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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 60 (April 1911)
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Hiller, Kurt: Der Relativismus in der Rechtsphilosophie und seine Überwindung durch die Restitution des Willens, [2]
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Der Relativismus in der
Rechtsphiiosophie und
seine Überwindungdurch
dieRestitution desWillens

Von Kurt Hiller

II

Auf die wie das Schwert des Damokles gefährlich
über aller Ethik (und schliesslich über aller Philosophie)
hangende Frage: „Wie lautet der allgemeingiltige Wert ?“
antwortet Kant: „Allgemeingiltigkeitl“, spottet seiner
selbst und weiss nicht wie. Mit Recht nennt J. F. Fries
das „ein leeres Prinzip der Ordnungsliebe, von dem
sich nicht begreifen liesse, wie die Vernunft darin den
höchsten Wert setzen sollte“ 1): und wundervoll höhnt
Schopenhauer: Kants Reich der Zwecke sei bevölkert
von lauter vernünftigen Wesen in abstracto, die samt
und sonders beständig woilen, ohne irgend etwas zu
wollen — nur dieses Eine wollen sie: dass Alle stets
nach einer Maxime woilen . . . 2 *)

Rudolf Stammler’s in ihrem polemischen Teil so
überaus glänzende und als eine weltgeschichtliche Tat
anzusprechende Rechtsphilosophie ist hinsichtlich ihrer
positiven Ergebnisse abzulehnen; und zwar aus
keinem andern Grunde als deshalb, weil sie die
Kantische Hexerei mit dem Formalprinzip leider wieder-
hoIL Wie wenig d<mit anzufangen ist, zeigt sich bei
Stammler allerdings noch deutlicher; da er, im Gegen-
satz zu Kant, eifrig bemüht ist, sein „formales“ Krite-
rium auf die Materien Öes Rechts anzuwenden. Diese
Bemühungen sind völlig fruchtlos; denn alle jene „Grund-
sätze des richtigen Rechts“, des „Achtens“ und „Teil-
nehmens“, so sehr sie (stilistisch) auf formal, generell,
abstrakt, unanschaulich frisiert sind, folgen keineswegs
mit logischer Notwendigkeit aus der Form des Sollens
(aus der lässt sich überhaupt nichts ableiten), sondern
sind ganz biedere materiale Pflichtgebote, willkürlich
aufgestellt, von problematischem Wert, unbegründbar,
Dogmen. Es ist der christliche Sittenkodex, vorge-
tragen im schmerzhaften Jargon der Kant-Epigonen. *)

So ist es auch dem Rationalismus nicht gelungen,
objektive Wertmassstäbe zu finden. Und a priori
kann es ihm nicht gelingen; denn man kann nun
einmal aus formalen Bestimmtheiten nicht zu konkreten
Materien herabsteigen. Wenn Beling, in der von
v. Liszt angeregten berühmten Diskussion über den
Sinn der Rechtsvergle chung, sagt: „Aus der Empirie
führt kein Steig hinüber in das Reich des Imperativs“ 4),
so dürfen wir auch umgekehrt sagen, dass aus dem
Imperativ — wenigstens dem formalen des Kantianis-
mus — kein Steig hinüberführt in das Reich der
Empirie . . .

Dieser Bankerott des Objektivismus in der Rechts-
philosophie bedeutet nun aber nicht etwa sofort einen
Sieg des Subjektivismus; denn falls es objektive
Kriterien der Richtigkeit oder Falschheit einer (empi-
rischen oder hypothetischen) Norm nicht gibt, gibt es
überhaupt keine Kriterien dafür; sintemalen
„richtig“ und „falsch“ gar keinen Sinn hat, wenn es
nicht objektiv-richtig und objektiv-falsch bedeutet.
Subj ektiv-richtig und -falsch sagt garnichts. Es ist
zwar lächerlich, gegen den Subjektivismus Batterien
sittlicher Entrüstung aufzufahren (wie das gewisse ge-
lahrte Undenker so gern tun), — aber darüber muss
man sich im klaren sein, dass er eine Lösung des
Wertproblems nicht gibt, sondern bloss die Formei
für die Erkenntnis seiner Unlösbarkeit.

Einer der kultiviertesten unter den jüngeren Rechts-
ph'losophen, Hermann U. Kantorowicz — einer, der
mehr als die Meisten von Stammler gelernt hat und
deshalb sein gefährlichster Gegner geworden ist —

’) „Neue oder anthropologische Kritik der Ver-
nunft“, 1831, III, Seite 151

2) „Die Grundlage der Moral“, Reclam, Seite 547

*) Aehnliche Aulfassung Stammler’s — bei gleich
starker Verehrung — neuerdings: Felix Somlö,
„Massstäbe zur Bewertung des Rechtss“, Archiv für
Rechts- und Wirtschaftsphilosophie III, Seite 514; ferner
Kurt Peschke, an der erwähnten Stelle

4) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissen-
schaft, XXVI, Seite 694 (innerhalb eines vorzüglichen
Aufsatzes „Strafrechtsreform und richtiges Recht")

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hat sich mit dieser Situation der rechtsphilosophischen
Methodologie unzufrieden gefühlt und hat es unter-
nommen, nach so vielen scharfsinnigen Köpfen, aufs
neue den Stein der Weisen suchen zu gehn. Und in
der Tat: er hat ein kurioses Stück Mineral gefunden;
ob es der Stein der Weisen sei, ist freilich eine an-
dere Frage. Er selbst jedenfalls giaubt es und nennt
das Ding „Relativismus“. In dem Aufsatz „Probleme
der Rechtsvergleichung“ 1) schreibt er: „Weder der Ukas
des herrschsüchtigen Objektivisten, der alle noch so
verschiedenen Geister vor seinen Wagen spannen will,
noch der Monolog des resignierten Subjektivisten, der
die Früchte seiner Selbsterkenntnis schön geordnet als
„Mein System“ an die Oeffentlichkeit tragen zu sollen
glaubt — können das letzte Wort der Wissenschaft
sein. Es gibt eine goldene Mittelstrasse (Mittelstrassen-
theorien sind stets verdächtigl [Anmerkung des Zita-
tors]), das Verfahren des Relativisten, ein Ver-
fahren, gleich wichtig für die Zweifel der Exegese, wie
für die Probleme der Legislative. Es besteht darin,
die verschiedenen möglichen, als gleichberechtigt anzu-
erkennenden Standpunkte, wie sie Interesse, Charakter,
Weltanschauung einzunehmen heisst, aufzusuchen und
in ein System zu bringen, und nun die verschiedenen
möglichen Regelungen in ihrem relativen Werte, d.
h. in ihrer Tauglichkeit als Mittel zur Befriedigung
der genannten verschiedenen Anschauungen aufzuweisen.
Das ist eine theoretische, also echt wissenschaftliche
Aufgabe — die Wahl der verschiedenen Standpunkte aber
kann die Wissenschaft niemandem abnehmen.“ — Kan-
torowicz schiebt also die Wahl des „Standpunktes“,
eben des gesuchten obersten Sollprinzips, des Wert-
massstabes, dem Privatmann zu; die Wissenschaft
will er damit nicht behelligen. Hierbei über-
sieht er, dass der Privatmann nicht notwendiger-
weise stets „Interessen“ - Politiker ist, dass sein
„Charakter“ und seine „Weltanschauung“ (welch schwam-
miger Terminusl) ihm keineswegs immer einen be-
stimmten Standpunkt einzunehmen heissen, dass er
vielfach bloss wissenschaftlicher Forscher, Fahnder nach
Kriterien, Zweifler, „Zelot der Wahrheit“ ist. Hat Kan-
torowicz nie etwas von Skepsis gehört? Glaubt er,
dass jedermann einen Standpunkt schon hat? Igno-
riert er jenes Phänomen, welches Nietzsche „das in-
teliektuale Gewissen“ nennt? — Das, was Kantorowicz
da als „Standpunkle“ bezeichnet die er mit billiger
Toleranz als „gleichberechtigt“ „anerkennt“ —, das
sind doch weiter nichts als: Vorurteile. Diese duld-
sam zu stützen, kann nicht als Aufgabe der Rechts-
philosophie gelten. Das Problem lautet vielmehr: aus
der Fülle der verschiedenen möglichen zu dem
einen notwendigen Urteil zu gelangen. Wenn das
nicht geht, nun gut, dann eben geht es nicht, und
man soll die Courage haben, einzugestehen, dass es
nicht geht. Es ist jämmerlich, um jeden Preis das
„Fach“ retten zu wollen. Macht die Kritik der prak-
tischen Vernunft Fiasko, so melde man seelenvergnügt
den Konkurs an (selbst auf die Gefahr hin, dass einige
Dutzend Universitätsphilosophen dadurch brotlos würden),
mute uns aber nicht zu, unser System nun auf dem
Fundament eines beliebigen Vorurteils zu errichten,
oder gar: auf den Fundamenten aller möglichen
Vorurteile aile möglichen Systeme nebeneinander
aufzubauen, eines immer das andere Lügen strafend.
Wer uns dergleichen Spielerei als „Wissenschaft“ auf-
schwatzen möchte, ist, im günstigsten Falle, ein Charlatan
malgre lui . . .

Wenn anders „Döcadence“ einen Verfall der indi-
vidualen Energien, ein Erlahmen der Auswirkungspoten-
zen, einen Schwächezustand des Willens bedeutet, so
statuiert Kantorowicz mit diesem „Relativismus“ ein
Ethos der Decadence. Dieser Relativismus braucht
zwar nicht, wie Hegler behauptet, s e 1 b e r eine „Er-
müdungserscheinung“ zu sein, aber er macht unter den
um rechtsphilosophische Problematik bemühten Intel-
Iektuellen Propaganda für Müdigkeit. Zu mass-
ioser Toleranz auffordernd, lähmt er die Willenskraft
Er ist ganz gefährlich und das letzte, böseste Gift, das
der Kritizismus verspritzt. Organismen, die von ihm
infiziert sind, bedürfen zu ihrer Heilung anderer Gegen-
gifte, als wie sie der treffliche Hegler 2) verabreicht.
Dieser, ein philosophisch ahnungsloser Herr in Tübingen,

l) Aschaffenburgs Monatsschrift für Kriminal-Psycho-
logie und Strafrechtsreform IV, Seite 65 ff., insbeson-
dere Seite 102. — Vergleichen Sie auch desselben
Autors Stammler-Widerlegung („Zur Lehre vom Richtigen
Recht“), Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie,
il, Seite 42 ff., besonders Seite 73

3) Aschaffenburgs Monatsschrift IV, Seite 337 ff

leistet es sich zum Beispiel, als Erkenntnisgrund der
Richtigkeit eines Werturteils den consensus gentium
anzuführen, beruft sich fortgesetzt mit Begeisterung auf
einen Theologen Reischle und gelangt zu seiner An-
sicht über den Relativismus („sozusagen eine geistige
Ermüdungserscheinung“) darum, weil diese Theorie auf
den „unauslöschlichen Trieb“ nach einem „Festen, Ob-
jektiven und Gemeingültigen“ keine Rücksicht nehme.
Ich wage es, Hegler, obzwar er der Komparati» von
Hegel ist, zu widersprechen. Man darf, meine ich,
wenn erbarmungslos - konsequentes Nachdenken zu
peinlichen Ergebnissen führt, nicht nach der Polizei
rufen. Es gibt keine dümmeren Einwände gegen
Skeptizismen als — 1 moralische. Wenn wirklich
ein Trieb nach „Festem, Objektivem, Gemeingültigem“
in uns existiert (und das glaube ich schon; ist doch
der Mensch ein animal metaphysicum!), so wäre eine
Theorie noch lange nicht deshalb falscn, weil sie
diesen Trieb unbefriedigt lässt. Es lebt in uns auch
ein Trieb nach persönlicher Unsterblichkeit (jeder hasst
den Tod); ist darum eine Naturphilosophie, welche die
Unsterblichkeit leugnet, falsch?

Solche Einwände können die kantorowiczianische
Lehre nicht erschüttern. Der Relativismus ist über-
haupt nicht „falsch“ I Er k a n n garnicht faisch sein,
denn er ist ja keineswegs die L ö s u n g eines Pro-
blems, sondern die F 1 u c h t vor einem Problem.
Er sagt ganz richtig, objektive Massstäbe gebe es nicht
und subjektive seien bedeutungslos; aber er zieht da-
raus den Schluss, man müsse das Messen nun über-
haupt unterlassen und lieber dafür — Messungen
anderer sammeln. Oder genauer: Auf die Frage, mit
welchem der verschiedenen möglichen Massstäbe man
messen soll, gibt er die ausweichende Antwort: mit
allenl — Der Relativismus ist die Flucht vor einem
Problem. „Durch ihn wird“, wie sein Impresario auf
Seite 103, mit syntaktischer Nonchalance, sich aus-
drückt, „der unlöebare Streit um letzte Werturteile aus-
geschieden, um dem allein würdigen um Tatsachen und
Beziehungen Platz zu machen.“ (Hierbei berührt es
eigentümlich, wie jemand mit demselben Atemzug, mit
dem er den Streit um letzte Werturteile auszuscheiden
vorgibt, in einer gegen die normativ gerichteten Geister
scharf polemischen Weise das Werturteil fällt, der
Streit um Tatsachen und Beziehungen sei der „allein
würdige“! -- Das ist ein etwas zirkulöses Ver-
fahren!)

Mit diesem gegen das Werten gerichteten Wert-
urteil macht der Relativismus Propaganda für Müdig-
keit. Man kann diese Propaganda verstehen, als
Reaktion auf die Ergebnislosigkeit des jahrhunderte-
langen Kämpfens (in der Philosophie der Werte); aber
eine Sache verstehen heisst nicht: sie billigen und sich
bei ihr beruhigen.

Vervollkommnung der von Menschen für Menschen
erfundenen Einrichtungen (zumal des Staates, dieser
fabelhaftesten aller menschlichen Erfindungen) ist das
ununterdrückbare Bedürfnis derer, die sich ihres Sonder-
wertes als Persönlichkeiten, als lediglich von den ewigen
Naturgesetzen abhängiger Vernunftwesen, durchaus be-
wUsst sind und die es ablehnen müssen, sich als
blosse Objekte der Ordnungen, als stumm-resignierende
Opfer des einmal Vorhandenen, zu betrachten. Dieses
praktische Bedüifnis selbstbewusster Menschen ist
mindestens ebenso stark wie das theoretische nach
dem „Festen, Objektiven, Gemeirgültigen“, und es hat
vor diesem den Vorzug, das leichter erfüllbare zu
sein . . . Wer vermag einzusehen, weshalb man, weil
nun einmal jedes inhaltliche Sollen unbegründbar ist,
auf das Proklamieren von Sollsätzen verzichten müsse?
Die apriori notwendige Dogmatizität jeder Norm des
Verhaltens, also ein seltsamer Irrationalismus, sozu-
sagen ein Strukturfehler unseres Verstandes, soll uns
hindern, das zu tun, wozu es uns alle treibt? Wir
m ü s s e n kritisieren, verbessern, normieren: so will
es unser Wille; und wenn es dem lntellekt nicht ge-
Iingt, den Willen zu beherrschen, so ist es eigentlich
eine ganz lächerliche Anmassung dieses unzulänglichen
Intellektes, dem Willen das Dasein zu verbieten. Es
ist der Despotismus eines Schwachen, die Asketen-
moral eines Impotenten, der Schöpfungstadel eines, der
selber nichts schaffen kann. Hat eine Normation nur
dann wissenschaftliche Bedeutung, wenn sie nachweis-
bar allgemeingültig ist, und entdeckt man durch kriti-
zistische Methoden, dass eine nachweisbar allgemein-
gültige Normation ein Ding der Unmöglichkeit sei, so
möge man daraus, bitte, nicht die Forderung ableiten,
dass nun nicht mehr normiert werde, sondern eher
die Forderung: auf „wissenschaftliche Bedeutung“ zu
pfeifen. Erkennen, dass es normative Wissenschaft
nicht geben kann, verlangt keineswegs, wie der spiel-
 
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