tnich
verstehst, so gut hast dit das Schimpfen gelernt!
Wenn dtt noch einmal Dummkopf zu mir sagst,
tauch ich die wieder ins Wasser,“

„Das wollen wir erst sehen, wer getaucht
wird.“ Sina ist ärgerüch oder stellt sich doch so.
Sie steht auf, schleudert die Zöpfe zurück, wirft
nachlässig über die Schulter: „Ich will mit dir über-
haupt nicht reden!“

Kaum hört man noch das janttnernde Knirschen
der Sandkörner unter den kleinen Absätzen. Ser6-

scha schmiegt sich an die Birke und küßt ihre feine,
weiße Rinde. Ein Zittern rieselt durch den schlan-
ken Stamm des Baumes; die fröhüchen, unschul-
digen Blätter untrauschen den Knaben mit süßem
Duft. Leise streichelt der Knabe die Birke und
drängt seine Wange an ihre zarte Haut.

O Nacht des Nordens! Die jungen Datnen
sitzen itn Garten und lachen. Das Kiingen ihrer
Stimmen stört Serescha. Er geht auf seine Kam-
mer, setzt sich ans Fenster und blickt in den selt-
sam gefärbten Himmel, den er üebt. Er wartet,
die jungen Damen werden schon gehen.

Endlich! Nun ist es still. Der Knabe eilt in
den Garten zttr Birke. Das Landhaus steht hoch am
Ufer. Unten rauscht der Fluß iiber Geröll. Un-
aufhörüch rauscht er.

Ein feines, birkenschlankes Nixchen steigt her-
auf. Die zarte Birke erschauert leicht. Es flüstern
ihre süß duftenden Blätter. Hinter den Sträuchern
steigt die Nixe herauf: Komnt doch her, mit mir ist
es lustiger. Die da ist stumm; ich werde dir viele
Märchen erzählen.“

„Geh fort,“ ärgerte sich Serescha, „deine Mär-
chen können mich nicht locken.“

„Hast du schon Hauffs Märchen gelesen?“
„Nein!“

„Und Alfanaßjett kennst du auch nicht?“
„Siehst du! Geh fort!“

Und sie lacht hell, glasdiinn. Im Uferschilf

fliistert es. Kein Lachen und kein Weinen.-

Der Knabe kommt jeden Tag. Nocli steht das
Gras grün und frisch. Aber schon eilt der heiße
Sommer herbei. Man mttß etwas tun, ehe die
Blätter alt werden.

Serescha iegt sich auf die Bank unter der
Birke; sie neigt sich über ihn, sie flüstert itn Winde
und schaukelt sich freudig und schmachtend.

Hier findet ihn die Base Lisa. Sie ist sehr schön
mit ihren schwarzen Augen und ihren schwarzen
Haaren. Sie ist erst vor kurzem Witwe gewor-
den, aber schon genau so lustig wie intmer. Sie
setzt sich dic'nt neben Serescha. Sie riecht nacb
starkem Parfüm und neckt Serescha. Das tut sie
gern.

„Sereschenka,“ schmeichelt sie üebevoll, dabei
hat sie tückische Worte im Kopfe.

„Nun, was willst du denn?“. Serescha ahnt
schon ihre böse Absicht. Wann käme sie auch in
guter?

„Mein Lieber, du liegst da, kannst du nicht
aufstehen?“

„Was denn?“ antwortet Serescha gereizt.

„Du liegst unter der Birke und träumst von
Liubotka. Wirst du nicht zu ihr gehen?“
„Unsinn,“ brummt Serescha.

„Vielleicht tut dir dein Leib weh?“ fragt Lisa
und Iacht leise.

Serescha schweigt.

„Du hast dir wohl an Liubotschkas Pomade
den Magen verdorben?“ und zärtlich streicht sie
sein Haar.

„Was für Dummheiten!“ schimpft Serescha.
„Liubotschka hat keine Pomade!"

„Woher weißt du denn das?“ lacht Lisa. „Hast
dtt in ihren Sachen gewühlt? Hast du dir ein Bänd-
chen als Andenken mitgenommen? Wo ist es?“
Sie steckt die Hand in Sereschas Tasche.
„Trägst du es nicht bei dir?!“

Serescha springt auf und läuft fort. Er dreht
sich um und ruft von weitem: „Eine sehr freche
Witwe!“

Lisa lacht und geht zu deit Großen zurück, die
ebenso wie sie vergessen haben, daß sie als Kinder
zarter empfanden. Lisa hat die kleine Zerstreu-
ung schon vergessen, aber Serescha muß den
ganzen Tag an Liubkas Pomade denken. Er
fühlt einen schlechten Geschmack iin Munde, wie
wenn er sich wirklich mit der nicht vorhandenen
Pomade den Magen verdorben hat. Es ist wieder-
um Nacht. Alle Bätime im Garten sind still ge-
worden.

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