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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 70 (Juli 1911)
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Fuchs, Richard: Der Rang der Geschlechter
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0113

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Der Rang der Ge-
schlechter

Von Richard Fuchs

Unser Geschlecht zeigt uns den einfachen
Weg der Natur, auf dem wir ins Leben gekom-
men sind.

Unser Leben ist kein bleibender Zustand,
sondern eine zeitliche Veränderung, ein Abstei-
gen in der Verwandtschaft, eine Spaltung in der
spröden Familie. Die Eigenschaft des Lebens
ist die organische Bewegung.

Jedes Organische hat, als ein sinnliches ge-
teiltes Element, seine durchgängige Begrenzung,
aber das einzelne Organische ist wiederum ins
Unbegrenzte teilbar.

Diese natürlichen Wirkungen sind noch nicht
unsere eignen Ursachen, doch umschliessen un-
sere organischen Fähigkeiten künftige Lebens-
verfeinerungen. Alles was lebt, braucht nur ei-
nen Anfang, um zu leben. Auch der Mensch
lebt zu seiner Zeit. Jeder von uns lebt in einer
ihm eigentümlichen Form. Der Lebenslauf des
Menschen ist durch das doppelte Geschlecht ge-
niigend gesichert.

Auf eine verschärfte Trennung der Geschlech-
ter laufen alle bewussten Kulturen hinaus. Die
fast ausnahmslosen Erfolge dieser Zeiten sind
nicht iiberraschend und nicht iibermenschlich,
sondern entsprechen dem Aneignungstalent ihrer
egoistischen Grundlagen.

Die Freiheit unseres Geschlechts ist kein un-
terscheidendes Geschlechtsmerkmal. Das weibli-
che Geschlecht kennzeichnet sich durch die be-
sondere Fähigkeit, in seinen diskreten Formen-
schmuck unvergleichlich mehr Abwechslung brin-
gen zu können. Seinem hoffnungsvollen Realis-
mus dienen die Lichtstrahlen der ganzen Sicht-
barkeit.

In diesem veränderlichen Grade kann sich
der geschlechtliche Mann nie verwirklichen.

Die Vollendung des Weibes bleibt die leib-
liche Erscheinung. Das Wesen eines Mannes
entzieht sich bisweilen den Blicken aller in der
Zeit Lebenden. — Innres und Aeussres ist in
beiden Geschlechtern nicht einmal umgekehrt pro-
portional.

Es ist ein sehr gewöhnlicher Denkfehler, dass
man das Organische ohne Unterscheidung mit
dem Geiste auf dieselbe Stufe stellt, so dass zum
Vergleich für das Sinnliche des Fleisches eigent-
lich nur das Unorganische, also das Leblose
übrig bleibt.

Wie das Leben in zwei Geschlechtern ge-
trennt gelebt wird, so unterscheiden sich der
Geist und der Körper sowohl des Mannes wie
der Frau. Frau und Mann sind ein getrennter
Leib und eine getrennte Seele.

In der geschlechtlichen Spannung löst sich
die sinnliche Fülle des Menschen. Aber mit der
ersten Geschlechtserfahrung steigt das weibliche
Leben um mehrere Grade höher. Seine Reinheit
ist um so grösser, je früher es in sich unter-
richtet ist.

Hier zeigt sich, dass das Weib nicht bloss
das eine von zwei Geschlechtern ist, sondern
dass es das Ergebnis beider Geschlechter mit
wissender Unschuld verkörpert. Darin liegt die
verführerische Macht der Frau.

Das Weib ist nicht nur ein eigenes Ge-
schlecht, sondern zugleich das unsrige.

Diese Erkenntnis ist keinesfalls auf den Mann
umkehrbar. Was für die Frau ein ernstlicher
Konflikt ist, würde umgekehrt bei ihm spasshaft
sein.

Unsere Entstehung ist wohlfeiler, als wir in
Knabenjahren dachten. Die Frau tritt eher in
ihre eigne Welt als wir und bekommt dadurch
einen sicheren Vorsprung in der Sinnlichkeit.
Ihr Ueberschuss daran ist ein wachsendes Ver-
mögen. Die Frau zieht aus der allgemeinen Ent-
wicklung höheren Wert als der Mann. Die Welt
bewegt sich in immer grösserer Differenzierung
vorwärts. Die Wesen werden mehr und mehr
einander ähnlich. Dennoch, was wollen diese
Ungleichheiten männlicher Kraft gegen den Un-
terschied bedeuten, in dem die Frau vom Anbe-
ginn des Lebens zum Manne steht?

Ihr einzigartiges Wesen, das ein Zusammen-
fluss intimer Wirkungen sowohl des Mannes wie
der Frau ist, wird von keinem Pflichtbegriff er-
schöpft. Man spricht von ihren Leistungen im
Dienste der Erhaltung der Menschheit. Diese
Verrichtungen erfüllt' das gesunde Wesen ohnedies
durch ihr besonderes Schicksal. Der Mann
muss in seinem ganzen Geschäft mehr bewuss-
ten Eifer entwickeln als die Frau in ihren schwer-
sten Tagen.

Dagegen erregt die Frau nur luxuriöse Vor-
stellungen der verschwenderischsten Art. Hierin
findet ihre Tugend ungeahnte Gründe zur Stei-
gerung zeitlicher Güter. Als dieses freie und ele-
mentare Wesen erzeugt sie durch scheinvolle Ein-
heitlichkeit die Idee des Glanzes, der auf ihr
ruhe. Wir sehen in ihrer lustvollen Ziellosig-
keit das feste Ziel, in ihrer Uneinigkeit mit uns
ihren einzigen Instinkt, um den wir hundert-
fach zersplitterte Wesen sie beneiden. Es stachelt
die Wollust, die Quellen der Fruchtbarkeit in
ihrem sicheren Besitz zu sehen, die begehrte
Schönheit, die frei lebt, in der Hülle eines Men-
schen, der aussieht wie wir, wiederzufinden.
Durch sein Beispiel, schwebenden Formen der
Welt sinnliches Leben zu leihen, ohne den Zu-
sammenhang mit den Körpern zu verlieren, ist
das Weib der Anfang des künstlerischen Geistes.

Es hat für die Unvernunft des Daseins das
schönste Märchen erfunden, sich selbst. Das
Weib ist aller seltenen Dinge Anfang. Im Weibe
ist unser oberster Anfang. Noch vor dem erwa-
chenden Bewusstsein wird in unserem Beginn,
in unserem weiblichen Ursprung unser künfti-
ges Schicksal besiegelt. Denn unsere erste Be-
gründung geschieht ausser uns und ohne uns.
Nur der geniale Mann bietet später ein gleiches
Beispiel, dass der Willenseinfluss eines Wesens
weit über sein Persönliches hinausgehen kann.

Es gibt nichts, was einander fremder wäre
als Mann und Frau, und dennoch entsteht der
Mann aus der Frau. So wenig auch die Welt
bedeutet, die ganze Menschenwelt, die doch nicht
nur aus Weibern besteht, entsteht aus den Wei-
bern

Es wird unter keinen Umständen ein jedes
von beiden Geschlechtern innerhalb seines eignen
Geschlechts hervorgebracht, ausser dem einzigen,
das uns zur Welt bringt. Eine Mutter vollführt
die Befruchtung und aus ihrer Zierde entlässt
sie Mann und Weib. So setzt das Weib die
willkürlichen Spaltungen des Mannes unfreiwil-
lig in artige Geschöpfe zusammen. Die weibli-
che Natur übernimmt den ganzen Akt des Ge-
schlechts.

Wo das Leben mit dem Weibe zuisammen-
stösst, verschärft sich jeder bestehende Gegen-
satz. Ja, ist es nicht, als ob es nur ein Ge-
schlecht gäbe und nicht zwei? Wir scheinen nur
die vorgeschobenen festen Posten für die Beweg-
lichkeit des anderen zu sein. Eher werden noch
alle Männer gleich, als dass es dahin kommt,
dass sich die Frau mit der zweiten Rolle be-
gnügte. Nur geringere Sinne ihres Wesens fol-

gen unserer Führung. Ihr Grundelement flieht
jeden Zwang. Denn das Weib ist nicht das We-
sen, das dem ersten besten Geschlecht gehorcht,
sondern ist immer ein anderer Mensch als wir.
Das Geschlecht des Weibes ist das erste und ur-
spriingliche in diesem Leben.

Nur das Weib hat einen heimischen Ur-
sprung, und es bleibt durch seine originale Ab-
stammung dem Manne im Instinkt voraus. Dem
Manne bleibt das Leben, wie es ist, innerlich
eigentlich fremd.

Wir dürfen uns doch das Hauptmotiv der
Generation nicht verbergen, wenn wir Vieles
nicht falsch deuten wollen.

Des Weibes Geschlecht ist an und für sich
viel interessanter als seine Folgen. W i r sind
schliesslich G e b u r t e n , aber das W e i b ist
Weib.

Jeder Widerspruch des Weibes fügt sich zu
seinem Vorteil. Denn das Weib bleibt in seiner
Uebung, wenn seine Wirkung anders ist als
wir gedacht haben. Dagegen scheidet sich der
Mann, der sich widersprechend bewegt, im Glau-
ben der Welt; mag sein Widerstand noch so be-
rechtigt sein.

Dieser zweifellose Vorangang der Frau im
Geschlecht, der beständig die kühnste Zumutung
an uns stellt, macht die Frau zum Schicksal des
grossen Lebens, sofern wir nur nicht in diesem
den flachen Gesellschaftsbetrieb, sondern die
Macht des Blutes und die Innenwelt des Men-
schen verstehen.

Der Mensch ist ein politisches Wesen, aber
die Politik der beiden Geschlechter beherrscht
sehr verschiedene Gebiete.

Wenn der Mann das öffentliche Rechtswe-
sen begründet hat, so stellt die Frau daneben
noch immer die Gewinne ihres heimlichen Rechts
auf. Die Vorteile der Frau gegen uns sindfunk-
tioneller Art und nur solche können uns wirk-
liche Beunruhigungen schaffen.

Der weibliche Körper enthüllt sich als ein
Kunstspiel, das uns im ersten und letzten Au-
genblick überrascht. Des Weibes Absicht er-
scheint in ihm Natur. Ihr Leib und Kleid, wel-
che die Schönheit jedes Gegenstandes auffangen,
brauchen keine fernerliegenden Mittel. Kein
Geist des Mannes kann der Frau dieses Beson-
dere ersetzen. Der weibliche Körper ist der ei-
gentliche menschliche Körper. Denn jedes Mäd-
chen, jede Frau verschliesst in ihm unser ganzes
physisches Glück.

Das Weib ist ein Lebenswerk wie die Kunst
ein Werk des Mannes.

Zu Beiden zieht den höheren Menschen der
innere Geist. Kann man auch mit einer solchen
herausfallenden Neigung nicht auf die Gunst
gewöhnlicher Menschen rechnen, so hat man
doch als gesetzliches Wesen das Schwierige vor
dem Bequemen vorzuziehen. Wie das Niedrige
so ist auch das Höchste in gleichem Masse für
ein nervöses feineres Gewissen unerreichbar und
dadurch unüberwindlich.

Trivialitäten sind für einen vollendeten Mann
letzte Schranken, wiederum sind für ihn letzte
Schönheiten, denen er fremd bleibt, Ziele der Be-
wunderung und Entwicklung.

Der unzerstörbare Fortschritt ruht auf dem
Bestand der Körperwelt. Diese ist kein allge-
meiner leerer Durchgang wie Bildung und Wis-
sen des Mannes.

Der Verkehr mit dem Manne ist leicht und
darum vielfach fruchtlos, während das Verhält-
nis zur Frau unsere praktischen Instinkte auf-
regt Nichts ist ernster zu behandeln als sie,
denn im Konflikt mit den Sinnen der Frau geht
es um unser keimendes Leben. Die Schönheit

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