Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 91 (Dezember 1911)
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
DOI Artikel:
Mahlberg, Paul: Lothar und Gertrud von Kunowski
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0284

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Herwarth, wo Dus nun mal weißt, ich bin heut
zur Ruth-Elfriede gerannt — wie ein Primaner.
Einer „Frau“ wollte ich mein Herz ausschütten.
Aber sie glaubt mir nicht mehr, erst wenn ich in
vier Wochen zu ihr käme mit dem gleichen Qe-
fühl für „ihn“. Merk Dir und Kurtchen bitte den
Tag, es war gestern, den neunzehnten Dezember.
Ich bin ja fest iiberzeugt, daß mein Herz mich nicht
betrügt, ich kann im Grunde bauen auf mein Herz,
aber, wenn mich das hier im Stich läßt, dann werde
ich oberflächlich.

Ich habe an Tristan geschrieben: Süßer Tri-
stan, nachts versammeln sich alle meine Vorfähren
in meinem Zelt, Kalifen und Derwische und Pa-
schas in hohen Turbanen. Und auch ein Häuptling,
der mir das Tanzen beibrachte über die Leiber der
Ungläubigen, droht mir nun mit Allahs Zorn. Tri-
stan, du bist ein Ungläubiger. Aber ich liebe dich,
Tristan, und mit dem Qolde deiner Locken blende ich
das Auge des Qesetzes im Koran. Und meine Pa-
läste und meine Dromedarherden schenke ich dir,
die werden vor dir niederknien, zottige Sklaven,
wenn du sie besteigen willst. Und die Schnüre
meiner wilden, blauen Perlen sollst du um deinen
Nacken tragen und meinen Ring nimm mit der
Sinthflutperle. Und' ich schenke dir mein Herz,
das kannst Du in die Hand nehmen und damit
gaukeln. In ihm spiegelt sich der brennende Dor-
nenstrauch des heiligen Berges und die Nacnt und
ihre unsäglichen Sterne. Ich liebe dich, Tristan.

Tino von Bagdad

Lieber Herwarth und liebes Kurtchen, daß eine
Karte ironisch lächeln kann, hat mir Eure bewiesen,
auch eine gewisse zuschauende Väterlichkeit geht
von den abgeklärten, temperamentlosen Buchsta-
ben aus, lauter Qreisenhaare. Ihr habt sie wohl
zusammen angefertigt? Abgeklärtheit muß kolos-
sal schwer sein, mir wenigstens. Dein Hand-
schriftsbild, Herwarth, ist doch sonst ein Sympho-
niekonzert oder eine Pantomime und Kurtchen
präsentiert sein Selbstporträt, jeder Haarstrich
seiner Zeilen ist er. Vor allen Dingen ist es
eine Frechheit von Euch beiden, Euch so erhaben
über mein Qeständnis zu benehmen.

Else

Lothar ursd Gertrud
von Kunowski

In einigen Bänden seines großen Werkes
.„Durch Kunst zum Leben“ begleitete L o t h a r
von Kunowski schon mehrfach mit dem Wort
seinen Kunstunterrieht, über dessen Anfang und
Fortführung, Grundlagen und Qesetze jetzt ein
großes Buch mit vielen Abbildungen unter dem
Titel „Unsere Kunstschule von Lothar
und Gertrud von Kunowski“ (Verlag für National-
stenographie) vorliegt. Man findet hier den klassi-
schen Fall der Frau als Trägerin der Idee des Man-
nes. Dieser, aus der Erfahrung mit der Qriffel er-
tasteten Idee: es besteht eine rhythmische Korre-
spondenz zwischen den Dingen. Ein Rhythmus der
Maße und der Helligkeit. Alles ist im Verhältnis.
Dies auf die Entstehung des Bildes transponiert,
crgibt beim Zeichnen das Verfahren: Kontur an-
zeigender Formstrich, Halten des Auges und
der Hand, von da V i s i e r e n und Erreichen korre-
spondierender Punkte mit rhythmischen Sprüngen.
Gewiß wird gemessen, aber nicht schematisch mit
dem Lineal von Punkt zu Punkt, räumliche Kraft-
linienbündel der Form zerschnejdend, sondern tän-
zerisch im Rhythmus den Raum abschreitend von,
optischer Assoziation zu Assoziation. Das Licht ist
Wegweiser zu den korrspondierenden Punkten, und
die Fingerzeige des Lichts von Punkt zu Punkt, von

Kante zu Kante führen zu den „Brennpunkten der
Form“, darin die Oberflächenwerte eingehängt sind.
Die sind nach Form und Valeur bestimmt durch
jene Visierlinien des Lichts, von denen keine ab-
strakt ist. Kunowski hat die Erscheinung der
„schwebenden Tonflächen“ begrifflich festgelegt.
Jene interessante Erscheinung, daß jeder Strich auf
dem Papier Wirkungen hervorruft, die weit über
seine lineare Ausdehnung hinauswallen, die
Flächenteile in verschiedenen Helligkeitsgraden
erscheinen lassen. (Aehnlich, wie wenn man im
Dunkel eine Fläche mit einem Phosphorhölzchen
bestreicht.) Meister wie Schongauer stellten diese
geheime Kraft in ihren Dienst. Auf einem papier-
weißen Himmel vermochten sie mit ihrer Hilfe und
einem Strich den Heiligen eine noch hellere Glo-
riole zu geben. Van Qogh bringt eine Sonne da-
durch fertig, daß er von einem Zentrum Radial-
striche ausgehen läßt, und so bekommt die Hellig-
keit im Zentrum eine Brisanz, daß die Augen flim-
mern. Runowskis Verdienst ist es, diese gleichsam
esoterische Eigenschaft der Linie in den eben ange-
führten Begriff geprägt zu haben, so daß der Leh-
rer damit operieren kann. Denn da der Begriff aus
dem künstlerischen Schaffen hergeleitet ist, wird
sich ein künstlerisches Schauen leicht wieder da-
ran knüpfen. So entwickeln die Qerüstlinien aus
der Papierhelligkeit die Oberfläche der Körper, frei
und leicht entsteht sie als Widerschein aus der
Dynamik der inneren Form, wird nicht mit Semmel
und Knetgummi einer Schicht Kohle oder Qraphit
unorganisch eingetupft.

Auf diese Art vom Schüler hervorgebrachte
Akte werden schon früh in Zusammenhang mit
Dingen der Umwelt gebracht. Dadurch entsteht jene
Totalität, die von Qoethe für das literarische Kunst-
werk verlangt wurde und intellektuell-ästhetisch
gemeint war, bei Kunowski zu einer bildhaften
Totalität wird, die hier bedeutsamer ist, als in
den Bezirken des psychischen Lebens. Sie ist
streng an dem Rhythmus des Helden orientiert, ja,
sogar nach ihm organisiert. Denn „Schatten und
Licht sind nicht nur abhängig von der Stellung der
Lichtquelle und von der Richtung ihrer Strahlen,
sondern von dem freien, selbständigen Vermögen
der Qeschöpfe, so zu wachsen, daß von konstru-
ierbaren Schatten und Lichtflächen überhaupt die
Rede sein kann. Es ist eine Leistung der Qegen-
stände selbst, daß man an ihrer Oberfläche Ab-
stufungen von Schatten, Halbschatten, Tiefen,
Lichtflächen und Qlanzlichtern in deutlicher Trem
nung sieht. Sie selbst schaffen der Sonne die Mög-
lichkeit, Qesetze von Schatten und Licht ablesbar
in klarem. anschaulichem Organismus darzustellen.
— Von innen her durch das rhythmische Raumge-
fühl wird der Organismus von Schatten und Licht
gena« so bestimmt wiie von außen durch die Licht-
quelle. Denn jedes Geschöpf edler Art trachtet,
seine Oberfläche so zu bilden, daß sie durch die
Sonnenstrahlen nicht nur überhaupt gedeutet wer-
den kann, sondern daß sie alle Reichtümer des In-
nern enthüllt und ausbreitet. Eine Auswahl der
Sonnenstrahlen ist unentbehrlich zum Aufbau und
Wachstum der Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine.
Die Auswahl geschieht durch die Farben der Ober-
fläche, welche einen Teil des Lichts zurückweisen,
einen Teil ins Innere aufnehmen. Aus den Energien
selbstgewählter Strahlen baut jedes Wesen seinen
Leib und gibt physische Lichtkräfte wieder als
geistige Organisation seiner Oberfläche, als an-
schaulichen Ausdruck seiner Seele. Dieses Streben
aller Wesen nenne ich den Drang der Natur nach
Sichtbarkeit.“ Als Eigenschaft der Dinge und
des Kunstwerks möchte ich das den „Stil“ nennen.
Stilisieren hieße dann: den Rhythmus im Extrakt
geben.

Kunowski ist kein Pauker auf sein System, er
organisiert das Qewächs einer sich frei entwickeln-
den Veranlagung. Nicht bedeutungslos für den Auf-
bau seiner Schule ist der Satz von den Aegyp-
tern als den größten Erscheinungsarchitekten,
da sie ein ganzes Land nach dem Rhythmus ihrer

Metaphysik organisiert hätten. Nichts anderes ist es
übrigens, woraus sich Kunowskis System kristal-
lisiert. Jedes Ding bestimmt seine Physiognomie
aus sich; wie er eben bewies. Die Perspektive aber
ist abhängig von der Optik unseres Auges. Ku-
nowskis Bestreben geht nun darauf aus, die Auto-
nomie des Objekts mit der durch die wissenschaft-
Iichen Gesetze geregelten siubjektiven Auffassung
zu einer bildhaften Erkenntnis zu verbinden Dabei
ist leider wenig von der Farbe die Rede Nicht um-
sonst sagt Kunowski am Schluß, daß außer der
Natur noch Leonardo da Vinci und Qoethe seine
Lehrmeister gewesen seien Also der Konstrukteur,
das Qenie des künstlerischen Systems und der aus-
gesprochene Linearist, der der Farbe nur wissen-
schaftlich näher trat und den Koloristen Jean Paul
nicht verstehen konnte. Kunowski ist auch ein
Italiener in diesem Sinne. Die Figur muß
bis aufs äußerste artikuliert sein. Stets ist
bei der Besprechung der vierundzwanzig Ab-
bildungen der „Kunstschule“ viel die Rede
von den funktionellen Spannungen innerhalb
der Bildfläche, aber es wird wenig gehandelt
von den Entspannungen der Farbe und den koloris-
tischen Belastungen. Kunowskis Auffassung von
der Aufgabe der Farbe ist gefährlich und kann zum
Virtuosentumm verleiten ohne das „faustiche Stre-
ben nach Erkenntnis“. Den Van Eyck führt er auch
für sich an, während er doch das Andere hätte von
ihm lernen können: das Holländische, das auf die
Materie abstrahieren, bei einem Qelenk zeigen, daß
es mehr ist als ein Scharnier, das zu klappen hat,
nämlich etwas aus Knochen und Haut von anderer
Struktur als sonstwo am menschlichen Körper; und
überhaupt das mit dem Griffel an die Leinwand
schlagen und psychische Ströme hervorfluten
lassen.

Man hat dem Unterricht Kunowskis den Vor-
wurf gemacht, er sei zu stark in die Abhängigkeit
des Begriffs gekommen. Mit Schuld daran mögen
nebst anderm seine Erklärungen zu einem Stilleben
sein, das eine Glasurne, Eichenblätter, eine Ranke,
das Haupt Napoleons und ein von einem Stein be-
schwertes Buch zeigt. Kunowski spricht dabei
vom Sinn der Bewegungskurve, die vom Stein zum
Buch läuft, von ihrem Zusammenhang mit Raum und
Zeit. Es scheint mir in solchem Falle ein logischer
Denkfehler de§ Kritikers vorzuliegen: er verwech-
selt den Inhalt mit dem Charakter der Darstellung,
spricht von einer ideologischen Darstellung, statt
von 4er Darstellung des Ideologischen. Wie der
Staatsanwalt iiber eine unsittliche Darstellung in
der bildenden Kunst in Wallung gerät, während es
sich in Wirklichkeit um die sittliche Darstellung von
etwas Unsittlichem handelt. Qewiß kann man von
diesem Buche sagen „Im Anfang war das Wort“,
aber die künstlerische Tat war dann vorher. Daraus
resultiert nur ein neus Verdienst Kunowskis, das
ich bereits an einem Falle exemplifizierte, nämlich
das Prägen von anschaulichen Begriffen für Er-
scheinungen der ätherischen Oberfläche, die un-
serer an der Substanz entstandenen Sprache nicht
leicht fallen. Optische Erscheinungen sind schwer
zu fassen, und unser Auge kann ja nicht einmal
e i n m a 1 in dem herrlichen plötzlichen Braun der
Augen der Qeliebten baden, denn ehe der Blick
noch ganz hineinstieg, ist die Farbe eine andere.
Hier haben wir den Mann, der die Beschattung
durch eine Linie festhält und als „schwebende Ton-
fläche“ einsteckt, der eindringlich spiirend den
„Brennpunkt der Form“ aufsuchte. Das sind
schlagende Bezeichnungen, leider aber für die
Leute Schlagworte, und da man ihnen etwas vom
Rhythmus gesagt hat, sind sie nun gleich damit bei
der Hand. Aber mit Worten allein läßt sich da nichts
tun. Es gibt keine andere Befreiung innerhalb die-
ses Systems, denn diese, es als»Funktion frei in der
Hand zu haben. Dazu aber ist Arbeit nötig.

Zu Anfang des Werkes sagt Kunowski: „Je
stärker Talent und Individualität, desto größer ist
das Verlangen nach methodischer Ausbildung.“
Man ist seit den Tagen der großen Franzosen, die

’3726
 
Annotationen