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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 89 (Dezember 1911)
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Friedlaender, Salomo: Aerosophie., [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0267

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Aerosophie.

Von Mynona

Des Morgens hat man schöne kalte Luft, ich
ging aus. Am Dönhoffsplatz traf ich den Marsbe-
wohner Myno Deusp, er hielt den folgenden Vor-
trag vor ein paar Leuten, die Droschkenkutscher
zu sein schienen; auch einige leichte Mädchen
standen dabei und stenographierten eifrig. Aber
kaum war das letzte Wort verklungen, da stellte
jch mich ihm vor und bat ihn um einige Erläuterung.
„Sind Sie auch Droschkenkutscher?“ fragte er an-
gestrengt. Ich sagte: „Logischer“. Diese Ant-
wort schien ihn mächtig zu rühren. „Sie haben
unmenschlicher Weise nicht n e in gesagt, und des-
wegen soilen Sie mich zu „fassen“ kriegen. Ich
will Ihnen den ganzen Zauber beibringen — aber
nicht h i e r. Folgen Sie mir!“ Damit ergriff er mich
fcei der Hand, ich fiihite mein Eigengewicht, als
ob mein Schwerpunkt sich verschoben hätte, wohl-
tuend alteriert; wir erhoben uns in den Luftraum,
standen einige hundert Meter über dem Kreuzberg
still und ieicht in der Luft, und Myno sprach:
„Aiso, damit Sie den Vortrag von vorhin nachträg-
lich besser verstehen, — das Zeichen oo bedeutet
doch: „unendlich“ ? Na! Ich meine man bloß: man
sol! im oo so leben wie man mit co z ä h 11! Näm-
lich n i c h t vorn Anfang, den es nicht gibt, bis zum
Ende, das es auch nicht gibt; sondern vom Nichts,
von der Null als wie von der reinen M i 11 e aus,
nach minus und plus des oo hin. Achten Sie nun
wohl auf die Torheit der menschlichen Vernunft,
daß sie das Nächts des Unterschiedes im oo als
Tod verstehe! Also wenn die Weltkraft uner-
schöpfllch wäre, so würde der Mensch sie doch „fer-
tig“ kriegen, „konstant“ kriegen — ohne die leiseste
Ahnung vom Leben dieses Scheintodes, dieser Le-
hensstarre, dieser Leben-Null!!!! (Myno spie auf
den Berg). Verstehen Sie! Der Mensch begreift
das oo niemais, weil er glaubt, es sei ohne
Grenze; und die Grenze nicht, weil er wähnt, sie
sei das „Endliche“ imoo !!! Daraus muß ein hüb-
scher Biödsinn werden. Kraft, sagt er, nimmt nicht
ab noch zu, daher ist sie nie gieich oo. Himmei!
Deswegen nur, wegen dieser elendigen logischen
und sinnlichen Versündigung an seinem co bleibt
der Mensch der Mensch. Wir Martianer kennen
eine s e h r gefährliche Krankheit, nämlich das Ster-
ben vor Lachen iiber den Menschen; iiber seine
possierlichen Alliiren )m Umgange mit seinem per-
sönlichen, leibeigenen oo. Besonders der Tragik
iieses Tieres widersteht so leicht kein Zwerchfeli.

Hamlet ist bei uns eine Lachsalven erregende
Parodie, ohne daß wir e i n e Silbe zu ändern brauch-
ten. Ein Wort von Schiller bringt uns um. Unser
witzigster Autor ist Schopenhauer aus Danzig.
Das menschliche Lachen ist uns eher antipathisch;
amüsanter ist der qualvolle Mensch, ich verrate
ihnen, daß die vereinigten Bewohner sämtlicher
Planeten des Sonnensystems sich die Erde als un-
freiwillige Lustspielbühne eingerichtet haben.“ Er
gab inir einen Stoß in die Seite, daß ich in der Luft
auf dem Kopf stand; er drehte mich liebreich wie-
der um und wollte Abschied nehmen. „Erlauben
Sie, Herr Deusp“, sagte ich, „bevor Sie verreisen,
möchte ich meine Erdschwere wiederhaben; und
übrigens, nehmen Sie Rücksicht auf meine
Fassungskraft! Erklären Sie, statt zu lachen!“

Myno winkte, plötzlich hatten wir mitten in
Lüften zwei Klubsessel unter uns; es war herrlich!

„Das oo “, dozierte Myno, „scheint ne kol-
lossale Sache, ist aber für Personen, die mit umzu-
gehen wissen, man bloß ein Kinderspiel;
ein W i d e r spiel. Es ist nämlich, wo und
wie Sie es nur finden, ein Unterschied, ein Selbst-
unterschied, und sein Selbst ist Person,— denn „Ich“
ist nur Pseudonym der ewig anonymen Person.
Einen Selbstunterschied nennt man Polarität: Das
oo ist eben nicht einfäitig schlicht, sondern polar-
geschlechtlich. Sie werden begreifen, welchen
Fehler man macht, wenn man, es zu erwägen, we-

der eine Wage benutzt noch den Wägenden in
Betracht zieht! Und nur eine grobe Krämerwage
würde, auf jeder ihrer beiden Schalen mit oo be-
lastet, mit ihrer Zunge tötlich einstehen, und uns
vom üieichgewicht eines oo eine leblose Vor-
steiiung geben. Bei „Konstanz“, bei „Erhaltung“ hat
der Mensch kein Arg daraus, daß doch hier ein oo
gegen ein oo sich aufhebe. Diese Aufhebung ist
doch ein kraftstrotzendes Drittes! Diese haarfeine
Messerschneide, iiber die der Unterschied einer
ganzen Welt balanziert, erachtet der Mensch als
nichts! Er sieht den Unterschied dieses Nichts
nicht! Sein Abergiaube an die Einartigkeit
des oo verdirbt ihm das Auge für dessen wahre
Uebereinstimmung mit sich selbst, die aus dessen
echtem Selbstwiderstreit hervorgeht, —
und die sogenannte Erhaltung aller Kraft ist ja ein
totgeborenes Kind, so lange man diesen Ehestand
der Kraft (desoo) verkennt! Mit einem Schluß-
wort: die Kraft wehrt sich nicht etwa
gegen dasoo, also keineswegs gegen unermeß-
liche Verluste und Gewinne: sonaern allein gegen
das Fehlen einer sie „erhaltenden“, das bedeutet
aber: kompensirenden, balangierenden, also kei-
neswegs toten, sonder blühenden M i 11 e!

„Mitte! Mitte? ’s klingt so wunderlich“, meinte
ich. Myno ließ die Klubsessei verschwinden; wir
standen kerzengrade in der Luft, es briselte ange-
nehm, der Himmel überzog sich mit leichten Wol-
ken. Myno kniipfte sich den flatternden schwarzen
Rock zu und sagte so laut, daß ich fürchtete, tnan
höre es bis unten: „Die echt lebendige Mitte des
oo ist eben Person, ist eben persönlich. Da hat
zum Beispiel auch die Zahlunendiichkeit in ihrer
Mitte eine Lücke, ein Loch, das der Arithmetiker
persönlich ausfüllen sollte; statt dessen zählt er
riichts und wieder nichts = 0! — Oha! Der
Mensch ist ein wahres Labsal für einen alten Mar-
tianer! Er winkte eine Wolke heran und ver-
schwand in ihr, es guckte nur noch ein schwarzes
Zipfeichen seines Rockes hervor. Ich sank wie im
lift glimpflich auf den Kreuzberg; die Kutscher
sahen so vergnügt aus.

Der Vagabund

Von Otfo Rung

Schluß

Da Iieß sich der Polizeileutnant auf einen Stuhl
fallen und blickte ratlos um sich, auf die still-
schweigenden und verschiossenen Gesichter der
iibrigen Familie.

Jan Eriksens Belagerungszustand dauerte vier,
fünf, sechs und noch mehr Tage. Er hatte alle
Türen verschlossen und verbarrikadiert und saß
mitten im Eßzimmer, mit Lebensmitteln wohl ver-
sehen, jedoch in tötlicher, dumpfer Angst vor der
Zukunft.

Er war vollkommen verwirrt von alien den
Dingen, die ihm seit seiner Ankunft in diesem
merkwürdigen Hause widerfahren waren. Lautlos
hatte es sich ihm geöffnet, ohne das gewöhniiche,
zornige und umvillige Knarren, und ihn aufgenom-
men. Mißtrauisch und mit scheelem Blick hatte
er sich während der ersten Tage in die neue Si-
tuation gefunden, und war schon ein wenig auf
der Lauer gewesen, nach einer Chance für einen
guten Coup, um sich für einige Zeit zu versehen
und dann durchzubrennen. Versuchsweise hatte er
sich dann auch etwas vorgewagt, mit dem Finger
an einige von allen den Herrlichkeiten gerührt,
nach denen er Lust verspürte — und sie wurden
in seine Hand gelegt. Er hatte nach mehr ge-
griffen, und sofort war auch das in seinen Hut ge-
fallen.

Zugleich aber sah er in dem ruhigen, lächeln-
den Antlitz seines Wirtes nichts als hinterlistige,
undurchschaubare Verräterei. Er hatte die unkiare

Empfindung, daß es mit dem Geschehenen nicht
seine Richtigkeit habe, daß es nicht nur ungewöhn-
lich, sondern auch unordentlich und unzulässig sei;
und seine plumpen Begriffe setzten dies in die Uber-
zeugung um, daß man ihn zum Narren hielt. Und
damit erwachte in ihm eine heftige, begehrliche
Raserei: nun wollte er sich nichts versagen! Nun
wollte er mit beiden Händen zugreifen, wollte sich
mit Speise und Trank fiillen, wollte schlafen und
fauienzen — in erster Linie aber dafür sorgen, daß
er diese verfluchte, boshafte, mißgünstige Fratze
ios würde, die offenbar bloß auf eine Chance lau-
erte, um sich iiber ihn lustig zu machen. Hinaus
mit dem Gesicht, aus dem Weg mit der Fratze!
Aus dem Hause. du Spion der Hölle! Und plötz-
lich erkannte er, daß das Haus sein eigen war,
und daß er zu allem möglichen Glück geboren war,
zu einem Gaudium und einem Entzücken, wie es
keinem anderen auf der Welt beschieden war.

Zunächst konstatierte er sein Gliick und seine
Macht, indem er eine Menge Porzellan in Stücke
schlug und eine Stuhllehne zerbrach. Das durfte
er, Und er durfte noch vielmehr. Er pausierte
und lauschte. Niemand kam und packte ihn beim
Kragen. Die Welt stand ihm offen. Er war des
Gltickes ältester Sproß.

Ara folgenden Tage aber saß er im Eßzimmer
hinter verbarrikadierten Türen und umklammerte
seinen Kniippel mit den Händen: seine Zähne klap-
perten, und fürchterlich harte Gedanken klopften
hinter seinen Schläfen. Jetzt mußten_sie ja kom-
men! Der Feind! Die Polizei! Alle die, die
hinter ihm hergewesen waren, die ihn schnöde be-
handelt und gehetzt hatten. Offenbar hatten sie
ihm den Strick nur ein wenig nachgelassen, daß
er ein Ende weit laufen könnte, und nun kamen sie,
um ihn heranzuziehen, wohlzufrieden mit der Zer-
störung, zu der sie ihn veranlaßt hatten; und dies-
mal war ihm mindestens ein Jahr Arbeitshaus
sicher! Aber er würde sich nicht ergeben! Er
bestand auf seinem Recht. Alles um ihn her war
ja mit Fug und Recht sein Eigentum. Das Sofa
und der Tisch dort, die Speisekammer und das
Ganze! Das alies war ihm in den Schoß gefallen!
Dem ersten, der ihm in den Weg träte, wiirde er
den Schädel zerschmettern! Achtung! Tch bin
wach, und ich schiage!

Aber es iieß sich niemand im Garten sehen.
Vor der Pforte standen allerdings vier Kinder, die
einander bei der Hand gefaßt hatten und zum
Hause hinaufgafften. Doch als Jan Eriksen sich
im Fenster zeigte, schäumend vor Grimm und Er-
regung, rannten sie schreiend und lachend fort,
•ohne einander loszulassen. Niemand erschien im
Garten auch die Poiizei ließ sich nicht blicken.
Nicht ein blanker Knopf zeigte sich! Kalter Angst-
schweiß bedeckte Jan Eriksens Stirn.

Spät am Nachmittag sammelte sich Publikum
auf der andern Seite des Weges an, junge Leute
aus dem Villenviertel, die auf der Heimfahrt vom
Geschäft von ihren Rädern sprangen und iragten,
wie zum Kuckuck es heute denn mit Klerkers Va-
gabund stehe, ferner eine Anzahl geduldiger Zu-
schauer, namentlich Kinder, die trotz dem Verbote
ihrer Mütter hinterm Zaune standen, einander an-
stießen und auf den Fingern pfiffen.

Endlich um sechs Uhr erschien Schutzmann
Jessen. Die Hände auf dem Rücken, kam er lang-
sam heran. Jan Eriksen erhob sich, plötzlich er-
muntert, erleichtert, kampfbereit. Nun sollte es
aiso losgehen, Gott sei Dank!

Aber Jessen ging ruhig weiter, teilte hier unti
da an die Rangen, die am meisten Lärm machten,
ein paar flüchtige Backpfeifen aus und trieb die
übrigen wie eine Schar schreiender Spatzen aus-
einander. Der Festung Jan Eriksens warf er keinen
Blick zu.

Nacli einer Weile sah Jan Eriksen seinen Wirt
im dunkelbraunen Paletot und weichen Hut den
Villenweg passieren. Aber auch er blieb nicht
stehen. Er ging zusammen mit einem älteren, be-
leibten Manne, der eifrig gestikulierte und redete.
 
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