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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 94 (Januar 1912)
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Walden, Herwarth: Zeitgeschichten
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Unger, Erich: Vorwort zu elnem Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0307

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wandert zu sein, um mir irgend -ein Urteil oder
einen Vorschlag erlauben zu dtirfen. Hoch-
achtungsvoll A. v. Werner.“

Auch in der Malerei ist er nicht bewandert,
Aber da gibt sich ein Urteil oder ein Vorschlag viel
schneller ab. Hingegen ist eine mir unbekannte
Dame, die aber dafiir einen erlauchten Namen
trägt, Frau Marta von Zobeltitz, der Meinung, daß
die Hypertrophie des Geistes die Geselligkeit störe,
Sie findet, daß „die meisten Menschen fortwährend
geistig Rad wie ein Pfau schlagen“. Man erfährt
sogar, was Hypertrophie des Geistes bedeutet:
„Heute protzt man mit literarischen, künstle-
rischen, politischen Kenntnissen und Erlebnis-
sen. Und ganz im Aufbliihen ist der Sport-
und Reiseprotz. Der Mann, der jeden Satz
anfängt: „vorgestern sagte mir mein Freund
Wildenbruch“ hat sein Pendant in der Dame,
die früher in Paris gelebt und in dem Jüngling,
der übermorgen ein Dauerrodeln von 12 Stun-
den vorhat. Was verschlägt es, daß ersterer
Wildenbruch bloß einmal in einer Ausstellung
zu sehen bekam.“

Es sollte mich sehr wundern, wenn „letztere“
nicht den Fedor von Zobeltitz besser kennt.

Die Rundfrage brachte kein endgiiltiges Ergeb-
nis. Die Persönlichkeiten und Beriihmtheiten sind
sich noch nicht einig, wie der vielbeklagte Mangel
abzuschaffen sei. Das wäre auch schrecklich.
Denn worüber sollen sich dann die Persönlichkeiten
äußern?

Platzh pBer

Es fährt sich so beschwerlich auf der Elektri-
schen, sagt der Lokal-Anzeiger. „Auf so einem
klimmerlichen Rudiment von Sitz kauert man, neben
sich einen korpulenten Nachbar, gegeniiber ein paar
langbeinige paketbeladene Jünglinge, und im Ge-
nick einen unausgesetzt wackelnden mächtigen
Damenhut, dessen Besitzerin offenbar ein Attentat
auf ihren Hintermann beabsichtigt. So eingekeilt,
könnte selbst ein Marquis Posa dasLeben
»icht mehr schön finden.“ Angewandte
Kunst, vaschtehste!

Trust

Vorwort

zu elnem Roman
Von Erieh Unger

Merkwürdig zum Beispiel, daß manche Leute
nur nach Vokalen handeln, daß es ihnen etwa un-
möglich ist, einem langgezogenen a irgend eines
Wortes Widerstand zu leisten. — Wenn man sol-
chermaßen hinter das Geschehen blickte, wie schon
einige Juden angefangen haben (weil sie nämlich
nur aus der Gier bestehen, über alle Standpunkte
oder Ruhepunkte des Geistes der Reihe nach hin-
weg zu setzen) — wenn man so von allen, auch
den entlegenen Seiten auf das Existierende spähen
würde, so wiirde Alles alsbald merkwiirdig wer-
den, — die ganze Außenwelt würde anders wer-
den. Verwandlung. Der Alltag würde verschwin-
den. Wenn man nach den wahren Ursachen grei-
fen könnte, sagen wir mal, und feststellen, daß bei
den entscheidenden Lebensentschiüssen, vor die
einer gestellt wird, nicht seine (bestehende) Liebe
zu Frau und Kind, sondern seine Liebe für grüne
Farbe ausschlaggebend ist, — wenn man diese un-
gtaubiichen Andersheiten des Geschehens trotz ihrem
scheinbaren Wahnsinn erst anzusehen wagen
wird, so würde die Welt ihr Gesicht vollends ver-
ändern. Es wäre immer und immer Außerordent-
liches im Schwunge. Alles würde zu Inkarnatio-
aen. Und man wiirde den AUtag erschlagen, die-
sen btödsinnigen. so falsch selbstverständlichen

Alltag, was die heiligste Pflicht der jetzt Le-
benden ist.

Dies denkend ging Franz Maura abends um
zehn Uhr die Straße „In den Zelten“. Die Ge-
danken arteten in ein heftiges Bewußtsein dieser
Sachen aus.

Er wollte einige von den Ladenmädchen
sehen, die zur Abendzeit hier in der dunklen Park-
straße einhergingen und wollte eins anreden und
anfassen.

Nach einer Weile sah er zwei, die sich sogleich
trennten — und der einen ging er nach. Sie schritt
langsam und dachte dariiber, ob sie einen sehr
schönen Hals und Nacken habe. Er verfolgte sie
eine Viertelstunde, ging dann quer durch den Park
zu der großen Hauptallee und wartete auf eine
elektrische Bahn.

Während er sah, wie die beiden Lichter der
Bahn aus weiter Ferne durch den dunklen Wald-
korridor flogen, dachte er an die Zeit der Maschi-
nen, die gegenwärtig dahinging, und davon kam
ihm in den Sinn, daß die Menschen zu wenig syn-
thetisch dächten. Denn sie haben für alle Ereig-
nisse, die in den Geist eindringen, bereits bestimmte
Empfindungsgebiete reserviert, wohin sie scbon
fast ohne Willkür die Geschehnisse hinlegen. So
kommt während eines Jahrhunderts nichts Neues
in das Leben. Wenn man dagegen ein Erlebnis,
eine Gegebenheit, die man sogleich in einer eigens
für sie reservierten Empfindungsgegend untergehen
lassen möchte (denn dort geht sie unter, dort
stimmt alles miteinander, an Gelöstem hat
der Geist kein Interesse) voll Willkür auf ein an-
deres Empfindungsgebiet setzt, synthetisch handelt,
so wird die Gegebenheit, das Erlebnis nicht ver-
sinken, sondern im Widerstreit mit der Umgebung
unmöglich gleichgültig bleiben können, es wird von
zahllosen neuen und ungeahnten Reflexen getrof-
fen, die Belanglosigkeit des alltäglichen Umher-
gehens zerreißen und sich in eine unheimliche Ge-
genwart recken. — Mithin sollen die Leute synthe-
tisch denken. Sie sollen?

— Kein Mensch überlegt sich was. Er ging in
den Wagen hinein. Drinnen setzte er sich und sah
um sich. Er begann sich furchtbar zu ärgern. So
heftig, daß ihm in ohnmächtiger Wut das Blut im
Kopf auf und niederstieg. Doch stellte er nicht
ganz sicher fest, worauf sich dfe Erregung bezog.
Allein sie wurde bald zu nichts. An einer Halte-
stelle mitten in der Stadt stieg er aus, blieb an einer
Säule stehen und sah auf die Theaterzettel, von
den'en einer trotz dem Abendlicht mattrosa leuch-
tete. Er schritt sodann die breite, alte Steintreppe
zu einem gegenüberliegenden Bahnhof hinauf und
fuhr nach Kairo. Dort ging er in einem hohen, aber
fälligen und lichtlosen Hause, zu dem er ge-
kommen war, einen dunklen Gang hinauf,
Unten rollte ein Wagen und zwei bis drei
Hunde brachen in ein Gebell aus. Er war von Ver-
drossenheit erfüllt, die leer war, da er sich nicht auf
sie besinnen konnte. Oben blieb er fünf Sekunden
stehen, dann ging er die Holzstufen wieder hin-
unter und lief Iangsam bis zum tiefen Dunkelwer-
den in einem fernen Stadtviertel und hörte mitunter
unvermittelt nah Laute von Menschen, die er
gänzlich, auch die Gesichtshaut, sah.

An diese Gedanken und dies Geschehen in
dieser Folge erinnerte er sich, als er vor dem Ge-
schäfte Huissrer in Berlin an einem enorm warmen
Abend sah, wie die Asphaltarbeiter das braune
Pulver feststampften und festglühten. Zwei
Kerls mit aufgekrempelten, braunen Armen
zogen an einer Walze über den Fahrdamm,
um die die Luft vor Glut floß. Der
eine von ihnen hatte einen ekelhaft rotblonden
Schnurrbart und ein rauchschwarzes ordinäres
Gesicht und vermochte fünf Sprachen des Konti-
nents zu sprechen, dem andern traten die Augen
hervor in grinsender Geilheit zu einem dicken
Dienstmädchen, das den Asphaltarbeitern zu-
schaute und unbewußt gierig deren nackte Arme
ansah. Die Arbeiter wurden alsbald aufmerksam

und jeder für sich wurde eftenfalls geil. Maura
merkte es und erinnerte sich an Folgendes:

An einem Abend reitet er auf einem kiei-
nen Esel in die Wüste. Als die Stadt schon so
fern war, daß über ihr schon fast die Nacht lag
und er sie nicht sehen brauchte, wenn er nicht
wollte, fühlte er sich so, als müsse er in den laut-
losen Himmel hineinfallen. Die Wüste sauste
aschfahl ur.d eben hinaus. Er denkt, es ist wie
eine optische Täuschung, den Raum stets zu
e i n e m bestimmten Punkte, dem Wohnpunkt, i«
Beziehung zu setzen, da doch alle Punkte gleich-
berechtigt dazu sind, und es faßt ihn eine jähe
Unsicherheit und ein geringer Schwindel der Un-
teilbarkeit und Beziehungslosigkeit des Raumes
und alsbald betrachtete er gespannt und erschlafft
zugleich die einzelnen Haare seines Esels.

Ringsumher tobte der Himmel in allen Far-
ben und wie eine Unterbrechung der Welt stand
ein ungeheures schwarzes Dreieck einer Pyramide
vor ihm. Es war klar, daß die Pyramide da war.

Er versuchte den Esel umzulenken und ritt
ewiglange nach Kairo zurück. Es war völlige
Nacht, und er ging langsam in einer lichtlosen
Straße neben einem sehr schnell schießenden,
gänzlich stillen, pechschwarzen Kanal, auf dem
geiegentlich ein Schein blinkte.

Vor einigen völlig finsteren Häusern kam ihm
in den Sinn, daß vor sechs oder fünf oder sieben
Jahren an einem Tage die Mutter von Beely vor
Aufregung zitternd im Klassenzimmer gestanden
hatte und nach Beely fragte, der von da ab weg
war. Während ihm dies einfiel, sah er auf ein
dunkelgelbes Fenster, daß er, wie er jetzt glaubte,
schon einige Zeit verworren bemerkt hatte. Er
ging an das Haus und in den Raum hinein, wo
eine Menge Menschen miteinander redeten. Einem
alten Weibe wiederholte er immer den Namen des
Mitschiilers. Sie wies mit der Faust nach hinten,
nach einer Tür. Er machte sie auf und ging durch
einen schwarzen Gang zu einem kleinen Zimmer.
Dort stand sein Schulgenosse auf einem Teppich.
Maura erstaunte etwas, doch nur wenig. Dann
sah er, daß Beeiy Gefäße, Stäbe und schwere
Dinge ohne körperliches Zutun vom Erdboden auf-
heben konnte. Es war noch jemand im Zimmer.
Maura glaubte, daß sein Schulgenosse ihn nicht
erkenne, aber er befand sich in einem Irrtum.
Es sprach niemand etwas und es war für Maura
sehr betäubend und unangenehm zu sehen, wie
ein Gefäß in dem freien Zimmerraum, in der Luft,
vor Beely stand. Er verfiel in den entgegenge-
setzten Zustand, der ihn sonst erfiillte, und ver-
suchte mitunter an ein gelbes Plakat zu denken,
das er mal gesehen hatte, und an eine lächerliche
Zeichnung darauf. Aber es machte keinen Ein-
druck auf ihn, da er Beely doch kannte. Dadurch
wurde seine Benommenheit noch beängstigender;
er sah sich stier und mit traumartiger Furcht zu,
wie sein Geist anfing, sich seinem Willen zuwider
zu bewegen; darum betrachtete er mit Anstren-
gung das Gesicht und klammerte sich an die
Empfindung, daß er es doch kannte. Aber der
andere sah ihn nicht an, und Maura glaubte mit
einem Male, daß dieser, bewegungslos, ihn doch
kenne, und dann erschrak er plötzlich grauenhaft
in dem kleinen Raum.

Er ging die Klein-Straße weiter und blickte
auf drei vornehme Frauen, die schweigend In
menschenleerer Straße nebeneinander schritten.
 
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