Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 99 (Februar 1912)
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Von der Kunst
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0346

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
in der Malerei manches Oute zeitigte, aber weist
eindringlich auf ihre verheerende Wirkung, auf
wahre echte Kunst hin!“ Die neue Richtung hat
den ganzen wahren echten Werner und das ganze
wahre echte Lehrerkollegium verheert. Aber
noch mehr: „Die heutige Architektur geht im Rau-
fen um die Nützlichkeitsgestaltung geradezu unter.
Die Freude an der Form, an reicher gediegener
Durchbildung, der Zug nach oben ist fort.“ Die
wahren echten Architekten bauer. bekanntlich nur
den Zug nach oben, und lassen das Fundainent,
den Grundriß, einfach fort. Daß der nationale
Autor sogar für die wahre echte Architektur ein-
tritt, dafür müßte er besonders belohnt werden.
Man möge ihm ein künstlerisches Haus schenken,
frei von' jeder Niitzlichkeitsgestaltung, wo er sich
malerisch ausleben kann. Ich empfehle ihm Flerrn
Qeheimrat Ihne oder die Herren Boswau und
Knauer. Da findet er seine Leute. Die haben
noch Freude an der Form, an reicher gediegener
Durchbildung, die Bestien springen nur so aus den
Mäuern heraus, die Weiber tragen nur so die Bal-
kone, die Tugenden stehen nur so auf dem Dache,
die steinernen Quirlanden und Fahnen kleben nur
so an den Wänden. Da ist der Zug nach oben
noch nicht fort. „Wie eine Erlösung wir-
ken diese W o r t e. Jeder Qebildete, jeder
Künstler, Schriftsteiler, Maler. Kunstgewerbler und
Architekt muß diese hochinteressante Schrift lesen.
Der Verfasser ist einer der besten dieser Kreise.“
Die Erlösungsworte werden wir etwas leiden las-
sen. Der Deutsche, der sich mit seinem Namen
nicht heraustraut, soll herausgepaukt werden.
Sogar mit Trompeten und Posaunen. Welch ein
Gliick, daß es noch Kreise gibt, Kreise von Qebil-
deten, Künstlern, Schriftstellern, Malern, Kunstge-
werblern und Architekten, man wird auf einen der
besten dieser Kreise eine verheerende Wirkung
ausüben. Es ist eine Lust zu leben.

Trust

Briefe naeh Norwegen

Von Else Lasker-Sehüler

Licber Herwarth, es hilft Dir nichts, ich sende
Dir diesen Brief solange, bis Du ihn im Sturm ver-
öffentlichst. Ich glaube Dir schon, daß es Dir weh
tut, diese Zeilen meines Herzens prägen zu lassen,
aber da ich mich nicht zu beherrschen gelernt
habe, verlange ich es von Dir. In meinem Inter-
esse würdest Du hier gerne Deine Löwen bändi-
gen — Pudelhunde gehorchen eher; ich sagte Dir
schon einmal, die meisten Temperamente bellen
oder jammern oder kläffen nur.

Ich war nämlich in Jedermann oder heißt es
Allerlei? Ich glaube, es heißt Allerlei fiir Jedermann
oder Jedermann fiir Allerlei: Herein meine Herr-
schaften ins Riesenkasperle, ins Berliner Hännes-
ken! Ein evangelisch Stiick wird gespielt für die
„getauften“ Juden, namentlich, sehr anschauend
und erbaulich. Alte getauften Juden waren in der
evangelischen Vorstellung-Schaustellung gewesen
und waren erbaut n a m e n 11 i c h von dem blon-
den Germaniaengel in Blau und Doppelkinn.
Rechts ein Fleckchen, links ein Fleckchen Mensch
oder Engel an der Kasperlewand und wie das
Qe.wissen an zu heulen anfing: Jedermann, hier,
dort Jedermann. Wo kam das her — ich denke
aus den Ställen, Herwarth. Nein, da wollen
wir lieber auf die Kirmes gehen in Cöln am
Rhein und ein Cölner Hänneskentheater auf-
suchen, von dort sollte Direktor Reinhardt die
Naivität herholen, nicht sich welche anfertigen
lassen von dem Hofmannsthaler in Wiener Stil
oder übertünchen lassen, ein britisch-evangelisches
Mysterium, charakteristisches Qähnen mit noch
entsetzlicheren, gelangweilten, unechten Reime-
reien eines „Verbesserers“. Denk mal an, wenn
er sich auf Bildhauerei verlegt hätte, an der Skulp-

tur geflickt hätte, und der Venus von Milo die
beiden Arme angesetzt hätte!

Was grub er doch alles Literarische aus: Zu-
erst den Oedipus von Sophokles und nährte ihn
mit Wiener Biut; die Elektra machte er zur dä-
monischen „Ldhrcrin“. Ihm gebrichts an Phan-
tasie. Irnrner sagen dann die Leute, Herwarth,
weii sie stutzig werden: Ja, haben Sie denn. noch
nicht d a s Gedicht von ihm gelesen: Kinder mit
großen Augen? — Ich habe sogar Tor und Tod
und den Tod des Tizian von ihm gelesen; glän-
zende Dichtungen allerdings, abcr in Qranit
Goethes oder Georges gehauen. W,enn Jeder-
mann wiißte, was Jedermann wär usw. — eine
Blasphemie, eine Verhöhnung einer alten Pietät,
einer religiösen Verfassung. Das Leben und der
Tod, dic Sünde und die Strafe, Himmel und
Hölle, alles wird zur Schaustellung herabgewür-
digt, wie die Elephanten und Araberpferde mit
Bändern und Kinkerlitzchen geschmückt, allerdings
nicht einmal wie hier den Kindern zur Freude,
dem reichen sensationslustigen Publikum zur Er-
bauung, pfui Teufel, daß der Sekt besser mundet

Ein paar Tage vor Weihnachten forderte Di-
rektor Reinhardt mein Schauspiel die Wupper ein.
Sie liegt noch nicht zwei Monate in seinem Haus;
mein Schauspiel hat Leben, meine Qeschöpfe
möchten weiter leben. Nun wird mein Schau-
spiel eine Geisel sein in Reinhardts Händen, er
wird meine Dichtung ins Feuer werfen oder sie mir
mit ein paar Phrasen seincr Sekretäre widersen-
den lassen. Gleichviel, ich will keine Rührung
noch Sentimentalität aufkommen lassen, Her-
warth, ich muß meine Dichtung opfern der Wahr-
heit, dem „Ehrgeiz“ zum Trotz. Der Prinz von
Theben wirft die letzte Fessel von sich.

Mit einer goldenen Schaufel will ich der Sage
meiner Stadt einen Weg ebnen oder sie begraben,
indem ich Direktor Reinhardt die Wahrheit sage.
Die Auffiihrung des Jedermann ist eine unkünst-
Ierische Tat, eine schmähliche — von ihm zumal,
der im Publikum für unfehlbar gilt und in Wahr-
heit mit Bewußtsein nicht fehl greifen kann. Wie
soll man sich diesen Zynisrnus erklären! Hat
Reinhardt Geld nötig? Warutu rauben es nicht
seine Leute für ihn: Sie sollen den Westen
der Stadt plündern fiir ihren Kaiserü
Kassenschränke sind nicht zu unterbilden, wohl
aber eine Zuhörerschaft (es sind talentvolle Zu-
hörer darunter) wackelköpfig durch ein Irrspiel
zu machen. Solche Geschenke darf sich Rein-
hardt nicht erlauben. Draußen tobten die Sozial-
demokraten, es war am Tag der Wahl — in mir
stürmte eine stärkere Revolution, es fiel am Abend
meine Ietzte Hoffnung, die Aufführung meines
Schauspiels unter dem Können Reinhardt, das ich
in so vielen Aufführungen bewunderte. Ich for-
dere mit diesem Brief meine Arbeitersage, die
Wupper, ein. Hat er sie schon gelesen? Sie muß
ihm imponiert haben.

Ungiaublich, Herwarth, glaub ich endlich zu
Ende zu sein, läßt mich der deutsche Dichter Hans
Ehrenbaum-Degele fordern zum Duell. Wegen
der deutschen Sage und' des hohen Lieds. Sein
Sekundant wird der Schauspieler Wilhelm Murnau
sein und der Arzt van’t Hoff kommt wegen der
Wunden mit. Aber mir zur Aufmunterung wird
mein Neger Tecofi-Folifi Temanu seinen Menschen-
knochentanz wäbrend des Kampfes tanzen.

Telegramm:

Herwarth Walden, Halensee, Katharinenstraße 5-

Meine rechte Hand vom Rapier lebenslänglich
durchbohrt!

Lieber Herwarth, ich habe meiner Stadt The-
ben große Schmach angetan. Fiir einen Krieger
ist es schon eine Schande krank zu sein, aber
eine nie wieder gutzumachende Schmach bedeu-
tet es fiir mich, im Zelt verwundet zu liegen, ge-
tröffen von einem abendländischen Sieger. Meine
beiden Neger heulen wie Weiber, schleichen im
Vollmond, listige Katzen um sein Haus; ich bin
schlimm gelaunt. Der Prinz.

Gestern schloß ich mich im Privatgemach
rneines Palastes ein und betete. Ich habe die Ge-
bete fast zu sprechen vergessen, die wie Harfen
eingeschnitten sind. Ich habe in Gedanken itieiner
Mutter Fiiße gekiißt; wie man fromm werden
kann, ich war im Augenblick dieser goldenen De-
mut sündlos. Du meinst, es gibt keine Sünde, aber
ich zweifle nun nicht mehr daran, da ich noch im
Gebet steh und vom frommen Kuß weiß bin. Soll
ich mein Herz öffnen?

Herwarth, wie man sich nie findet! Das hat
immer indirekt einen kosmischem Grund, Ich
wandle ruhelos von einem Stern zum andern;
wenn ich nicht Luzifers Schwester •wär, so wär ich
der ewige Engel. Du stehst augenblicklich, ganz
genau nach der Sternwarte berechnet, im Wende-
kreis des kämpfenden Sturmhahns. Bravo!

Lieber Herwarth, ich habe Richard Dehmel
gezeichnet, ich habe ihn blutrot gezeichnet als
orientalisches Stadtbild; nicht im Bratenrock, ii
dem er zu verkehren pflegt mit der Außenwelt,
aber im altmodischen Stadtturban. Richard Deh-
mels Gedichte fließen wie Blut, jedes ein Aderlaß
und eine Transfusion zugleich. Er ist der Groß-
i kalif aller Dichtung.
 
Annotationen