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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 85 (November 1911)
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Lichtenstein, Alfred: Der Freund
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Hiller, Kurt: Der Selbstmord der Leonie Hallmann
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Walden, Herwarth: Meine Woche
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0236

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Der Freund

Von Aifred Liehtenstein

Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuch-
ten, sie sind ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen
wie i(ulissen vor der grauen vVolke, die Menschen
gehen wie in dem Lichtspiel: wenn der Abend wird,
nicht anders als sie in der Frühe gingen. Alle
Dinge sind wuchtiger. Und meine Kammer sieht
aus, wie wenn eben einer darin gestorben wäre.

So oft diese 'I'age sind, wächst in mir unwill-
kürlich eine sinniose Lust an der Arbeit. Ich tue
die alltäglichen Verrichtungen, als wäre Qottes-
dienst, was ich tue. Und ich verliere mich dabei.
T'ast wie die Träumenden sich verloren haben. Aber
einmai rnerke ich, daß ich reglos geworden bin und
nach innen starre.

Ich werde sehr wach davon und ich kann mich
nicht mehr hingeben. Ich gehe zu dem Fenster,
da sind wunderliche Qedanken. Die waren sonst
nur in Nächten.

Ich fühie mich fremd bei allen Dingen. Sie
drängen auf mich ein, als kennten sie mich nicht: die
Straße und die Menschen und die Türen in den
Häusern und die tausend Bewegungen. Wo ich
hinschaue, werde ich verwirrt.

Mein kleiner Tod quält mich, es war doch
schon viel Sterben und größeres. Und daß ich ein-
sam bin. Und daß iiberall ein Unbegreifliches droht.
Und daß ich mich nicht zurechtfinde. Und alle die
übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist, und
die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen al-
lein unterliegen und auf seine Weise. In der Rede
sind sie iächerlich, aber mancher geht an ihnen zu-
grunde. Ich habe Qrauen, daß ich so fremd mit mir
bin und so ohnmächtig. Bis Erinnerungen kommen.
Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie betäuben
mich.

Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes
finde oder den Tod der Mutter, der gräßiich war
und nicht zu sagen ist, oder die anderen biutigen
Köstlichkeiten. Ich lächle, wenn die Augen meines
Freundes plötzlich leben werden und in den seidi-
gen Schatten sind, daß sie wie aus Schleiern glänzen
und ihr Qeheimstes preisgeben. Niemand hat es
mir gesagt, und ihr werdet mich einen Narren nen-
nen . . aber ich weiß, daß sein Tod schon immer
in den Augen gewesen ist wie der eines anderfi in
den Lungen oder in dem Rückenmark . . .

*

Seine Augen waren elend und vergangen und
heillos schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn
er zu ihnen sah. Er schämte sich seiner Augen, als
verrieten sie von sündsamen Abenteuern und ver-
barg sie viel hinter den vergilbten Lidern. Aber
er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat, wo
er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht
selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie
ein Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor
den Mund, zog die Backen nach innen oder wölbte
die eine mit der Zunge. War verlegen. Unglücklich.
Wäre gern allein gewesen . . in dem Dunkel.

Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf
ihre Augen kam. Und wurden rot. Und grinsten
scheu und dumm. Frauen kicherten, sie schauten
wie harmlos hin und klatschten einander auf die
Schenkel oder auf die nackten Schultern und küß-
ten ihre verwüsteten Männer. In der Nacht lagen
sie wach und sannen sich heiß. Aber die jungen
Mädchen wichen ihm aus.

Der Selbstmord der

Leonie Hallmann

Da Heinrich Mann in Deutschland der vereh-
rungswürdigste Erzähler ist, möchte ich ohne Nör-
gelung, auch ohne den Vorsatz, eine Paraphrase zu
legen, sachlich und wie privatim mich erkundigen,

weshalb seine Schauspieierin das Qift nehme«
mußte. Sie pendelt zwischen dem milden, noblen
Adonis und dem Bluthund, der ihre Masochismeti
aufstochert. Zu Adonis zieht sie Inbrunst, Men-
schentum, Weibtum; siiße Sehnsucht, auf Lebens-
dauer eingestellt; auch Kühleres, Verstandhaftes;
vielleicht noch Mütterlichkeiten, im untersten
schlummernde. Zum Bluthund reißen sie Wildnisse
von Augenblicken; zum Bluthund Tiertum, das,
ausgezuckt, sie in immer neuen Selbsthaß schleu-
dert. Nun besteht der Bluthund nichtmai die Probe;
ermangelt der Stärke, um die sie ihn aniechzt; wagt
nicht, ihr den tödlichen Trunk zu reichcn. Warum
beendet sie da nicht die Verwicklungen einfach mit
einem Fußtritt? Warum — zumal sie doch auch,
mittelst Meklung bei der Polizei, das Duell verhin-
dert — schmeißt sie den Hund, den gemeinen, nicht
heraus und zeigt ihn, sofern er dabei verharrt, sie
im Heiratsfall töten zu wollen, der Staats-«
anwaltschaft telegraphisch wegen Bedrohung
an (§ 240 St.G.B.), mit Ersuchen um sofor-
tige Verhaftung? Daß sie sich ihm riach
einer heiligen Zwiesprache mit Adonis, und
trotz der, nächtens unterworfen hat, wäre als
Akt der Angst, als letztes Hysterikon auslegbar;
und exkulpabel — da Adonis sie so liebt, da seine
Mutter eine so vernünftige, eingeherische Dame ist.
Was niitzt der Tod, und löst er das Opfer etwa aus
der Geschehnisse Umkrallungen? Ist das Nichts
denn nicht unerbittlicher als ein trübstes Mininmni
von Möglichkeiten? „Wir wollen doch leben, !e-
ben!“ so ähnlich. ruft sogar Leonie selbst ötters,
mystagogische Sterbebrunst-Heroismen denkhell
für Blague erachtend. — Ich begreife den letalen
Ausgang wohl; aber auch andere begriff' ich, und
sie wären mir weniger fremd. Das Gefühl von
Kausalität genügt nicht: man muß das einer Not-
wendigkeit haben; einer mehr als kausalen. Hier
geht mir unaufhörlich durch den Kopf: Mit Psy-
chologie läßt sich Alles machen! - Dieser letale
Ausgang dient dazu, junge Finsterlinge, dic, unter
Lästerung unserer analytischen Herrlichkeiten, .die
Bltimlein des heiligen Franziskus im Urtext lesen
Taber zwischen den Qanglien Schwimmhäute
haben'.i, zu veranlassen, einen Rationalismus,
dessen Lebefanatik die Tumulte noch der destru-
ierenderen Leidenschaften überloht, als ,flach‘ zu
verhöhnen. Es ärgert ntich, daß Prediger tiner
verlognen Askese und einer verlognen Klassizi-
tät, tnit einem Schein von Berechtigung, Heinrich
Mann für sich in Anspruch nehmen können. Ich
gönne ihn dieser Sippe nicht.

Kuri HIHer

Bei Gelegeahelt der Uraufführung des Dramas
„Schauspielerin“ von Heinrich Mann im Theater iti der
Königgrätzerstraße

Meine V/oehe

Die Erbärmliehkeit der Kunst

Der lyrischc Feuiiletonist Victor Auburtin hat
sich sehr rasch zu einem tiefsinnigen politischen
Leitartikler entwickelt. In dieser gehobenen Stel-
lung ü b e r dem Strich sieht er naturgemäß erhaben
auf die Kunst u n t e r dem Strich herab. Man hat in
Nummer 78 dieser Zeitschrift gelesen, welche Qua-
len fiir den Leser der Raub der Mona Lisa durch
Herrn Auburtin heraufbeschwor. Er konnte sich
damals „das Entsetzliche nicht ausdenken“. Aber
der Mensch gewöhnt sich an alles. Herr Auburtin
kann nicht nur ohne Mona Lisa weiterleben, als Po-
litiker treiben ihn andere Sorgen. Wird Herr Cail-
laux Frankreich weiter regieren dürfen? Auburtin
ist verhältnismäßig guten Mutes, denn Herr Caillaux
hat eine „leidlich gute Presse“. Auch das Gemüt,
das Herrn Auburtin geradezu auszeichnet, sein Qe-

müt spricht für Caillaux: „Er hat sich soeben ver-
heiratet, und hat sicherlich inmitten der zärtlichen
Pfüchten der Flitterwochenzeit kam Verlangen nach
Attfregungen und Sorgen.“ Aber, meint Herr Aubur-
tin, alles hängt ja von der Stimmung einer Stunde
ab. Und nun fällt ihm das Entsetzliche ein, was
nicht auszudenken ist, „die Gattin des Francesco
Qiocortdo“. Einen Gedanken kann er närnlich
jetzt fassen, den, daß es furchtbar wäre, wenn durch
diese Dame die zärtlichsten Pflichten der Flitter-
wochenzeit einen Aufschub erlitten: „Wer weiß,
vielleicht stürzt das Ministerium über einer E r -
bärmlichkeit, iiber der Mona Lisa des kunst-
reichen Leonardo da Vinci.“ Ueber einer Erbärm-
lichkeit. Endlich pfeift Herr Auburtin auf die Kunst,
die er totgesagt und die ihn solange ausgepfiffen
hat. Hoffentlich ist diese Resignation nicht nur die
Stimmung einer Stunde.

Michels Reinfall

Tch habe das Buch dieses Herrn Wilheim Mi-
chel geleseri. Und muß zunächst dem Verleger,
Herrn Qeorg Müller, eine Abbitte leisten. Ich
dachte, der imposante Prospekt sei seiner Phantasic
entsprossen. Die Bliiten stammen aber von dcni
Autor seibst. Auch das hochgezüchtete Qehirn.
Das „splendid ausgestattete“ Buch über diesen
Herrn Max Oppenheimer enthäit zahlreiche Bilder,
durch die für jeden Kenner das geradezu überwä!-
tigende Kopiertalent des Oppenheimer einwandsfrei
bewiesen ist. Er hat Oskar Kokoschka und
Q r e c o auf der Palette. Herr Michel kennt wahr-
scheinlich diese Maler nicht. Im übrigen hat er
iiber seinen Oppenheimer einen so fabelhaft lyri-
schen Kitschquatsch geschrieben, daß man aus dem
Jubel gar nicht herauskommt. „Jedes mutige und
selbständig organisierten Sensörium vollbringt noch
in unsern Tagen eine neue Weltschöpfung und ver-
mehrt so gewissermaßen durch das Wunder
einer Selbstzeugung das Inventar der Welt.“ Op-
penheimer etabliert gewissermaßen einen In-
ventarausverkauf. „Die Götter hätten auch wahr-
lich keinen Qrund zu ihrer ererbten Vorliebe für
die Künstler, wenn sie an diesen nicht berufsmäßige
Helfer hätten in ihren ewigen Miihen, dem Chaos
neue Forrnen zu qntreißen.“ Auch Oppenheimer hat
eine ererbte Vorliebe für die Künstler, dier er ko-
piert, um sie zu besitzen. Die Stoffe, riach denen
laut Michei ein Qemälde entsteht, sind folgende:
„Die sinnliche Erscheinutig der Wrklichkeit an sich,
das allgemeine Weltanschauliche des Subjektes, die
konkreten Erregungen, die das bestimmte Objekt
in eben diesem Subjekt hervorruft, die formalen
Elemente, wozu ich auch das Gesetzmäßige und ge-
wissermaßen animaiische Sichausleben der
Färbe rechne.“ Das sieht man so einem Gemälde
gar nicht an. Die Farbe lebt sich g e w i s s e r -
m a ß e n animalisch aus und die konkreten Erre-
gungen, die das bestimmte Objekt Kokoschka in
eben diesem Subjekt Oppenheimer hervorruft, spre-
chen sicher für das allgemein Weltanschauliche des
Subjektes. Auch Michel ist dieser Ansicht: „Einen
höchst einprägsamer Geschmack übermittelt diese
Malerei von der Person ihres Urhebers.“

Etwas Weltanschauung: „Abneigung gegen
starke Intervaile in der Farbe, deutet im allgemei-
nen ganz sicher auf zivilisierte Dämpfung des Sin-
nenlebens, auf Qeist und Beweglichkeit der Auffas-
sung, wie der Hand.“ Die Beweglichkeit wird
nicht bestritten. Aber die Signatur m. opp. bedeu-
tet n o c h viel mehr. „Die durchgehend dunkie
Tonalität deutet auf ein Lebensgefühl von düstrer

Prägung.“ .präzis wollüstige Polyphonie des

Ausdruckes, die die Oberfläche jeder Oppenheimer-
schen Tafel zu einer ungemein unterhaltsamen
Sache macht.“ Die Oberfläche wird nicht bestrit-
ten. Der Michel fühit „die Hände des Künstlers
drüber gleiten,“ die sind unter anderem „fein und •
beschwörerisch, klug und diszipliniert“. Resumee:
„So ergibt sich das Bild eineshochgezüch-
t e t e n griiblerischen Verstandes und eines Qefiihls.

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