Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0245
DOI Heft:
Nr. 86 (November 1911)
DOI Artikel:Kunowski, Lothar: Doktrinäre und Lehrmeister der Kunst
DOI Artikel:Walden, Herwarth: Malerei
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0245
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Ferdinand Hodler: Männerfigur
Bleistiftzeichnung
standen diese Griffelsprache und erteilten Aufträge
ohne riesige Ausstellungsschinken vorher gesehen
zu haben.
Inzwischen aber kam es, daß man lange Zeit
nichts als Flecke in unserer Malerei sah, abstrakte
Flecke ohne sinnlichen Reiz. Fast nie brachten
Bildhauer gute Zeichnungen. Dagegen wuchs die
Zahl von Künstlern, die nie vor ein Bild von Ru-
bens traten, weil man bei diesem Kerl gar keine
Flecke sehen konnte. Alles war so räumlich, so
piastisch, so farbig, so zeichnerisch zugleich in sei-
nen Bildern. Mit Doktrinen war hier gar nichts
anzufangen. Da hieß es — die Augen zukneifen!
Und nun kam der Lehrmeister dieser Maler-
gruppe — Lovis Corinth, schrieb ein Buch, wie
man malen lernen müsse und begann mit dem „Kar-
dinalpunkt“: Der Maler muß vor der Natur die
Augen zukneifen, er darf nicht malen, ohne zu
„blinzeln“.
Blinzle doch einmal, indem du deinen Nachbarn
anschaust, einen Rosenbusch, eine Frau in farbi-
gem Gewand. Es wird alles grau verwaschen und
schmutzig werden. Bunte Vögel, Blumen, Schmet-
terlinge, alles, was jeder junge Mensch liebt, der
blaue Sommerhimmel wird grau, die Farbe schwin-
det. Kleinere Gegenstände und ihren sinnlichen
Reiz sieht man iiberhaupt nicht mehr. Es bleibt
Masse. Und sie nennt man dann „großzügig“.
So endete jene Debatte Norddeutscher in Mün-
chen, die vor zwanzig Jahren die Doktrin Kohle
und Oel aufstellten, schließlich in einer Malerei, die
Farbe überhaupt nicht kennt, weii sie durch Vorbe-
reitung mit KoMe verschimutzt wurde. Sinnes-
übungen mit reinen, unvermischten Farben, die
dem Hinhauen gemischter Flecke vorhergehen kön-
nen, genau so gut wie das Kohiezeichnen, waren
früher unbekannt. Und jetzt, da die ganze Jugend
reine, ungebrochene, leichthingeschriebene Farben
für ihre Anfänge wünscht, Striche, Flächen und
Flecke nach Bedarf anwendet, erhebt sich der dok-
trinäre Schriftwart jener Maiergruppe, Karl Scheff-
ler in „Kunst und Künstler“ mit den Worten: üe-
fahr im Anzug! Der Maler muß dumm sein! Ich
warne vor dem gefährlichen Diktator „Gedanke“,
der sich in seiner ganzen Herrschsucht erhebt!
Farbe statt Schmutz, das mag ein Gedanke
sein. Aber ist er gefährlich für den jungen Maler?
Ich denke. die Malerei fängt mit der Farbe an.
Wenig reine Farbe ist bessere Malerei als sehr viel
dicker grauer Schmutz, der jedes junge Talent tot-
schlägt, begräbt, in Oel einbalsamiert und statt ju-
gendlicher Flammen ausgebrannte Kohlehaufen
hinterläßt
Malerei
Neue Sezession
Die vierte Aussteliung der Neuen Sezes-
sion (Potsdamerstraße 122) wird beim Publikum
und in der Presse allgemeine Freude erregen. Man
wird sich den Malern wieder ungemein überlegen
vorkommen, man wird sich seiner Kenntnis mit
Stolz bewußt werden, daß Menschen keine grüne
Haut haben und daß Bäume nicht violett sind. Diese
Ausstellung ist ganz außerordentlich gut, fast zu
gut. Das allgemeine Niveau liegt so hoch über den
iibrigen Ausstellungen der letzten Jahre, daß der
Kritiker zur Unterscheidung der einzelnen Leistun-
gen ein besonderes Studium treiben muß. Die Mit-
glieder der Neuen Sezession sind alle so von dem
wirklichen Wesen der Malerei durchdrungen, und
diese Erkenntnis der Malerei selbst ist so neu, daß
die Arbeiten der Künstler ungeheuer ähnlich er-
scheinen. Scheinen. Erst wenn man das restlos auf-
gefaßte neue Prinzip übersieht, wird sich die qualita-
tive Begabung des Einzelnen begrenzen lassen. Daß
die Malerei nicht die Aufgabe hat, die Natur zu
imitieren oder Menschen zu photographieren, wird
allmählich von Künstlern und Kunstfreunden ein-
gesehen. Für Kenner ist der Naturalismus ais
Kunstanschauung längst erledigt. Die Formel für
die Kunstanschauung der Neuen Sezession wäre
etwa: die Erledigung des Plastischen in der Ma-
lerei. Nachdem die Franzosen durch ihre Werke
überzeugend nachgewiesen haben, daß die Malerei
eine Kunst der F a r b e und nicht eine Kunst der
Zeichnung ist, ergab sich die logische Folgerung,
daß mit der Farbe nicht eine andere Kunst, näm-
lich die Idastik, vorgetäuscht werden dürfe, daß
also mit anderen Worten das malerische Kunstwerk
flächig, zwei dimensional dargestellt werden muß.
In Wahrheit ist d i e s e Anschauung,„naturalistisch“.
Unsere Optik ist zweidimensional. Wir sehen die
dritte Dimension nicht, sondern denken sie nach
der Erfahrung. Die Sinne der meisten Menschen
sind durch angelernte Erfahrungstatsachen verküm-
mert, sie können sie nur noch mit Hilfe des Ver-
standes gebrauchen. Die Anschauung geht nicht
über das Auge durch die Phantasie, die Phantasie
wird vielmehr durch die vorgelagerten Tatsachen
völlig verschüttet. Ebensowenig wie die Tonver-
bindungen der Kunstmusik in der Natur vorhanden
sind, ebenso wenig müssen es die Farbverbindun-
gen sein. Wer über M'alerei urteilen will, muß erst
i h r e Logik verstehen. Die Kunst, jede Kunst hat
ihre eigene Logik. Wer die künstlerische Logik
nicht fassen kann, wird nie die künstlerische Erre-
gung, mag sie nun durch ein Gedicht, durch die
Symphonie oder durch ein Bild verursacht werden.
nachfühlen und dann fühlen können. Das alles gilt
auch von der Wortkunst. Daher sind dem „Normal-
empfindenden“ auch die Werke der neueren Lite-
ratur verschlossen. Aber nur solange, bis er den
Hochmut des gebildeten Menschen fallen läßt. —
Sie sind aUe gute Maler, die in dieser Ausstellung
Bilder zeigen. Die neue Künstlervereinigung Mün-
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standen diese Griffelsprache und erteilten Aufträge
ohne riesige Ausstellungsschinken vorher gesehen
zu haben.
Inzwischen aber kam es, daß man lange Zeit
nichts als Flecke in unserer Malerei sah, abstrakte
Flecke ohne sinnlichen Reiz. Fast nie brachten
Bildhauer gute Zeichnungen. Dagegen wuchs die
Zahl von Künstlern, die nie vor ein Bild von Ru-
bens traten, weil man bei diesem Kerl gar keine
Flecke sehen konnte. Alles war so räumlich, so
piastisch, so farbig, so zeichnerisch zugleich in sei-
nen Bildern. Mit Doktrinen war hier gar nichts
anzufangen. Da hieß es — die Augen zukneifen!
Und nun kam der Lehrmeister dieser Maler-
gruppe — Lovis Corinth, schrieb ein Buch, wie
man malen lernen müsse und begann mit dem „Kar-
dinalpunkt“: Der Maler muß vor der Natur die
Augen zukneifen, er darf nicht malen, ohne zu
„blinzeln“.
Blinzle doch einmal, indem du deinen Nachbarn
anschaust, einen Rosenbusch, eine Frau in farbi-
gem Gewand. Es wird alles grau verwaschen und
schmutzig werden. Bunte Vögel, Blumen, Schmet-
terlinge, alles, was jeder junge Mensch liebt, der
blaue Sommerhimmel wird grau, die Farbe schwin-
det. Kleinere Gegenstände und ihren sinnlichen
Reiz sieht man iiberhaupt nicht mehr. Es bleibt
Masse. Und sie nennt man dann „großzügig“.
So endete jene Debatte Norddeutscher in Mün-
chen, die vor zwanzig Jahren die Doktrin Kohle
und Oel aufstellten, schließlich in einer Malerei, die
Farbe überhaupt nicht kennt, weii sie durch Vorbe-
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übungen mit reinen, unvermischten Farben, die
dem Hinhauen gemischter Flecke vorhergehen kön-
nen, genau so gut wie das Kohiezeichnen, waren
früher unbekannt. Und jetzt, da die ganze Jugend
reine, ungebrochene, leichthingeschriebene Farben
für ihre Anfänge wünscht, Striche, Flächen und
Flecke nach Bedarf anwendet, erhebt sich der dok-
trinäre Schriftwart jener Maiergruppe, Karl Scheff-
ler in „Kunst und Künstler“ mit den Worten: üe-
fahr im Anzug! Der Maler muß dumm sein! Ich
warne vor dem gefährlichen Diktator „Gedanke“,
der sich in seiner ganzen Herrschsucht erhebt!
Farbe statt Schmutz, das mag ein Gedanke
sein. Aber ist er gefährlich für den jungen Maler?
Ich denke. die Malerei fängt mit der Farbe an.
Wenig reine Farbe ist bessere Malerei als sehr viel
dicker grauer Schmutz, der jedes junge Talent tot-
schlägt, begräbt, in Oel einbalsamiert und statt ju-
gendlicher Flammen ausgebrannte Kohlehaufen
hinterläßt
Malerei
Neue Sezession
Die vierte Aussteliung der Neuen Sezes-
sion (Potsdamerstraße 122) wird beim Publikum
und in der Presse allgemeine Freude erregen. Man
wird sich den Malern wieder ungemein überlegen
vorkommen, man wird sich seiner Kenntnis mit
Stolz bewußt werden, daß Menschen keine grüne
Haut haben und daß Bäume nicht violett sind. Diese
Ausstellung ist ganz außerordentlich gut, fast zu
gut. Das allgemeine Niveau liegt so hoch über den
iibrigen Ausstellungen der letzten Jahre, daß der
Kritiker zur Unterscheidung der einzelnen Leistun-
gen ein besonderes Studium treiben muß. Die Mit-
glieder der Neuen Sezession sind alle so von dem
wirklichen Wesen der Malerei durchdrungen, und
diese Erkenntnis der Malerei selbst ist so neu, daß
die Arbeiten der Künstler ungeheuer ähnlich er-
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gefaßte neue Prinzip übersieht, wird sich die qualita-
tive Begabung des Einzelnen begrenzen lassen. Daß
die Malerei nicht die Aufgabe hat, die Natur zu
imitieren oder Menschen zu photographieren, wird
allmählich von Künstlern und Kunstfreunden ein-
gesehen. Für Kenner ist der Naturalismus ais
Kunstanschauung längst erledigt. Die Formel für
die Kunstanschauung der Neuen Sezession wäre
etwa: die Erledigung des Plastischen in der Ma-
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überzeugend nachgewiesen haben, daß die Malerei
eine Kunst der F a r b e und nicht eine Kunst der
Zeichnung ist, ergab sich die logische Folgerung,
daß mit der Farbe nicht eine andere Kunst, näm-
lich die Idastik, vorgetäuscht werden dürfe, daß
also mit anderen Worten das malerische Kunstwerk
flächig, zwei dimensional dargestellt werden muß.
In Wahrheit ist d i e s e Anschauung,„naturalistisch“.
Unsere Optik ist zweidimensional. Wir sehen die
dritte Dimension nicht, sondern denken sie nach
der Erfahrung. Die Sinne der meisten Menschen
sind durch angelernte Erfahrungstatsachen verküm-
mert, sie können sie nur noch mit Hilfe des Ver-
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über das Auge durch die Phantasie, die Phantasie
wird vielmehr durch die vorgelagerten Tatsachen
völlig verschüttet. Ebensowenig wie die Tonver-
bindungen der Kunstmusik in der Natur vorhanden
sind, ebenso wenig müssen es die Farbverbindun-
gen sein. Wer über M'alerei urteilen will, muß erst
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ihre eigene Logik. Wer die künstlerische Logik
nicht fassen kann, wird nie die künstlerische Erre-
gung, mag sie nun durch ein Gedicht, durch die
Symphonie oder durch ein Bild verursacht werden.
nachfühlen und dann fühlen können. Das alles gilt
auch von der Wortkunst. Daher sind dem „Normal-
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Sie sind aUe gute Maler, die in dieser Ausstellung
Bilder zeigen. Die neue Künstlervereinigung Mün-
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