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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 102 (März 1912)
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Kunowski, Lothar: Der Aether der Schönheit
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Zech, Paul: Streikbrecher
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [5]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0374

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mehr von der Natur gertommen, nicht täglich ge-
sammelt, geordnet, geerntet hat nach der Weise
des Landmannes.

In dem, was ihm vorschwebt, ist ailes im
Keime gegeben: Zeichnung, Plastik, Malerei, Bau-
kunst, Physik, Mechanik, Mathematik. Wer wird
ihm sagen, was und wo und wie er auf leerer
Fläche nicht größer als ein Handteller auch nur
irgend etwas von dem. was er schaut 7.u irgend
weichen Zwecken festhalten kann, etwa um ein
Kind 7.U begiücken? So wie die Wissenschaft, die
das Wunder in Geist und Natur nicht kennt, auf
ExaktJieit keinen Anspruch machen kann, würde
eine Kunstlebre unwissenschaftlich zu nennen sein,
wenn s'e nicht leneti Zustand des ersten Einklangs
zwischen Geist und Natur, dessen wir nns im
Jfinglingsaiter bewußt werden, offenbar nachdetn
ein Zwiespait zwischen beiden uns quälte, ausdrück-
lich hervorhebe, jenen Zustand, in dem wir aus-
rnfen: „Heutexsehe ich zum erstenmal die Schön-
heit der Natur mit dem Bewußtsein sie verlieren,
aber atlch wiedergewinnen zu können. Heute lebt
mein Oeist in der Natur und die Natur in meinem
Oeist, heute bin ich Künstler, werde ich es mor-
gen sern? „Dies ist der Wiederanblick des ver-
lorenen Paradieses, der Kindheit. das viele nic
wfedersehen. Laßt uns forschen, wie es sich
stets neu erobern läßt, wie der mit Blindheit ge-
schlagene sich sehend machen kann. Wir alle
sind sehend blind und doch könnten wir täglich
jene Wonne spiiren, die uns in seltenen Augen-
blicken auf Wanderungen vor Sonnenuntergängen
fiberkommt und jeden Qedenstand derart verklärt,
daß wir die Sprache der Nelken, Malven, Tuber-
rosen zu verstehen glauben und plötzlich eane
Lebensfülie um tins sehen, die fast grauenvoll ist,
wenn wir bedenken, daß wir monate- und jahre-
lang nichts davon bemerkten, wiewohl das Leben
gegenwärtig war.

Ich zweifle nicht, daß Schopenhauer diesen
Zustand mit den Worten „reiner Anschauung“
memte. Während aber er durch reine Anschau-
nng der Natur sich vorbereitet, seine Seele
in „Nichts“ aufzulösen, fühle ich die meine
sich daraus gesättigt mit den Willensmäcli-
ten der Natur zur Tat doppelt stark er-
heben. Und so geht es jedem Kiinstler, der zur
Darstellung seiner Anschauungen schreitet, sich
zn höherern Leben Bahn brechen will, das heißt,
zu den Herzen der Menschheit, mit denen er in
derselben geistigen Atmosphäre, im Aether der
Schönheit leben möchte. Der praktische Ideallis-
mus strebt nach Umgestaltung der Welt nach dem
Bilde des Künstlers. Er wili, daß Stadt. Haus,
Zimmer, Oarten, Feld, Watd, Aue r.öch geistiger
erscheinen, noch leichter Teil unserer Vorstellungs-
welt werden, ja daß das Wahrnehtnungsbild der
Umgebung mit den reinsten Erzeugnissen der
Phantasie übereinstimme, also durch und durch
geistig sei. Dies anzustreben ist nicht das Un-
mögliche, sondern das allein Mögliche und Prak-
tische, weil dieses Streben eben das Leben selbst
ist. Leben heißt die Natur geistig ttnd den Geist
natiirlich machen.

Streikbrecher

Der Trupp weithergereister Frohngestalten
schwankt durch das Dorf wie eine Trauer-

prozession.

Die Ausgesperrten trommeln Rebellion
mit Fäusten, schwieligen und wutgebailten.

Ein Blöder, der am Wegrand tnüßig lungert,
streckt seine Zunge giftig aus dem Mund
und stiirzt sich auf die Fremden wie ein Hund,
der gierig nach gestrafften Waden hungert.

Ffuchschauer hagetn aus haiboffnen Tiireti.
Sergeanten, die den Zug hinüber führen,
reißen die Säbel wie zum Hieb empor.

Da gähnt, rot wie ein Schlund, das Orubentor.
Und zwei zu zwein, die Stirnen kraus von

Ealten,

schwanken hinein die neuen Erohngestalten.

PsmiI Zecb

m

Der sehwarze Vorhang

Roman

Von Alfred Döbiin

Portsetztme

StiJl zog er sich, wohin er auch kam, vor den
Erauen zurück. Von dem ehrfurchtsvoilen Ein-
druck, den die fremden, zarten auf ihn öbten, hatten
ste, als er ihr Wesen nun kennen gelemt hatte.
nichts eingebüßt; Ln seine Scheu war Eurcht ge-
kommen und manchmal Haß und fngrimtn. Alie
unbewußte Heiterkeit verdarb ihm die Oegen-
wart seiner geborenen Feinde. Schwer, finster und
einsam wie Musik machten sie ihn; wenn er auch
die Aügen vor ihnen schloß, so fühite er durch die
Haut ihre Qegenwart, durch die Fingerspitzen, die
Haut der Arme und der Brust; ia hinter die ver-
schlossenen Augen gaukeiten sie ein, bis sie wieder
in der unausgegfichenen Seele die Schrecknisse und
übermächtigen hohläugigen Traurigkeiten herauf-
hoben und einen verstockten Drang zu Ränken
und bösem Streit in dem Gequälten erregten.

Um sie zu vergessen, fiüchtete er zu seinem
neuen Freunde, einem schlankgewachsenen blon-
den Knaben, mit offenctn frischen Gesicht, — dem
er sich zugewandt hatte, um immer eine klare helle
Stimme zu hören und einen schönen, aber männli«
chen Mund zu sehen. Wenn sie sich ansahen, so
flog aber jetzt etwas seltsamiblickendes in beider
Blick. Johannes wandte unwillkürlich und schnell
deti Kopf. Wenn sie lachten, so lag auch ein ver-
schwiegener Zug in dem Schwunge ihrer Lippen;
keiner sagte davon, aber sie wußteri vort einander.
wenn sie sich prüfend rasch in die schimmernden
Augen sahen. Ein unausgesprochenes begann sich
ihrer zu bemächtigen, zügleich eine Scham. Der
zufällige Blick ließ beide erröten wie ertappt. Jo-
hannes, wie ein Vogel gebannt vom Schlangen-
blick, stränbte ttnd löste sich, ohne es zu wissen.

Aber wenn sich in dem gequälten und schlaff
niedergedrückten das Bild seiner zarten Peinige-
rinnen wieder erneute, so fühlte er von den war-
men Oliedern des Freundes etwas auf sich aus-
gehen, das ihn abhielt sich zu regen und zu rühren,
etwas, das still in ihm schwoll, bang und süß, doch
mit eigner schmerzlichen Schärfe, das ihn wie ein
Zauber uinfing ttnd dem er nachging. Er öffnete
ihm die feuchten Lippen.

Beim Anblick der jugendlich weichen Glieder
zwitscherte Begierde auf; lockend überkam es ihn.
und er stand in sündigen Träumen. Er floh heftig
seinen Freund, in einer unklaren Furcht unrein zu
werden.

*

Seine Feinde hatten ihn atts seiner selbstfrohen
Ruhe getrieben, von dem Freunde, zu dem er sich
retten wollte, wie aus einem listigen Hinterhait
fortgepeischt. So wurde Johannes immer mehr
zum offenen Kampfe gezwungen. Er wich ihnen
furchtsam und stolz aus; aber es zog ihn wie eine
Bestimmung neben sie. Wie auch jeder milde
Weibesblick in ihm. eine düstere, feierliche Opfer-
flamme entzündete, so hielten ihn die zarten un-
begriffenen Entsetzenspenderinnen fest, daß en
ihren Worten, leicht den ganzen Körper spannend,

in entzückter Qual lauschte, wenngleich er sich
bafd von seinen hängcnden Garten aus verhöhnte.
Ihre klare Oegenwart weckte doch nie seine Be-
gierde; die schwiegen die Verehrung und leise
Furcht nieder, auch die Lust zu unterwerfen, dio
im Hintergrund lauerte und nocb nicht skh an dic
Begierde gekettet hatte.

Sachte fuhr er auf ein Meer von schärfereti
Unruhen hinaus.

Johannes dachte baid nur an die schwehsam
ieichte, bläulich schwarzhaarige, mit den schwar-
zen lächeln-den Puppenaugen, die mit dem sonder-
baren Heidön neugierig und gern spielte und an ihm
ihre Waffen übte.

Ihr niedfiches Bild riß afies an sich, was m
Johannes sich fiir das Weib angesammelt hatte;
um dieses Bild tanzten und ordneten sich aJle seine
Tagesstimmungen; da der gecfankenschwelgerische
ihre Augen vom Morgcn bis zum Abend auf sich
ruhen ffihlte, so mußtc er zu ihrer größeren Ehre
Jeben und sich vergebiich suchen.

Irmtier wieder dachte er von ihr weg, inzwi-
schen fühlte und liebte es nnten weiter und nicht
lange, so war er nur ein einziger stürmischer Oe-
danke an sie, bis sein Stolz auffuhr und alles hin-
unter warf, wo es wieder heraufgährte. In der
Laube saßen sie für einen geraubten AugenWick zu-
sammen und hatten die hellgrünen Weinranken utp
sich herabgezogen und fallen lassen bis herab zur
brannen Erde.

Langsam und leise, aber unbewegten Tons, bat
er: „Sie baben eine schöne nackte Hand, <tie wun-
derheimlich duftet. Oeben Sie mir doch Ihre Hand,
Prinzeß, Prinzeß Schwarzaug von Pralinesia.“ Sie
zog ihre iinke Hand vom Tisch; er griff nach ihr:
„Ich möchte Ihre Hand in schneeige Seide werfen
und drin begraben, daß sie niemand mehr berührt.
Vorher möchte ich aber noch Ihre Knöchei küssen.“

— „Ich bitte, mein Herr.“ — Er hielt ihre Hand fest,
während ihre ernsten Mädchenaugen ihn sChim-
mernd ansahen. Die vollen Lippen schweilten ihr,
über deren Schultern, Brust und Gesicht durch die
Ranken runde gelbe Sonnenstrahlen vibrierten,
gritne Halbschatten unruhig sich bewegten. Ihn
überlief es heiß; mit diesen stummen Blicken hatte
sie ihm einen Liebestrank eingegeben, der seine
Oiieder durchspukte, dessen köstiiche Zärtlichkeit
über seine Nerven hinschwamm. Er vergaß seine
Scheu vor dem Weibiichen, seine Artne legten
sich, als ob sie Gewohntes übten. um ihre Hüften,

— sie hoffte ja schon lange auf diesen Augenblick
und war fast verzweifelt iiber seine Unbehilflich-
keit, — sah ihr in die halbgeschlossenen Augen:
„Was verstecken wir uns voreinander?“ Er küßte
sie auf die Haare, auf den Mund: „Du Süße.“ —
„Du ungeschickter Junge.“ Aber das träumte er
nur, wenn auch so ergriffen, daß ihm Tränen in die
Augen traten. Dann erkrankte sie schwer. Er
wußte keinen Weg zu finden, um zu ihr zu kom-
men, da ließ sie ihn, dem Tode nahe, rufen.

Im Krankenzimmer mit dem gedämpften
Tageslicht und dem scharfen schwülen Geruch
wandte sich die fromme Schwester ans Fenster,
als er ins Zimmer trat. Er schlich ans Bett, wo sie,
blaß und elend, die Augen aber strahlend, ihm die
heiße Hand bot und den Arm um seinen Hals legte,
als er den Mttnd auf ihren drückte. Er tröstete siie,
und sie fragte ängstlich, was mit ihr nach dem
Tode geschehe.

Er erzählte abgerissen. von ihrem leisen
Schmerzstöhnen unterbrochen, von dem Werden
und Vergehen; irdisch sei alles an ihnen; sie blieben
immer auf der Erde, denn in Erde löse sich alles
auf, um immer wieder zu wachsen in Regen, Son-
nenschein, Schnee, Kälte, Haß, Glück und Leid und
Liebe.

Die irdische Unsterblichkeit des Menschen
malte er ihr aus. Nur daß wir, was wir erlebten,
später nicht wüßten wie heute. „So bin ich
immer bei Dir und nicht allein?“ Sie lächelte im
Fieber.

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