Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 83 (Oktober 1911)
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
DOI Artikel:
Friedlaender, Salomo: [Rezension von: Max Zerbst, Die vierte Dimension]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0221

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
stisch ist es doch, mit einem Menschen ehrfürchtig
böse zu sein. Es liegt eine tote Stelie zwischen
uns, daranf nichts mehr bliihen kann, aber wir brin-
gen der Qrabstätte unserer Feindschaft Pietät dar
— manchmal in Form von bunten Immortellen.
Ob der Doktor auch schon mal etwas ähnliches
gedacht haben mag Es bringt mir niemand von
ihm Kunde. So muß es nach dem Tode sein, wir
sind uns im Leben schon gegenseitige Qeister ge-
worden. Er erscheint mir oft in Rollen, manch-
mal als überlegener, höherer Qeist, der verneint. Als
Samiel erschreckte er mich neulich am Ufer der
Spree, als ich heimlich auf den Bischof wartete.
Schlank ist er, gemmenhaft sein Schatten, iiber-
rascht er mich als einer der ermordeten Könige
Pichards im Traum. Habe ich Aehnlichkeit im
Wesen mit dem Bluthund? Nun ist der Winter
meines Mißvergnügens — ich habe sogar die
schlimmen Sommer auch aile durchgemacht. Euer
Shakespeare.

Liebe Beide. In einem Pestaurant der Fried-
richstraße saß unser Doktor, Herwarth. Ich wollte
dort nur telephonieren, aber da ich ihn bemerkte,
schlich ich auf die Gallerie und betrachtete ihn aus
der Vogelperspektive. Er war allein, sonst nur
abgedeckte Tische. Drum begann er wieder zu
summen und es war seine Stimme, die baid an den
Säulen des Saals brandete. Ich begreife nicht,
was ihn noch von den Konzerten abhält? Er ist
natürlich kein Heimatsänger, wie die dekorierten
Vögel alle, zwitscherr.der, musizierender Blätter-
Wälder. Des Doktors Stimme ist stellenweise noch
ungeheftet, ich konnte manche von den schwarzen
Perlen in die Hand nehmen. Wiillners Töne sind
alle schon geordnet auf Qolddrähten, die Meeres-
stimme des Doktors wäre auf Taue zu reihen. Diese
Erkenntnis sollte sein Lehrer besitzen. Du mußt
thm die letzten Zweife! nehmen, Herwarth.

Dr. Max Zerbst: „die vieiie
Dirnension“*

Von S. Friedlaender-Halensee

Doktor Zerbst exponiert in dieser kleinen,
sehr treuherzig abgefaßten Schrift einen Qedanken,
der zur Lösung des Problems der Materie bei-
tragen soll. Er will nicht finden, sondern suchen;
er fingiert Hypothesen — und zwar kiihne, sehr
gewagte. Solche von der Art, wie sie sofort ent-
stehen, wenn die kritische Grausamkeit des Gei-
stes gegen sich selber nachläßt; wir hätten auch
sagen können: des Vertrauens zu sich selber.
Man muß durchaus nicht immer erst sterben, um
das Qroße Vielleicht suchen zu geiien. Herr Dr.
Z. erwägt ein großes Vielleicht . . . vielleiciit auch
nicht!

Unter der Vierten Dimension des Raumes will
Dr. Z. die m a t e r i e 11 e Körperwelt verstanden
wissen. Bekanntlich hat der geometriscne Kör-
per bloß drei Dimensionen: diese vierte soll nun
dadurch charakterisiert sein, daß sie sich, im üe-
gensatz zur Extensität der anderen. rauminnerlich
in inteusum wende: zum Punkte hin wie die drei
anderen vom Punkte fort. — Warum sollte sich
dann nicht „die Perspektive eines P a r a 11 e 1 i s -
m u s zwischen den drei Aggregativstän-
den (Qas, Flüssigkeit, Fester Körper) der Materie,
also der Raumintensität, einerseits und zwi-
schen den drei Dimensionen (Linie, Fläche,
Geometrischer K ö r p e r) der Raumintensität an-

dererseits“ auftun?-Der P u n k t (Atom, Ein-

heit, Element) ist also sehr unontologisch vorzu-
stellen, sehr variabel, absolut beweglich.
— Die Raumintensität (Materie) hat, möglicher-

'•München 1909 Steinebaeh's Verlag

weise, in den Strahlungs- und Schwingungsersdtei-
nungen ihren vierten Aggregatzustand. — Und end-
lich: derselbe extensive Raum kann intensiv zur
selben Zeit unbegrenzt viele verschiedene mate-
rielle Bildungen enthalten. — — —

Es ist anzuerkennen und hervorzuheben, daß
die Qestik, mit der uns diese Wahrscheinlichkeiten
demonstriert werden, tüchtig und gemessen, fast
— bei aller verhaltenen Schwärmerei — pedantisch
ausgefüllt. Es ist wirklich in dieser Methode, die
zu so märchenhaften Resultaten führt, ein gescheu-
ter Zug. Dr. Z. rechnet dabei durchaus mit der
Eventualität, aaß er sich irrermnd behauptet mit
recht auch den Irrtum als ein Fördernis der Wahr-
heit. Aber man darf die Kraft, selbst außerordent-
iich geistreiche und verhängnisvolle Fragen auf-
zuwerfen, die der vorliegende Versuch betätigt,
keineswegs überschätzen! Iimmerhin verrät sich
hier ein sehr interessanter geistiger Habitus —
„Absolute Bewegung“ als oberstes Prinzip — ein
überlebendiges Erlebnis! Der Punkt als eine Art
Doppeipunkt, von antagonistischen Richtungen be-
stritten — ein p o 1 a r e s, also äußerst echtes,
sinnreiches Erlebnis, das danach angetan ist, jener
Ueberiebendigkeit eine maßvolle Form zu geben.

Aber Herr Dr. Z. selbst würde sich doch gegen
gutmütige Zustimmung verwahren. Es muß ihm
also, Punkt um Punkt, scharf auf die Finger gepaßt
werden. Vor allem würde sich doch die Bewe-
gung, sei sie nun absolut oder nicht, ais E r 1 e b -
n i s, als p e r s ö n 1 i c h e s Elebnis kennzeichnen.
Degleichen Raum, Zeit, Dimension, Materie, alies;
auch der Punkt. Ohne dieses Ausgehen
vom eigenen persönlichen Erlebnis
h a t m a n g u t philosophieren! M a n h a t
das Hauptproblem umgangen, was
einen iiberhaupt das ganze Zeug an-
gehe. Zu Qunsten Dr. Z.’s läßt sich annehmen,
er habe diesesUrproblem in seiner kleinen Spezial-
schrift stillschweigen lassen. Dann müßte der Kri-
tiker sich die entsprechende Zurückhaltung aufer-
legen und wie soll dann, bei so gewichtigen Be-
schluüssen, die Entscheidung strikt ausfallen? Viel-
leicht erzwingen die anderen, mir einstweilen un-
bekannten Werke Dr. Z.’s deren Stringenz.

Um es sogleich zu sagen: Dr. Z., so nahe auf
den R a u m p u n k t seiri Augenmerk richtend, ver-
kennt dennoch die Polarität des Raums, trotzdem
er den um diesen Punkt entbrennenden Antagonis-
mus des dimensionalen Richtungs-Unterschiedes
so deutlich gewahrt. Es erhellt dies schon daraus,
daß er überall von Richtung anstatt vom Rich-
tungsunterschiede spricht. Zarathustra mit seinem
„Um jedes Hier rollt siech die Kugel dort“; „Die
M i 11 e ist überall“, hätte diesen ehrlichen alten
Nietzschekenner doch aufmerksam inachen sollen,
daß Extension polar zu verstehen seiI Der
Raumpunkt polarisiert ganz evidentermaßen die
Raumextensität. Im Punkte konzentriert sich die
Differenz, die polare Zerstreuung des Rau-
mes. Extension ist also nichts vom Punkte fort,
sondern p o 1 a r vom Punkte aus Qerichtetes: r e -
f 1 e k t i e r t also wesentlich bereits auf den Punkt.
Entfernung ohne Wiederannäherung iist 'eine
falsche Abstraktion, ein halber Blick. D e r Q e -
gensatz besteht also nicht zwischen
Extension und Intension, sondern in
der Extension selber, und „I n t e n s i o n“
ist die Funktion des Punktes, der ihn ausgleicht.
N ä h e z. B. indifferenziert (in irgend einer Figur,
einem Symbol) die dia-bolische F e r n e, ist also
kein Qegensatz zu ihr, sondern die Versöhnung
ihrer Selbst-Opposition! Wie das Kind kein Qe-
gensatz der Eltern, sondern das S y m b o 1 des
Ausgleichs ihrer Differenz ist (oder sein solltel).
Dr. Z. beraubt sich also dadurch, daß er den echten
Kontrast in einen falschen verblickt, der wahren
Fruchtbarkeit seines gedankenreichen Beginnens.
Das „V o m P u n k t e f o r t“ enthält den echten
Kontrast, Richtungs - Unterschied, welchen das
„Z u m P u n k t e h i n“ in zahllosen Variationen

barmonlsiert: Um jedea Punkt streitet die (anti-
podische Kugel D o r t! Ferner lassen sich a m Rau-
me Ausmessungen vornehmen — aber der Raura i s t
keine Ausmessung. Man konstatiert a n der soge-
nannten „dritten“ Dimension, die das Wesen des
Raumes ausmacht, Punkte, Linien, Flächen; Ei-
g u r, Qrenzen. Aber diese Grenzen und Figuren
sind, ohne Tiefe vorgestellt, unmöglich. Es gibt
gar keinen eindimensionalen Raum, gar keinen
zweidimensionalen; oder soll auch vielleicht der
Punkt ein nulldimensionaler sein? — Das ist ein
schiefer Blick für das allein Konkrete des Rau-
mes, seine „T i e f e“. Diese Tiefe hat Dimensiois
und zwar p o 1 a r e, d. h. auf einen Richtungs-Un-
terschied gehende. In welcher Weise diese Tiefe
des Raumes nach Art der Stereoskopie
komponierbar, flaßtibel, deklinabel werde, speziell
zu verdeutlichen, geht hier nicht an; aber prinzi-
piell muß gegen die saloppe, metageometrische Be-
trachtungsweise nachdrücklichst geltend gemacht
werden, daß sie zwar vielleicht Dimensionen
der Tiefe berechnen, logisch erschließen könne;
aber nie und nimmer — welchen Aberwitz! —-
Dimensionen, deren dritte die Tiefe wäre. Wie
oft wissen Rechner gar nicht, wa s sie berechnen!
I n s i c h ist Mathematik agodiktisch; a n g e -
w a n d t, kann sie bis zur Verrücktheit urteilslos
und irrig werden und obendrein mit der Miene der
Unfehibarkeit — wie das Schicksal der Qoethe-
schen Farbenlehre tragisch beweist!

Herr Dr. Z. Iäßt sich von seinem Widerwillen
gegen Ontologie zur Hypothese des Prinzips der
„absoluten Bewegung“ hinreißen und vergißt auch
hier iiber der Richtung den Richtungs-Unterschied
und dessen polaren Sinn; obgleich er, wie ein von
ihm aufgestelltes Schema zeigt, dann selbst auf
Polarismus gerät. Es gibt nirgends Bewegung ohne
Gegenbewegung, und Dr. Z. sollte in der „Ruhe“
seinen „Sinn“, sein „Element“ wiedererkenne*.
Extension ist die Differenz des Punktes; Bewe-
gung die Differenz der „Ruhe“, deren media-
ier Indifferenzzustand gar nicht 1 e-
bendig genug gedacht werden kann:
absolut lebendig — aber immer polar!
Also einem K o n t r a s t e geltend und für ihn wirk-
sam. Das E1 e m e n t müßte Herr Dr. Z, also
nicht bloß variabel denken, sondern auch einsehen
lernen, daß diese Variabilität auf etwas P o 1 a r e s
gerichtet ist.

Nach alledem werden wir die Materie nicht
für etwas der Extension entgegengesetztes Inten-
sives, sondern für etwa's aus der Differenz der Ex-
tension resultierendes Intensiveres halten müssen.
Oder anders gesagt; Wirklichkeit ist medialer
als geometrische Phantasie.

Ueberhaupt, so unfruchtbar die bloße „Rich-
tung“ ist, so unendlich fruchbringend und steigernd
wirkt die Q r e n z e eines Richtungs-Unterschiedes.
Aus der Differenz wird (wie aus Eltern), je reicher,
je spannender, ie infinitesimaler, pojlarer
sie ist, ein Resultat in immer gesteigerterer Form
erbliihen. Aber man muß den Blick für die Difie-
renz haben! So gibt es keinen Raum, sondern
eine polare Raumdifferenz. Uni) von vorn her-
ein ist Unendlichkeit eine Polarität, keine Sim-
plizität. Also das Absolute (Unendlichkeit) selbst
ist p o 1 a r zu denken; folglich „absolute Be-
wegung“ polare. Dr. Z. ist ja genötigt, in
seine absolute Bewegung ein „Element“, wenn
auch ein variables, einzusetzen! Variation (Pro-
teität, Metamorphose) ist aber, präzis durch-
dacht, polare Identität: Andersheit ist entzweite
Selbigkeit — pardon dem raschen Kauderwälsch!

Es ist in höchstem Qrad erfreulich, daß man
endlich dem Mißverständnis des Simplen, Seienden,
Elementaren, der „Einheit“ (der Mon(oton)isten) ein
graziöses Ende bereitet; indem man die „selbe“
Einheit unendlich lebendig, also differenzierbar (d.
h. polarisierbar) auffaßt —: aber eben mit beson-
nenem Klarblick über ihren Charakter als denjeni-
gen einer M i 11 e, einer Q r e n z e. einer Balance

66?
 
Annotationen