Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 61 (April 1911)
DOI Artikel:
Hiller, Kurt: Der Relativismus in der Rechtsphilosophie und seine Überwindung durch die Restitution des Willens, [3]
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [4]: ein Volksroman
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0043

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
eine voilkommen rationale Diskussion von Einzelfragen
möglich ist. So eindringlich immer wieder der Anspruch
des nach letzten Qründen fahndenden intellekts atKf
kritische Fundamentierung von Sollensinhalten zurück-
gewiesen und die Möglichkeit kategorisch „richtiger“
und kategorisch „falscher“ Wollungen verneint werden
muss, so sehr muss rnan sich davor hüten, den Logos
aus den Spielen der praktischen Vernunft g ä n z I i c h
auszuschalten. Hypothetisch „richtige“ und
hypothetisch „falsche“ Wollungen sind durchaus
möglich. Die logische Struktur der Ueber- und Unter-
ordnung, das Verhältnis von Obersatz zu Untersatz,
besteht auch im Bezirk des Teleologischen. Es kann
eine Wollung sehr wohl im Widerspruch stehen
zu einer anderen, die ihr, ihrem Inhalt nach, logisch
superordiniert ist; dann ist jene Wollung inbezug auf
diese „falsch“. Das ist ein seiner Relation nach hypo-
thetisches Urteihein Inhalt wird als „falsch“ prädiziert
unterderVoraussetzung, dass die Prädizierung eines
anderen Inhalts als eines „richtigen“ bestehen bleibt Jeder-
zeit existiert bei dieser Situation die logische und psycho-
logische Möglichkeit.diese letztere Prädizierungaufzuheben.
Man muss sich entweder dazu bequemen, in Rücksicht
auf das Prinzip im Spezialfall anders zu wollen, als
man zunächst wollte — oder aber sich dazu ent-
schliessen, das Prinzip fallen zu lassen. Man muss
entweder die Unterwollung der Oberwollung oder die
Oberwoiiung der Unterwollung opfern; drittenfalls gerät
•man in Widersprüche.

Aufgrund der voluntaristischen Wertphilosophie sind
aiso Diskussionen und teleologische Einigungen sehr
möglich. Tatsächlich wird ja auf diese Art auch von
jeher Politik getrieben. In der Praxis ist die Methode
beileibe nichts Neues; aber es galt hier, dieser prak-
tischen Methode ihre Theorie beizugeben, die Methode
ais die einzig unanfechtbare zu legitimieren. Es gait,
die alte Koalition zwischen praktischer Phiiosophie und
theoretischer Philosophie zu sprengen und eine neue
Koalition zwischen praktischer Philosophie und praktischer
Politik herzustellen. Es galt den Willen der de facto wirk-
sam ist, nun auch als de iure wirksam zu restituieren. Ist
dies einmal geschehen, dann braucht der Rechtsphilo-
soph sich nicht mehr, aus bleicher Furcht vor Dogma-
tismus, darauf zu beschränken, als normenloser Kon-
struktor möglicher Systeme, als impotenter Anglotzer
von Tatbeständen, das überflüssige Dasein des Rela-
tivisten zu fristen; sondern er darf, vif und in Aus-
wirkung seiner Temperamente, Qegenwart und Zukunft
beeintlussen; in voller Einsicht dessen, dass es Streitig-
keiten gibt, worin „wir immer nur Partei, niemals Richter
sein können“ (Radbruch); dennoch den seichteren Agi-
tatoren sehr überlegen durch die Fähigkeit, Einzel-
materien den gewollten Prinzipien mit logisch-wissen-
schaftlicher Unanfechtbarkeit zu subsumieren und in
Debatten stets darüber Klarheit zu schaffen, „ob es sich
um eigentliche Bewertungsfragen oder um Zweckmässig-
keitsfragen bezüglich der anzuwendenden Mittel han-
delt“. i)

. . Man muss in diesen Dingen nicht den Ehrgeiz
der Originalität haben. Es handelt sich nicht um
künstlerisches Schaffen; nicht einmal um Erkennenjes
handelt sich letzten pndes um Verbesserung mensch-
licher Zusfände. (Um Verbesserung menschlicher Zu-
stände von einer Platform geklärtester Geistigkeit aus.)
Es mag sein, dass die Ueberwindung des Relativismus
in der Rechtsphilosophie durch die Restitution des
Willens in keinem Punkte neu ist, vielleicht nichtmal
ihrer prinzipiellen Idee nach: dennoch vindiziere ich
diesen Erörterungen prolegomenale Bedeutung für jede
künftige Philosophie des Rechts; für jede philosophische
Politik; für jede soziale Ethik. Und der einzige Ein-
wand, der sich erheben kann — der sich allerdings

S o m 1 ö , „Massstäbe“ Seite 521. -- Auf die not-
wendige strenge Trennung zwischen Mittel- und Zweck-
Erörterung — in der Strafrechtskritik: zwischen „Kri-
minalpolitik“ und „Timoretik“ (Strafwürdigkeitsiehre) —
habe ich bereits in dem Aufsatz „Strafrechtskritik und
Ethik“ (Aschaffenburg VI, Seite 627) hingewiesen. —
Die voluntaristische Rechtsphilosophie, gerade mit ihrem
logizistischen Ueberbau, findet sich in nuce übrigens
bei S i m m e 1, „Philosophie des Qeldes“, Seite 456,
wo es heisst: „So wenig also der Wille . . . von sich
aus irgend einen bestimmten Inhalt erkürt, so wenig
geht aus dem blossen Bewusstsein der Weltinhalte,
also aus der Intellektualität, irgend eine Zwecksetzung
hervor. Vielmehr, zu der völligen Indifferenz derselben
und aus ihr selbst nicht berechenbar tritt an irgend
einem Punkte die Betonung des Willens auf. Ist dies
erst einmal geschehen, so findet freilich rein logisch
und durch die theoretische Sachlichkeit bestimmt, die
Ueberleitung des Willens auf andere, mit jenem ersten
kausal verbundne Vorstellungen statt, die nun als „Mittel“
zu jenem Endzweck gelten.“

auch immer wieder und wieder erheben wird — ist kein
Einwand. Ob die hier als Wurzel aller SoII-SpekuIation
stabilierte positive Moral, diese Hierarchie der Werte
intellektuell begründet werden könne, ob sich ihr In-
halt der „Notwendigkeit“ und „Allgemeingültigkeit“ er-

freue, ob sie „objektiv“ und „richtig“ sei-: das

ist eine falsche Fragestellungl Unser Denken
freilich ist kritizistisch so sehr verseucht, dass uns das
Umlernen schwerfallen wird. Selbst denen wird es
schwerfallen, die die voluntaristische Idee in sich er-
lebt haben und intuitiv erkannt haben, von wie unge-
heurer psychohygienischer Wichtigkeit sie ist.
Aber umgelernt werden muss! Nur durch ein radikale
Befreiung von der Tyrannis jener intellektualistischen
Auffassung, die im Philosophen — auch im praktischen
Philosophen — immer nur den grossen Begründe-
r i c h sieht, werden wir der müde, matt und rela-
tivistisch gewordenen Rechtsphilosophie wieder auf die
Beine helfen können; auf dass sie sich aus der Sack-
gasse bewege, in welche Kant und Kantorowicz sie
gelockt.

Gegen Positivisten, Genetiker, Psychologisten und
sonstige Empiriebolde bleibt der Kritizismus nach wie
vor im Recht, als Abwehr von allerhand Flachköpfig-
keiten; in der Offensive jedoch, in der wirklichen
Wertung, im Sturm auf die Zukunft, hat er abgewirt-
schaftet. Der kommenden Ethik und politischen Philo-
sophie wird das 972. Aphorisma im „Willen zur Macht“
als Motto dienen müssen 1), darin es heisst:

„ . . . . erkannte ich endlich, dass es zwei unter-
schiedliche Arten von Philosophen gibt:

1. solche, welche irgend einen grossen Tatbestand
von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) fest-
stelle n wollen;

2. solche, welche Qesetzgeber solcher Wert-
schätzungen sind.

Die Ersten suchen sich der vorhandenen oder ver-
gangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das manaig-
fach Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und
abkürzen: ihnen liegt daran, das bisherige Geschehen
übersichtlich, überdenkbar, fassbar, handlich zu
machen. . . .

Die Zweiten aber sind Befehlende; sie sagen ;
„So soll es sein!“ Sie bestimmen erst das „Wohin“
und „Wozu“, den Nutzen, was Nutzen der Menschen
ist.“

Ende

*) Vergleichen Sie auch Nietzsche: „Götzendämme-
rung“ Aphorisma 211

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Pau! Scheerbart

xcv

Lotte Wiedewitt

Die Lotte Wiedewitt hatte sich nach dem Tode
ihres Gatten sehr verändert; sie war immer sehr ernst
und zuweilen sehr zerstreut — sie dachte soviel über
das Weiterleben nach dem Tode nach.

Und die Frau Lotte verkehrte mit der Frau

Cäcilie fast täglich, und es kam auch mal vor, dass
der Kaiser mit den beiden Frauen zusammen war. Da
sagte der denn mal so nebenbei:

„Der Lebenstempel soll grösser als eine ganze
Stadt werden — wo bauen wir den nur hin ?“

„In Schilda!“ meinte da die Lotte ganz ernst.

Da musste der Kaiser lachen und sagte, dass das
gar kein übler Platz sei — dicht am Meere — auf
hohem Strande — auf historischem Boden — auf

einem Boden, auf dem der Kaiser Philander mal
Oberbürgermeister von Schilda war ....

Diese Erörterungen brachten aber die Lotte
Wiedewitt so unvermittelt in die Vergangenheit zurück,
dass sie plötzlich laut zu weinen anfing.

Die Frau Cäcilie wollte sie trösten, aber sie

weinte immerzu und sagte dann schluchzend:

„Es kann doch nicht zu Ende sein! Es kann

doch nicht zu Ende sein!“

Da sprach der Kaiser, während ihm auch ein paar
Tränen in den falschen Bart rieselten:

„Es ist auch nicht zu Ende, Frau Lotte. Der
Kaiser Moritz lebt — er lebt nur anders jetzt als die
Frau Lotte.“

Da wollte die Lotte mehr hören, und dabei sagte
sie, dass doch darüber eigentlich nur ganz alte Herren
mit langen weissen Bärten sprechen könnten.

Als nun der Kaiser wieder mal das Lob seines
weissen Bartes hörte, da war er nahe daran, ihn vor
der Lotte abzunehmen — doch er besann sich noch
zur rechten Zeit — und liess die Frauen sehr bald
ailein.

Und da sprachen denn die beiden Frauen weiter
über das Leben und über das Sterben — und die
Lotte entwickelte zuweilen so drollige Ansichten, dass
die Cäcilie öfters lachen musste.

Dabei lernte die Kaiserin Cäcilie das Leben in
Schilda sehr genau kennen, die Lotte konnte garnicht
genug von Schilda erzählen — aber sie musste doch
sehr viel weinen dabei - ihr wurde die alte Zeit so
schwer, obgleich es doch auch eine recht böse Zeit
war.

XCVI

Die Masehineo des Herrn Sebastian

Der Herr Sebastian hatte sich sehr bald nach
seiner Flucht dem Kaiser vorgestellt, und dieser hatte
gleich alle seine Unternehmungen mit reichlichen Geld-
mitteln unterstützt.

Unter den .neuen Maschinen, die der Herr Sebastian in
Schilda erfunden hatte, befanden sich aber drei Maschinen,
die für den Häuserbau sehr wertvoll waren; durch die
neuen Sebastianischen Baumaschinen liessen sich ganz
grosse Häuser fast ohne Handtätigkeit herstellen —
und so schneli arbeiteten die Maschinen, dass es leicht
möglich gemacht werden konnte, in vierzehn Tagen
eine ganze Stadt zu erbauen.

Da wars sehr natürlich, dass der Herr Sebastian
vom Bau des Lebenstempels in Schilda sehr bald dcis
Nähere zu hören bekam — und alle nötigen Bau-
materialien nach Schilda schaffte, um in gegebenen
Moment so schnell bauen zu können, wie keiner zuvor.

Als ihm der Kaiser zu seinen neuen Erfindungen
Glück wünschte, da sagte der Herr Sebastian leise:

„Wär alles nicht gekommen, wenn ich nicht Ober-
bürgermeister von Schilda ein halbes Jahr hindurch
gewesen wäre. Den Schaffenden ist das Ein-
gesperrtwerden zuweilen sehr dienlich.“

„Ja“, erwiderte der Kaiser, „das werde ich mir
merken, Herr Sebastian.“

Bei einem Glase Bier sprachen die beiden Herren
weiter über das Eingesperrtwerden — und ganz ernst —
nur so zwischenein mussten sie mal auflachen.

Der Herr Schlackenborg, der Obermaschinist des
Sebastianischen Luftschiffes, sprach dann noch mit
dem Kaiser und erzählte auch vom Herrn Bartmann.

Da hielts der Kaiser nicht mehr aus, er stürmte
wild davon und rief in seinem Perlmutterzimmer:

„Den Spass mach ich wirklich nicht noch mal.“

Herr Schlackenborg aber wunderte sich sehr über
des Kaisers hastiges Davonstürmen.

XCVII

Schildas Ende

Da durch die siebzigtausend Toten ein grosser
Mangel an Beamten entstanden war, so ging es leicht
an, sämtlichen Bewohnern von Schilda vortreffliche
Stellungen anzubieien, und die Schildbürger nahmen
die Stellungen an, da sie der Kaiser in einem sehr
höflichen Schreiben also gebeten hatte:

„Ich bin Euer Oberbürgermeister gewesen, und
Ihr glaubtet, richtig zu handeln, indem Ihr später noch
einen meiner Doppelgänger zum Oberbürgermeister
wähltet. Deswegen tut aber auch, was ich euch sage:
die Zeiten sind zu ernst geworden — wendet Euch
nicht mehr von dem Geiste des Volkes ab — dieser
Geist des Volkes ist ja durch die letzten furchtbaren
Naturereignisse ganz anders geworden — so ganz
anders geworden, dass ich mich auch mit ihm ver-
söhnen konnte. AIso tut, was ich auch getan habe.
Ich werde ausserdem dafür sorgen, dass selbst denen,
die sich vom Volksgeiste auch fernerhin emanzipieren
wollen, kein wirtschaftlicher Schaden entsteht; die
Geistlichkeit ist rait der Schonung der emanzipierten
durchaus einverstanden.“

487
 
Annotationen