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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 87 (November 1911)
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Ehrenbaum-Degele, Hans: Gedichte
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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Rung, Otto: Der Vagabund, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0251

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I

Sehlaflos

Die Rosen schwammen in dem Biau der Nacht
Wie weißer Vögel wechselnde Qestalt
Und lauschten auf des Brunnens Rauschen. das sich
lns Dunkle ganz zuriickgezogen hatte.

Mit seltner Schärfe aber sah der Mond
Auf das Qefliister des verträumten Laubs
Und gab sein Qrausen dem Lied der Blumen bei,
Das heiß und voller Leidenschaften war.

Briefe naeh Norwegen

Von Else Lasker-Schüler

Ich war heute ais Petz verkleidet im Cafe.
Ein Autolenker hatte mir sein Fell geliehen. In
dem hinteren Raum saßen die Theaterheimkehren-
den, der Doktor Loeb m'it seiner jungen Frau Des-
demona. Auf ihrem holden Mädchenangesicht
spielt schehnische Dämonie. Am Nebentische de-
battierten dieOberlehrer; beiProfessorCohn würde
ich noci, heute Latein lernen. In der kleinen Sofa-
ecke aber schlummerte Höxter, er läßt lässig die
Fransen über die Augen hängen. Sein antiker Rock
zerbröckeit schon, aber grünseidene Strümpfe trägt
er in Lackschuhen. Neben ihm saß Frau Spela leise,
eine heimliche Schnecke. fein zusammengebailt.
Mondscheinfarbene Parkstimmung. Aus dem Zen-
trum des Cafes lacht Fritz Lederer-Rübezahl mit
seiner Frau, die hat einen kiihlen, vornehmen Spür-
sinn und Augentulpen, die blau sind. Und denke,
Otto Freundlich aus Paris ist hier wegen der Neuen
Sezession, er betrat mit Oangolf zusammen das
Cafe, der kommt immer aus Italien, ob er von Frie-
denau oder Florenz anlangt. Cajus Majus brummte
ich einige Male aus meiner Bärenhaut an. Auch
Pechstein mit seinem Indianermädchen sah ich und
M. Richter mit seiner Römerin. Und die vielen, die
ein- und ausgingen, zuletzt kam unser lieber Direk-
tor Wauer, der erkannte mich in meinem Qezott,
ich schwitzte aber aucli eine ganze Wupper.

lnternationale Postkarte

Schweigt tnir von Rom!

Lieber Herwarth und Kurtchen.

Daniel Jesus, der Köniig von Böhmen, ist hier;
ich meine Paul Leppin. Er hat einen neuen Roman
gedichtet, er widmet ihn mir; er schrieb es schon
von Prag aus; Liebe, liebe, liebe, liebe Tino. O,
weich eine üebe Ueberschrift, ein Lied. Ich möchte
viele Leute nun so singen lehren.

Sehr edle Oesandte

lch, die Dichterin von Arabien, Prinzessin von
Bagdad, Enkelin des Scheiks, ehemaiiger Jussuf
von Aegypten, Deuter der Aehren, Kornverweser
und Liebling Pharaos, verleihe dem großen Essay-
isten Rudolf Kurtz den Elephantenorden mit dem
Smaragd und die schwarze Krokodilzähnenkette
erster Klasse.

Cohn reitet, Oesterheld hat sich eine Frau ge-
heiratet, alles für meine Wupper. Dabei wies
Cohn, (Oesterheld hätte gern meine Essays
genontmen) inein neues Manuskript ab. Er könne
sich dafür keinen Apfelschimmel zu dem Rap-
pen kaufen. Ich stand vor seinem Qärtchen wie
ein herausgeworfener Handlungsreisender mit der
Rolle Muster unterm Arm. „Man soll so einen Kerl
iebendig braten, oder das Genick soll er!“ —
Trotzdem er hübsch ist; jedenfalls sandte ich ihm
abends einen Abschiedsvers, daran er sich hof-
fentlich die Zunge zerriß;

Reiter und Reichsritter,

Bitter riß ich im Gewitter
lm Qinster vor Ihrem Qitter
Mein Manuskript in Spütter.

Brigitte

Heute bekam ich mit der ersten Post einen
Brief aus dem Mäuseturm bei Bingen. Dort
scheint ein Bewunderer Peter Baums zu wohnen.
Aber, daß der Mensch keinen Spaß verstehtü
Fragt mich dieser Mäusetürmer an, ob Herr Peter
Baum wirklich ein Herumtreiber ist, er könne sich
das gar nicht zusammenreimen bei der Qroß-
zügigkeit und Großfürstlichkeit seiner Romane und
Schloßnovellen. Ich hab ihm seiner verständnis-
vollen Kritik wegen geantwortet: Mein Herr, es
ist mir kein Zweifel, Siie befinden sich in der
Mause. Haben Sie denn noch nicht bemerkt, daß
meine norwegische Briefschaft ein Massenlustspiel
ist — allerdings mit ernsten Ergüssen, die bringt
so der Sturm init sich. Peter Baum hat mich be-
sonders gebeten, die Rolle des Herumtreibers in
meinem Werk zu spielen, um ganz unerkannt zu
bleiben: Ich selbst, inein Herr, knüpfte ihm ein
rotgemustertes Taschentuch um den Hals und
steckte ihm eine Schnapspulle in die zerschlissene
Manteitasche. Im wirklichen Leben ist er viei
iangweiliger, es schmerzt mich, Sie etwa zu ent-
täuschen, er sitzt nämlich den ganzen Tag oben
in seinem Zimmer und a r b e i t e t. Ich verachte
das an ihm, auch seine Qenügsamkeit, aber er ist
ein lieber, lieber, iieber, iieber Mensch, auch seine
Mama; nur der Johannes, sein Kuseng, spielt den
Baron auf meiner Drehbiihne und ist von Beruf;
Hundefänger.

Hurrah, lieber Herwarth, liebes Kurtchenü!
Hurrah!

Meine Zwillingskusinen -Theresen, Therese
Tiergarten, Therese Mattäikirchplatz schenken mir
zu Weihnachten einen Pelzmantel. Mein heißester
Wunsch. Im Sommer werde ich ihn versetzen,
schon der Hugemotten wegen.

Jakob van Floddis der Rabe, ist init einer
Puppe durchgebrannt. Immer saß er schon im
Sommer auf dem Sims vor dem Schaufenster bei
Friedländer in der Potsdamerstraße 21, und
schmachtete zwischen turmhohen Hiiten und Ro-
senkapotten das süße Marquisechen an in den
Pfauenpantöffelchen. Eine Seele. die für sechzig
Mark zu kaufen war.

Herwarth, ich glaube, daß ich dir keinen Brief
mehr schreiben kann. Als ich heute draußen vor
dem Cafe saß, überfiei mich ein wildfremdes ln-
dividuum im drohenden Mantel, ganz dicht kam es
an mich heran, beinah rannte es die Stiihle um an
meinem Tisch vor Schwung. Ich hörte den Mann
atmen wie Karl von Moor: ich sei eine bodenlose
Schwindlerin, ich berichte iiber mich historisch
falsch, ich treibe Blasphemie init meinem Herzen

denn unter den vieien, vielen Liebes-
briefen im Sturm verbärge ich nur den Unge-
schriebenen. Ich war zu gerecht, den Mann von
meinem Tisch zu weisen, ich ließ ihm sogar eine
Zitronenlimonade kommen und legtc ihm sogar
von der Platte eine Schillerlocke auf den Teller.
Er beruhigte sich, aber ich nicht, das kannst Du
inir glauben, Du und Kurtchen, Ihr beiden kühlen
Skageraktencharaktere. Ich hasse Dich plötzlich,
lieber, guter Herwarth, und Dich, Kurtchen auch
und die vielen Leute im Cafe und die vielen lieb-
und hassenswerten Menschen in der Welt! Steht
lhr nicht alle wie eine lebende Mauer zwischen ihrn
und mir. Und den wildfremden Räuber haßte ich
auch, dem ich meinen „ungeschriebenen“ Liebes-
brief diktierte, bis er unter seiner bebenden Hand
versengte.

Der Vagabund

Von Otto Rung

Fortsetzung

Als Klerker ins Zimmer zurückkehrte, war der
l eetisch gedeckt und der Vagabund stand in der
offenen Tür. Die Mütze, vom Regen ganz steif, saß
auf dem einen Ohr. Seine muffigen Kleider verbrei-
teten einen üblen Dunst; doch Klerker entsann sich,
daß die Unlust der Sinne nur eine Illusion ist. Es
fiei ihm ein, daß er seinen Qast nach seinem Namen
fragen könne. Und er erfuhr, daß der Mann Jan
hieß. Einen anderen Bescheid verlangte und er-
hielt er nicht. Die Geschichte dieses Menschen
war unwesentlich wie alles, was über den Augen-
blick hinausgeht, von Mann zu Mann unwesent-
lich ist.

„Setzen Sie sich und essen Sie.“ Er hielt es
für richtig, das dieser fremde Wanderer aß, wäh-
rend noch eine sichere Möglichkeit zu essen für
ihn bestand.

Jan setzte sich nicht, er nahm sein Butterbrot
und seine Tasse in die Hand und blieb stehen. Mit
schrägem Blick betrachtete er seinen Wirt: prü-
fend, mißtrauisch und begehrlich.

Am nächsten Nachmittag besuchte Klerker den
Schwager, der soeben vom Kontor nach Hause ge-
kommen war und dem seine Frau schon Bericht er-
stattet hatte. Der Schwager .war mehr beunruhigt
als erstaunt, da das, was sein Fassungsvermögen
überstieg, i’nn nicht in Erstaunen versetzte: „Läeber
Klerker, was höre ich? Die kleine Therese hat
ihrer Mutter erzählt, daß sich ein fremder Mann
bei dir einlogiert hat und nicht svieder weggehen
wili.“

„Das stimmt,“ sagte Klerker und setzte sich
auf das Sofa. „Aber ich weiß nictit, ob er wieder
weggehen will oder nicht; denn ich habe ihn nicht
gefragt. Ich gewährte ihm gestern nachts Unter-
kunft. Im Laufe des gestrigen Vormiitags hat er
einen längeren Spaziergang gemacht. ohne mir zu
sagen, wohin er ging. Ich hatte ihn beinahe ver-
gessen. Aber als ich heute ntorgens wach vurde
und in den Qarten ging, um meine Kletterrosen
zu beschneiden, sah ich durch das Fenster an dem
nördlichen Qiebel, daß der fremde Mann wieder auf
dem Rücken auf dem Sofa lag, mit allen Kleidern
angetan, sogar mit Stiefeln. Icli hatte ihm gestern
ein Paar neue Schuhe gegeben, aber er trug noch
seine alten durchlöcherten Schnürstiefel an den
Füßen und niuß die meinen wohl versilbert haben.
Das ist der ganze Zusammenhang, lieber Sclnva-
ger.“

„Aber das ist ja eine schreckiiche Qeschichte!
Und wo ist er jetzt?“

„Jetzt sitzt er im üarten auf einer Bank," er-
zählte Klerker und kraute sich hinterm Ohr. „Er
sitzt ganz brav da und tut nichts. Seit heute mor-
gens habe ich nicht mit ihm gesprochen. Da sagte
ich zu ihm: ,Hören Sie mal, ich möchte Ihnen gern
helfen. Und ich kann Ihnen ganz sicher im Laufe
von einem oder zwei oder vielleicht auch drei Ta-
gen etwas Arbeit verschaffen.“ Das sagte ich ihm
ohne die geringste bewußte Nebenabsicht. Aber er
drehte den Kopf heruin und sah mich durchbohrend
an. Und dann sagte er: .Arbeit? Warum solite
ich denn arbeiten! Sie Sie selbst arbeiten ja
auch nicht . . .’ Ja, das sagte er."

Der Schwager zog die Augenbrauen unwillig
in die Höhe: „Das ist ein starkes Stiick! Und was
hast du ihin darauf geantwortet?“

Klerker seufzte: „Ich habe nichts geantwortet.
Was sollte ich denn sagen? Es war ja wahr! Ich
habe mich während der letzten zwei Jahre nur mit
recht angenehmen Dingen beschäftigt!“

Der Schwager schiittelte den Kopf. Er ver-
stand diesen Gedankengang nicht, hielt aber Kler-
ker nach wie vor für einen belesenen, klugen Mann
und ausgezeichneten Denker, der mit seiner Hal-
tung also im Rechte sein mußte. Auf die Instinkte
des Schwagers übten diese Erwägungen jedoch

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