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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 86 (November 1911)
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Döblin, Alfred: Der Ritter Blaubart
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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Gause, Hans: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0243

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wäherte sich zum ersten Male ihren Lippen und
küßte sie. Er sagte, er ginge noch heute in die
Stadt. Sie kauerte auf dem Qang, die Kerze war
erloschen, eine unbezwingliche Angst schüttelte
ihre Schultern. Sie hielt das Kreuz in beiden Hän-
ifcn hoch, sie richtete sich auf, die Scheite ließ sie
liegen, sie mußte über den Qang, sie mußte nach
der Tür, sie mußte in die Kammer. Hart war ihr
Qesicht, dann verzerrte es sich liilflos. Hinter dem
Kreuz schleppte sich Miß Usebill, weinend und sich
kasteiend. Den Riegel schob sie hoch. In der
Kammer ging sie händeringend auf und ab, schlug
sich die Brust, ^chlumrnerte auf dem weichen
Teppich ein.

Im Traum liörte sie ein Scharren und Krachen,
ein lautes Rufen von Männerstimmen: „Ilsebill,
rette dich; rette dich, Ilsebill, Ilsebili!“ Richtete
sich auf. Kam aus dem Felsen eine blasende
Flamme, ein brennender Mund her. Der Felsen
sprang mitten auseinander,_ aus der Höhle strömte
das Wasser, wälzte sich ein grauenhaftes Meeres-
ungeheuer, eine Meduse mit zahllosen ringelnden
Fängen; aus dem Leib schlug die zitternde, blau-
rote Flamme wie der Atem. Miß Ilsebill stiirzte
nach der Tür; die fand sie nicht; da schrie siexgell
un*d wahnsinnig: „Paolo, Paolo.“ Das Untier
zischte nach ihr; eine lähmende Siiße durchfloß
sie; sie schlug in Todesangst gegen die' Wand.
Ein blanker Spieß hing da, sie riß ihn ’nerunter,
schieuderte ihn blind in die Flamme hinein. Flalb-
iimrallend fand sie die Tür, lief, schreiend, mit den
versengten Händen um sich schlagend, über die
stummen Qänge; biieb vor ihrer Zimmertür liegen.

Bis an den grauen Morgen lag die stolze Miß
lisebill. Als sie sich auf, richtete, löste sie mit star-
rer Ruhe ihre Schuhe und Striimpfe ab, band ihre
Zöpfe auf, ging barhäuptig, in bloßem, diinnen
Röckchen aus dem Hause. durch den I orweg nach
der Stadt zu iiber die Haide, bis da, wo die Bir-
ken stehen. Sie wandte sich nicht einmal um.
Hinter ihr tobte es; vom Meere her kam ein Don-
pern und Bersten. Eine Springflut, eine meilen-
weite, graue Wand durchbrach die Dännne und
Deiche, setzte rollend und schäumend iiber die ver-
wunschene Ebene, bedeckte wieder, was ihr schon
einmal gehört hatte, dazu ein graues Schloß und
viele schlafende, armselige Menschen. Das furcht-
bare Wasser warf seine Wellen bis dicht an den
Berg heran vor der Stadt, auf dem die Birken
stehen. Ilsebill wanderte auf den Berg. Und wie
sie zwischen den Bäumen ging, trat der Nebel in
den Wald. Aus einem Baume, an dem sie betete
und ihr Kreuz aufhing, trat ein feiner, feiner Rauch,
der süßer als Flieder duftete. Er legte sich um die
wandernde Ilsebill, so daß sie eingehüllt war in die
Falten eines weiten, duftenden Mantels. Sie sah
keinen Schritt vor sich und keinen Schritt hinter
sich; und als sie merkte, daß der Mantel der Mut-
ter Qottes sie einhüllte, fing sie an zu weinen wie
ein zages Mädchen. Rascher und rascher lief sie,
aber sie stürzte bei jedem Schritt: „Ich möchte
doch leben. Ach, liebe Mutter Qottes, laß mich
doch die Blumen noch sehen, laß mich doch die
Vögelein sehen. Ach, Iiebe Mutter Qottes, sei gut
zu mir. Ich sehe, — du bist gut zu mir, wie ich
zu dir bin.“ Ihre Lippen blaßten. Sie wurde
dünner und dünner . Seufzend löste sie sich auf
und verschwand in dem feinen Nebel, der iiber die
Birken zog.

Schon hob sich die Sonne über dem Wasser, da
trabte langsam ein schwarzer Hengst mit einem
Reiter durch den JVtauerdurchbruch von der Stadt
her. Der Reiter ritt iiber den Berg, und wie er
auf der Höhe stand, schäumte meilenweit vor ihm
das graue, tobende Wasser und kein Weg und kein
Schloß. Er stieg ab, band das Pferd an
einen Stamm, ging zwischen den Birken. Ein
winziges goldenes Kreuz hing an einem Baum;
um den ging ein süßer Geruch herum. Er
zog den weichen Hut, kniete riieder und legte die
Stirn an die Rinde: „Qroße Angst hast du itns be-

schert, holde Mutter Qottes; große Liebe hast du
uns beschert, dtt holde Mutter Qottes.“

Die Städter sahen noch einmal den schwarzen
Reiter an diesem Tage des Dammbruches durch
die Straßen jagen. Dann hörte man nach vielen
Jahren wieder von ihm, als die Kämpfe in Mittel-
amerika tobten. Als Führer einer Freischar gegen
die heidnischen Indianer fiel er damals mit seiner
ganzen Schar bei einem heimtückischen Angriff.

Briefe nach Norwegen

Von Else Lasker-Sehüler

Herwarth, Kurtchen, Kameraden, Brüder, habt
Ihr an alle Direktoren der Theater im Pan den
Kriegsaufruf von Rudolf Kurtz gelesen? Er hat
über meine eingetrocknete Wupper eine Flut ge-
bracht — ich hatte mich auch schon zu Bett gelegt.
Aber nun trage ich meinen krummen Samtsäbel
an der Seite, den ich meinem Neger Tecofi zur
Theaterstatisterei lieh. Wa kadäba kabinähu
hinäma raga utu dalik, lia nahu jakrah anisä a
wahalakuhunna!!!

Der Pitter Booin hat mir sechs Honiggläser
(Gühler und Biene) für sein Bild gesandt. Ich
summe nun den ganzen Tag für mich hin. Aber
Kokoschka läßt kein Wort von sich hören. Ueber-
haupt, ich bin des Lebens müde. Ruth machte mir
den Vorschlag, für mich an Kokoschka zu schrei-
ben, er habe so reiche Gönner (?). Aber ich
kenne ja ihren Stil und nahm ihr die Mühe ab.

Sehr geehrter Herr Kokoschka. Eigentlich sollt
ich Ihnen böse sein, denn Sie haben es nicht einmal
der Mühe wert gehatten, nachdem Sie stets die
größte Gastfreundschaft in unserem Hause genossen
hatten, sich zu verabschieden. Aber rnan kann Ihnen
nicht böse sein. Das sagte ich gestern noch zu
Frau Lasker-Schüler, die sehr krank irn Bett liegt.
Schreiben Sie ihr doch eine Zeile, daß Ihnen Ihr
Bild Freude gemacht hat — sie ist doch ein so
geliebtes, armes Qeschöpf und hat so für Sie ge-
schwärmt. Es geht ihr sonst auch gar nicht
gut. Von mir weist sie jeden Happen zurück, sie
ist ja so eigensinnig. Aber könnten Sie nrcht in
zarter Weise etwas für sie bei Ihren Freunden
erzielen? Ich bitte herzlich um Diskretion, ge-
ehrter Herr Kokoschka, Sie wissen doch, wie
empfindlich sie ist. Und verbleibe mit freund-
lichen Qrüßen Ihre Ruth Elfriede Caro

Internationale Postkarte

„Schweigt mir von Rom —“

Liebe Eiskühler. Der Bischot und ich sind
entzweit, er behauptet, ich habe ihri mißbraucht.
Wie mißbraucht man Jemand? Ich möche so gern
wieder mit ihm gut werden und ihn am besten
selbst fragen. Herwarth, schreib Du ihnr ein
Wort! (?) Herrn Architekt Gregor Münster, Hil-
debrandstraße 11. — Er wollte mich ja auch

hauen, ich meine in Stein als Freske. Vielleicht
komm ich wo an ein Haus. — Qestern setzte ich
mich an seinen Tisch, er trank Kiimmel und Sy-
phon. Ich rief Otto, der brachte mir auch ein
Qlas, als ich es rnit dem fremden Syphon fiillte,
tnußte der Bischof sich das Lachen verbeißen.
Aber er sprach nicht mit mir. Er erzieht mich
reizend. Oder er hat Charakter; wie inan so
sagt, wenn man seine Eigenschaften eingeschach-
telt mit sich trägt. Also er ist berechenbar; ich
bin unbequemer und schwieriger. Ist das eigent-
Iich nicht vornehmer? Oder er tut nur so mir
gegeniiber. und verfolgt Deine Taktik, Herwarth,

wenn du den Beleidigten spielst. Du weißt,
Brüche werden mir schwer. Was man so alles
durchmacht!

Gediehte

Von Hans Gause
Erinnerung

Bei Ansorges „Acherontischen Frösteln“

Schließe den himmelblauen Tag,

Durch die Lider fällt Laternenschein.

Weite, leise, dichte Wälder rings,

Farbige Schmetterlinge über dem Schlag,

Der Boden strotzt in süßer Blüte rechts und links.
Hier muß ein Heiliger begraben sein.

Sechs Jahre lieblich dumpfen Qlücks verstrahlten,
Da schüttet Deliram ihr Heimweh aus:

Zum Kaiser, Prinz! Qold und Rubinen halten
Die Kuppelwölbung bergkrystallnen Blaus,
Zweitausend Jahre alt, mit goldner Krone
Qeschmückt den Totenschädel, liegt der Geister
Und Chinas Kaiser auf dem gelben Throne.

Des Steins der Weisen und des Todes Meister
Sechs letzte Flaare seines Barts beweisen
Und seine Nägel, die den Boden kehren.

Ich weine. Warum eilt ihr denn zu reisen,

Ich wollte euch Unsterblichkeit bescheren
U‘nd gerne sterben nach vier Jahreskreisen.
Ausgeliefert seid ihr jetzt und von Geistern

eingenetzt.

Folgt dem Zwang. der reizend scheint, gut hab

ich’s mit euch gemeint.
Er schließt die Augen, die Glocke brummt,

Eiri Qeist, von Kopf zu Fuß vermummt,

Schwarz und stumm tritt aus der Wand,

Der Kaiser reicht ihm stumm die Hand,

Dumpfes Dröhnen heult und faucht,

Rubin, Smaragd und Gold verraucht,

Zu und auf geht schnell der Tag.

Untergang

Wenn die abendbeleuchtete Schneide erreicht ist,
Kollert ein großer Kopf von meinen Schultern

nach unten.

Es wird klar, daß die Welt leicht ist,

Bis auf das Entfreindete ist alles verschwunden.

Die Erleichterung des Schreitens
Noch im Wald, im Abendrot
Spottet des Glückes Not
Und aller Qedanken Begleitens.

Des Wunders mir erst halb bewußt,

Hör ich weither den Todesstrom rauschen.

Wenn der Qlanz auf den Jochen ins Steigen gerät,
Gibt es keinen Verlust.

In den Griinden saust die Nacht. Es ist spät,

Zeit, das Leben einzutauschen.

In öden Meeres Wellensehlag

Konmit der Wind aus roher Welt,
Alles hat sich schnell verstellt.

Durch den stillen Regenschmelz
Qeht die Angst im Nebelpelz.

Seit der Regen streifig mustert,

Stehn die Disteln aufgeplustert,
lst der Samen reif zum Flug,

Schleift die Luft den Weltbetrug.

Weh, an dem verfluchten Ort
Starb ein Heiliger durch Mord.

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