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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 61 (April 1911)
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Walden, Herwarth: Zeitgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0040

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Zeitgeschichte

Die Kunst ara Montag

Der Mensch fröhnt am Sonntag der Lust des Leibes.
Nichts ist natürlicher, als dass am Montag das schwache
Fleisch den willigsten Geist findet, sich künstlerisch aus-
zuleben. Zu diesem Zweck sind unter anderem die
Montagszeitungen erfunden worden. Sie erscheinen
nach den allerhöchsten Feiertagen Dienstags und
nehmen als Organ des Publikums auf den verdoppelten
Schwächezustand Rücksicht. Am Dienstag nach Ostern
sind tatsächlich alle bösen Geister auferstanden. Das
Berliner Tageblatt mit seinen englischen Heerscharen
geriet total ausser sich. Herr Matthias verbreitet sich
auf der ersten Seite über Schülerselbstmorde, beklagt,
dass die „deutschen Jungens nicht mehr in der Lage
sind, Quäntitäten Bieres zu vertilgen und aus gesund-
heitswidrigen Pfeifen energisch rauchen zu können.”
lhnen fehlt die Dickfelligkeit. Der Autor bittet für
dieses Wort höflichst um Entschuldigung, das heisst der
Herr Matthias. Ja, sagt er, die Schule ist reich an
verweichlichten Schwächlingen. „Und diese Schwäch-
linge werden noch obendrein von ungesunder Lektüre
pessimistischer Art so ungünstig beeinflusst, dass ihnen
der Wille zum Leben, zum geistig-gesunden Leben,
und die Kraft, sentimentale und melancholische Regungen
niederzukämpfen allmähiich gänzlich verloren geht “
Freilicf, wenn die Schüler das Berliner Tageblatt lesen,
werden sie kaum noch die Kraft aufbringen, sentimentale
und melancholische Regungen niederzukämpfen. Aber
das geistig-gesunde Leben schäumt nur so unter dem
Doppelstrich. Da finden sie gleich auf der ersten Seite
eine Satire des Herrn Karl Ettlinger zu München.
Herr Ettlinger ist kolossal witzig, fast noch witziger
als der Bruder Joseph, der aus der Literatur wieder
so herausschallt wie niemänd hineingerufen hat. Herr
Karl Ettlinger, der Satiriker, verspottet die westlichen
Damen, die auf dem östlichen Diwan Romane nur
oberflächlich lesen. Diese Damen sollen nach Herrn
Ettlinger über Bücher sprechen, von denen sie nur den
Anfang, das Ende und einige Seiten aus der Mitte
gelesen haben. Die Seite eins eines Romans beginnt
so: „Ein herrlicher ^Frühlingstag lag über dem kleinen
Gärtchen. Die ersten Veilchen blühten und sandten
ihren feinen Duft “ Der Roman schliesst: „Richard
aber schlang seinen nervigen Arm um Agathens schlanke
Taille . . .“ Der Herr Ettlinger tut den Damen un-
recht Wie glückiich wäre man, wenn sie solche
Romane tatsächlich nicht lesen würden. Aber wenn
sie so anfangen und so enden, Herrn Ettlinger, werden
sie verschlungen. Geschieht es nicht, so sollte man
sie zur Belohnung für ewige Zeiten von der Verpflich-
tung entbinden, die Gedichte Karlchens und das
literarische Echo des Bruder Josefs zu lesen und
Satiren über sich zu dulden.

Auf der zweiten Seite dieser Feiernummer geht es
auch recht lebhaft zu. Herr Dr. Graf Franz Matuschka
bricht über dem Strich die bewährte Lanze für Karl
Schönherrs Glaube und Heimat. Die bewährte Lanze
rennt er dem „Antikulturriesen, dem ultramontanen
Klerikalismus“ in den Bauch Schönherr soll ihm als
Kämpe helfen „Licht zu verbreiten und die Gemüter
aufzurütteln.“ Wenn der Graf mit dem Dichter geht,
werden ihn die beiden schon zwingen Und unter
dem Strich tritt der Goethebund (bekanntlich der Herr
Sudermann) mannhaft für gute Literatur ein. Jede
deutsche Volksbücherei sollte sich schämen, nicht die
Werke von Sudermann, Dreyer, Herzog und Presber
zu besitzen. Auch die „Nationalbühne“ steht wieder
einmal in Aussicht.

Auf der nächsten Spalte wird die melodramatische
Bearbeitung des Uhlandschen Gedichtes Das Schloss
am Meer von Richard Strauss angezeigt Herr Is findet
die Gattung zwar anfechtbar, aber sieht doch die
„Faktur des Meisters in jedem Takt“. Man sollte von
einer Klaue nicht immer auf einen Löwen schliessen.

Und endlich, endlich, offenbart sich der Geist der
Zeit, nein, offenbart der Zeitgeist vertreten durch
Fritz Engel einen neuen Dichter. Herr Engel muss
auch mal was entdecken. Herr Engel hat einen Brief
bekommen aus einem Dorf im Kreise Neustettin. Von
einem Dorfschneider. Und dieser Dorfschneider ist ein
Dichter. Zwar weiss Herr Engel, dass „selbst aus
karger Ackerkrume seltene Blumen erwachsen können.“
Berliner Redakteure sollten sich nicht auf die Botanik
verlegen. Mir haben Kenner bestätigt, dass die Natur
nicht so ohne weiteres Orchideen aus unserer pommer-

schen Erde spriessen lässl, aber in Berlin treibt sie
Blüten, dass man seine gute Mark garnicht wiederer-
kennt. Bei Herrn Engel offenbaren sich sogar auf dem
Felde Geheimnisse, und Quellen dringen hervor,
die Herr Engel sicher mit der Wünschelrute ge-
funden hat. Aber dieser Naturdorfschneider ist ein
Phänomen, nicht etwa eine „Naturbegabung“ wie
man aus der Ackerkrume schliessen könnte, sondern
eine „literarische Begaburg.“ So erklärt Herr Engel
Er lässt sich den Dorfschneider nach Berlin kommen.
Der Mann erscheint auf der Redaktion, „ein wenig
erregt“ (Berliner Tageblatt,iRedaktion, Presse, vastehstel).
Der Mann verrät nicht nur ein Streben nach Eleganz,
er hat „sogar einen flotten Schnurrbart“ und fühlt den
Wupsch, sich „gebildet auszudrücken“. Er kann sich
Herrn Bngel gegenüber doch keine Blösse gebenl
Herr Engel „erlebt die merkwürdige Stunde »eines
Lebens“. Der Schneider offenbar nicht. Herr Engel findet
eine Erklärung dieser literarischen Schneiderbegabung
in der Tatsache, „vielleicht“ in der Tatsache, dass Herr
Wittstock, so heisst das neuste Genie, „t’rüher nicht
ganz taktfest auf der Brust war.“ Herr Engel wird
nicht seine seine Kameliendame kennen. Der Schneider
hat Wilhelm Tell, die Heimat und sämtliche Werke von
Frenssen gelesen. Sonst nichts. (In Pommern
braudit sich also der Goethebund nicht mehr bemühen).
Aber Herrn Engel geht noch immer nicht das Licht
über die literarische Begabung auf. Das ist auch
nicht so einfach, wenn man eine® eleganten Pommern
in traulicher Dämmerstunde gegenübersitzt. Aber der
Schneider kennt Heinrich Heine nicht. Furchtbarer
Gedanke. Herr Engel hat daher sofort die Empfindung,
dass der Dichter heute noch „halbbiind und halbtaub ist.
Aber stumm, oder nur halbstumm ist er nicht.“ Auch
Herr Engel kann den Mund noch nicht halten, redet
noch von der Wüste und den Fruchtgefiiden und dem Lenz
und den kahlen Aesten und den jungen grünen
Blättern und den lebenshun«rigen Blüten, kurz nur von
Botanik. Und das Allerschlimmste, sozusagen das
Halbblinde: Herr Wittstock weiss nicht einmal, was das
Wort Metrik bedeutet! Und trotzdem kann er dichtea.
Ja, die Natur ist unerschöpflich. Sie treibt Orchideen
in Pommern und Fruchtgefilde in Berlin, Quellen
springen aus der Jerusaiemer Strasse, Herr Engel kennt
Heinrich Heine und das Wort Metrik, und der Herr
Wittstock, die unnatürliche Literaturbegabung dichtet also:

In nebelgrauen weiten Fernen
sucht brennenden Auges ich das Glück.
lm Staub des Weltalls, auf den Sternen,
in drängender Nähe im Augenblick.
lch sucht es immer — allerorten — — —
Ich fand vom Glück nur Widerschein,
der flimmernd durch die Friedhofspforten
herüberzittert vom Leichenstein!

Ich lebe noch!

Und auch so:

Fühl’ noch des Herzens Pochen,

spür’ in den Adern pulsen noch das Blut.

Schwer drückt das Joch

und tausendfach zerstochen

rom Missgeschick, flaggt ab der Mut.

Und auch so:

Traumdunkle Dämmerstunde

legt sich wie Schmerz auf die Glieder.

Wühlt in vernarbten Wunden,
wecket das Schlummernde wieder.

Längst entschwundene Freuden.

Ich verpfichte mich, Herrn Wittstock sämtliche
Werke von Heinrich Heine kostenlos zu übersenden.
Herr Engel aber hat bis Pfingsten Zeit, einen Schuster
zu finden, der hoffentlich bei seinen Leisten bleibt.

Auch Herr Walter Turszinsky ist der Ansicht, dass
nur die Dichter dichten und die Schauseler Komödie
spielen sollen. Man wird es vielleicht in nicht all-
zuferner Zeit erleben, Herrn Turszinsky leibhaftig auf
der Bühne zu sehen Er ist „überzeugt, dass mancher
Dramatiker für den Beruf des Schauspielers viel mehr
befähigt ist“ Man wird sich seine Stücke in Zukunft
versagen müssen, denn nur die Dichter sollen dichten.
Herr Turszinsky wird vorsichtiger. Man hat ihn über-
zeugt — wir haben das unsrige getan — dass er ein
Kaufmannsdeutsch schreibt. Aber „ich gebrauche hier
mit Absicht Worte aus dem kaufmännischen Vokabularium.“
Er gibt die Absicht zu, und man ist doch verstimmt. Ja,
die bösen Literaten gönnen dem armen Kaufmann
nicht sein Stückchen Brot, mit dem er womöglich
noch Weib und Kin^er ernähren muss. Er findet es
„ünsoziai, dass der Professor, der Reichtagsabgeordnete,
der Börsianer, der Grosskaufmann in ihren Mussestunderi

mit denselben Dingen ein Spiel treiben, mit denen die
andern ihr Leben machen müssen.“ Gewiss Herr
Turszinsky hat Recht, das Leben ist schwer. Aber
warum soll dem Kleinkaufmann gestattet sein, sein
Leben mit Dingen zu machen, die dem Künstler das
Spiel bedeuten. Geschäft ist Geschäft. Man muss
leben Aber warum hat denn Herr Turszinsky, wie er
sagt, die Kunst als Lebensaufgabe oder sogar als
Beruf gewählt? Das ist eben sein Ruin. Den
Beruf kann man sich in jeder Branche wählen, aber
zum Künstler, Herr Turszinsky, muss man berufen sein.

Der geopferte Gott

Seit einigen Woche* hat sich eine kleine demo-
kratische Wochenschrift in zwei Teile gespalten. System
Zauberlehrling Der eine ist gänzlich literaturrein ge-
worden, was einen Vorteil für die Demokratie und die
Literatur bedeutet. Dafür ist der zweite Teil desto
„literarischer“. Der Hearausgeber hält Eulenberg, einen
nicht geschmacklosen Hebbelepigonen, für ein Genie,
propagiert mässige Lyrik, schwärmt für alles Zeitge-
nössische und findet es auf jeden Fall bedeutend, wenn
es nach neunzehnhundert verfasst ist. In Deutschland
bildet sich immer mehr die Methode heraus, eine Zeit-
schrift herauszugeben, um sich selber als „Persönlich-
keit“ zu fühlen. Solange diese Herrchen für die un-
veräusserlichen Volks- und Menschenrechte eintreten,
kann man ihnen ihr Vergnügen gönnen Wenn sie aber
eine Aktion für die Literatur unternehmen, bricht der
grosse, der panische Schrecken aus Karl Kraus hat
es mit dem Demokraten verdorben. Der Herausgeber
der anderen Hälfte der Wochenschrift geht einfach
nicht mehr mit. Er erklärt ausdrücklich, dass der Karl
Kraus, den er verehrte, für ihn tot ist Er hat Karl
Kraus für ein nationales Ereignis erklärt, es ist ihm so
offenbart er, in relativ kurzer Zeit gelungen, sich zu
einer Revakation seiner Meinung zu zwingen. Karl
Kraus erkennt die Götter des Demokraten nicht mehr
an Und nach dem berühmten konfessionellen Muster
erklärt der halbe Demokrat nun seinen einstigen Gott für
einen Götzen Wenn er vvüsste, wie wohl es den
Göttern ist, sobald ihnen schlechte Opfergerüche er-
spart bleiben. Die Götter sorgen selbst für ihre Opfer
mit starker Hand. Sie sind nicht auf demokratlsche
Gnade angewiesen. Sie wünschen keine Get
Sie danken für eine Aktion. Man lebt noch
wenn man totsagt und 'eine „Meinung“ hat

Der Posener Dürerbündler

„Was will das Gedicht sagen ? Was wiil es be-
deuten ? Tag und Nacht verfolgt mich der brennende
Gedanke, lässt mir die unablässige ruhelose Frage
keine Ruhe“. Sein Herz ist schwer. Was wili es be-
deuten, dass er so traurig ist ? Ein Gedicht aus detn
Sturm kommt ihm nicht aus den Sinn. „Auf ver-
schiedenen Redaktionen habe ich schon um Auskunft
gebeten, aber niemand kann mich belehren“. Wie kann
der Mann auch so naiv sein, sich bei Redaktionen
über Lyrik informieren zu wollen. Ich möchte dem
Dürerbündler, der der Posener Zeitung seinen Schmerz
klagt, gern seine Nachtruhe wiedergeben. Er wende
sich vertrauensvoll an mich. Vielleicht kann dem Mann
geholfen werden.

Sezession

Vorbericht

Auch über die Sezession wird noch immer von
der „grossen“ Presse geschimpft. Bin gutes Zeichen,
wenn soetwas noch bei der zweiundzwanzigsten Aus-
stellung geschieht Die meiste Aufregung erzielten die
Expressionisten. Herr Donath hat folgendes über *ie
zu sagen:

Ich möchte nur kurz noch den jüngsten
französischen Import erwähnen: die Ex-
pressionisten Henry Manguin, Jean Puy
und Konsorten. Was jene mit ihrem rohem
Geklexe wollen, das mögen ja die „neusten*
Ziele französischer Malerei sein; was sie aber
ausdrücken, ist nichts weiter als Unfähigkeit.

Ich brauche den Leser des Sturms wohl nicht zu-
versichern, dass diese Behauptung Blödsinn ist. Mann
kann den Beriiner Kunstkritikern nicht ausreden —
sie zu überzeugen bleibt ganz unmöglich — dass die
Maler nicht die Verpflichtung haben, von den Herren
gesehene Bilder nochmals zu malen. Für diese Zwecke
sorgt ja übrigens die grosse Berliner Kunstausstellung
usgibig. Ueber die Expressionisten wird hier noch

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