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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 92 (Januar 1912)
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Schmidt, Paul Ferdinand: Die Expressionisten
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Walden, Herwarth: Kritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0294

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noch weit überlegen durch ihre Geschmackskultur.

Aber der gärende Sturm und Drang ihrer deutschen
Schüler, die wachsende Breite der Bewegung bei
uns, die keineswegs auf junge „Brauseköpfe“ be-
schränkt ist (weder Nolde und Rohilfs, noch
D e u ß e r können so genannt werden), scheinen zu
prophezeien, daß Deutschland das Land der Be-
stimmung sein soll. Das starke Mjtwirken des
Empfindungsmäßigen, das ideale Moment in der
Ausdrucksmalerei spricht dafür. Es kommt hinzu,
daß wir in den letzten Jahrzehnten auf verschiede-
nen Kulturgebieten verwandte Bewegungen erleben.
In der Dichtkunst ist die Abkehr vom Naturalismus,
in der gewerblichen und architektonischen Kunst
ist die Aufriohtung der großen Gesetze des Ein-
fachen und Organischen als gelungen zu betrachten.
In ihr System fügt sich gleichstrebend die Malerei
der Expressionisten ein: dekorativ und freudig sich
zur Farbe bekennend, organisch im inneren Aus-
druck. Sie geht in der Folgerichtigkeit des ideali-
stischen Prinzipes am weitesten, indem sie den
Weg zum Gefühl unmittelbar durch die Sinne
nimmt. Ihre Farbflächen lassen nichts sinnlich Un-
gelöstes, keine außerkünstlerische Assoziation zwi-
schen sich. Sie sind vom Zweck erlöst, reine Ge-
bilde der Kunst, pnd als solche wertvollste Produkt
dieser ganzen Bewegung.

Kritik

Der seheussliehe Strindberg

Die Theaterkritiker haben sich maßlos geär-
gert, daß man Strindberg spielte und noch dazu
vor Weihnachten. Die größte Empörung bringt
der Possenfabrikant Julius Keller vom Lokal-An-
zeiger auf. Zunächst nennt er in seiner Wut das
Berliner Künstlerische Theater „die alJerneueste
Vereinigung zur Verübung rätselhafter theatra-
lischer Aufführungen“, Warum spielen die Leute
auch Strindberg, den Scheiterhaufen, „dieses qual-
mige Werk just einen Tag um Weihnachten.“ Die
ganze Stimmung hat man dem qualmigen Keller
verdorben: „Ein Akt der Niederträchtigkeit gegen
die Leute, die sich um diese Zeit noch immer eine
gewisse weihevolle Stimmung nicht verkneifen
könneru“ Nun ist sie ihm verkniffen worden, und
er schimpft mit Verkniffenheit: „der mit Scheußlich-
keiten verschiedener Art voilgepfropfte Dreiakter
— Iangweilige Variationen — höchst unliebsame
Familienszenen — niederträchtige Drama — Pein-
lichkeit und Quälerei —.“ So schreibt das Mensch
über Strindberg. Freilich, es muß sich ja auf an-
heimelnden Familiensinn und gute Hausmannskost
verstehen. Warum bleibt aber das Männchen nicht
zu Hause bei Muttan, warum verkriecht es sich
nicht in sein Kellerloch, statt auf den Scheiterhaufen
ausgeschriebene Federn zu schmeißen? Glaubt es
damit den Weltbrand Strindberg löschen zu kön-
nen? Da hat es sich in die Tinte gesetzt. — Auch
Herrn Norbert Falk ist Strindberg zuwider. „Der
Scheiterhaufen leitete das neue Unternehmen ein,
so grau und scheußlich wie das Influenzawetter,
das gestern die Straßen durchwehte.“ Und so
weiter: „öde Qual dieser dreiaktigen Stelbstver-
wüstung — offenkundiger Rückfall in jene anti-
femininen Tendenzen — soviel Scheusäligkeit.“
Jetzt macht Herr Norbert Falk einen Stern * und,
o Wunder, er geht ihm sogleich auf: „Wieder hat
man Strindbergs unbedingte Me'isterschaft in der
knappen Zeichnung der Figuren gesehen, wieder
packt Strindbergs Kraft zum Visionären und über-
rascht seine scharfe Naturalistik, seine außerordent-
liche Fähigkeit zur dramatischen Konzentrierung.“
Das schreibt derselbe Herr Norbert Falk in der-
selben Kritik. Offenbar hat sich das Influenzawetter
durch den gedruckten Stern gelegt. Oder aber,
Herr Falk hat sich in der Frühstückspause über

Strir.dberg orientiert. Vielleicht bei dem KoUegen,
Herrn Doktor Artur Eloesser. Der weiß Bescheid:
„Strindberg braucht nicht erst entdeckt zu werden.
Wir wissen, daß er eine der gequältesten Seelen,
einer der unruhigsten und beunruhigendsten Köpfe
in Europa ist, und daß der Mann, der abwechselnd
Atheist und Naturalist, Mystiker und Alchimist war,
sein Leben alle paar Jahre von neuem anfing.“ Das
wissen wir. Wir wissen sogar, daß der andere
Mann, der Doktor Eloesser, weder unruhig noch
beunruhigend ist, und daß er sein Leben noch gar
nicht angefangen hat. Aber der Doktor Eloesser
verhält sich Strindberg gegenüber loyal, das muß
man zugeben: „Man kann Strindberg in seiner ge-
samten Erscheinung nicht anders als e r n s t neh-
men. Das hat August Strindberg wenigstens mit
seinem Werk erreicht Herr Doktor Eloesser nimmt
ihn ernst! Hochachtung für beide.

Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat das
Drama Der Scheiterhaufen zuerst in Deutschland
veröffentlicht und zwar in der damals seiner Re-
daktion unterstellten Wochenschrift Der Neue Weg,
Heft eins bis drei. Ihm wurde diese Veröffent-
lichung von dcr Verlegerin des Blattes, der Ge-
nossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, also
dem „Präsidenten“ Nissen und dem „Zeitungsüber-
wacher“, Bonvivant Paul, zum besonderen Vor-
wurf gemacht. Sie bildete sogar einen dcr famosen
Entlassungsgründe gegen den Redakteur. Als der
Redakteur seine Iiterarische Untat zu verteidigen
suchte, wurde ihm gesagt: „Strindberg spielt
man, aber man I i e s t ihn nicht.“ Die Berliner
Presse hat die entgegengesetzte Meinung. So ist
das Leben.

Der Sehmuek der Madonna

Endlich einmal ein Komponist, der nicht mit
Cliches arbeitet. Er heißt Ermanno W o 1 f - F e r -
r a r i, seine Oper „Der Schmuck der Madonna“.
Sie wurde unter der außerordentlichen Regie von
Maximilian Moris in der neuen Kurfürsten-
oper hervorragend dargestellt. Die Musik ist nicht
von besonderer Tiefe und auch ohne erhebliche psy-
choiogische Charakteristik. Muß es sein, weil der
Komponist zu homophon schreibt Aber Wolf-
Ferrari besitzt ein sehr starkes Temperament, eine
originale Erfindung und eine ganz besondere Fähig^
keit in der Verwertung der Harmonien. Jede Har-
monie, jede Modulation gibt mit einer erstaunlichen
Sicherheit die Situation und das Gefühlsmoment.
Mit anderen Worten: das Malerische, das Farbigc
ist vorhanden, das Plastische, das Melodisch-The-
matische höchstens angedeutet. So kann nie ein
Musikdrama geschaffen werden, wohl aber eine
gute Oper. Nun finde ich, daß eine gute Oper mit
eigener, starker, temperamentvoller Erfindung mehr
bedeutet, als ein schlechtes Musikdrama mit unori-
ginaler, gemachter und temperamentioser Musik.
Etwa in der Art des Herrn Richard Strauß. Auf
die Gattung kommt es doch wohl nicht an und auf
den Namen. Eine nüchterne Zeichnung wird nicht
durch besoffene Farbenklexe zum Gemälde. Man
hat Wolf-Ferrari vorgeworfen, daß er operetten-
hafte Anklänge nicht scheue. Der grobe Irrtum
dieser Leute besteht darin, daß sie Langweile für
musikdramatisch und Frische für operettenhaft hal-
ten. Es ist gerade ein besonderer Vorzug der Mu-
sik Wolf-Ferraris, daß sie in den Volksszenen, in
den Tänzen, in den Liedern frisch und persönlich
bleibt, ohne operettenhaft im neuen Sinn, das heißt
banal zu werden. Der Text ist nicht ganz so trost-
los wie in anderen Opern und endlich einmal nicht
von dem Rudolf Lothar in allen Gassen übersetzt
worden. Das sei mit besonderem Dank erwähnt.
Die Regie von Maximilian Moris kann nicht genug
gelobt werden. Die Belebung der Chöre und der
Solisten hat in der Oper bisher niemand erreicht.
Moris fühlt sich auch absolut in die Musik hinein.
Zu wünschen wäre nur noch die Vermeidung von
Geräuschen auf der Bühne, wie das Lachen, das
Auftreten auf dem Holzboden, wodurch die er-
reichte malerische Illusion des Steinbodens gerfom-

men wird, das Werfen von Türen, und Aehnliches.
Bei der Musik muß auf der Bühne jedes Geräusch
und jeder Laut vermieden werden, der nicht durch
den Ton hervorgerufen wird. Den Solisten sind
die üblichen Opernmanieren schon ziemlich abge-
wöhnt. Zwei Sänger gestalteten sogar: I d a S a 1 -
d e n und Kurt Frederich. Die Tänze waren
sehr original und doch aus dem Milieu ausgedacht.
Die Hintergründe des „Kunstmalers“ W. von Ples-
sensen hingegen sind fiirchterlich kitschig oder nach
seinen Skizzen von der Firma Hugo Baruch & Co,
verdorben worden, was ich nicht feststellen kann.
Malerei als Hintergrund geht überhaupt nicht. Auch
das gute liebe Wort „kostümell“ lebt noch immer
auf dem Theaterzettel.

Die Saalbesitzer als Vogelfänger und
Hühnerzüehter

Die Saalbesitzer und die Tanzlehrer könnert
sich noch immer nicht über die Schiebetänze be-
ruhigen Trotz der gemeinschaftlichen Kommission
dieser beiden wichtigen Berufsgruppen schiebt sich
die Unsittlichkeit durch die Tanzlokale fort. Die
gemeinschaftliche Kommission versendet einen Be-
richt an die Zeitungen: „Die unsittlichen Tänze ha-
ben sich in manchen Lokalen schon zu sehr ein-
genistet und der Saalbesitzer fürchtet seine ganze
Kundschaft zu verlieren, wenn er energisch dagegen
vorgeht.“ Die unsittlichen Tänze scheinen sich
nicht nur fest e i n g e n i s t e t, sondern bereits
lockere Vögel ausgebrütet zu haben. Und diese
flüchtige Kundschaft läßt sich offenbar von den
Hausknechten nicht einfangen. Aber die Rettung
naht: „Eine willkommene Unterstützung habe die
Kommission im Verein Berliner Haus-
f r a u e n gefunden, der es sich angelegen sein las-
sen will, auf die Jugend einzuwirken und das Un-
sittliche dieser Tänze vorAugenzuhalte n.“
Wenn die Berliner Hausfrauen schieben, dürften
der Jugend sicherlich die Augen übergehen. Da
haben sich die Saalbesitzer etwas Hübsches aus-
gebrütet,

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