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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 69 (Juli 1911)
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Benndorf, Friedrich Kurt: Die Tat
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von Dirsztag, Viktor: Pubertät
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Hiller, Kurt: Zur Auswahl
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Adler, Joseph: Aus jüngster Zeit: wenn Karpeles das erlebt hätte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0107

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Die Tat

In der Schummerstunde, wenn die Leute im
Dorf zu Rocken gehn und sich erzählen beim
Federschleissen, und einer in der Ofen-Ecke, ver-
loren in sich, die Harmonika spielt,

und draussen das Land beseelt vom Abend-
atem, ahnungstill, und darüber der Sternenhim-
mel, unausdenklich tief, und das grosse allse-
hende Auge des Mondes —,

— in der Schummerstunde, da der Knecht
eine Kuh im Stall unruhig stampfen hört und
zur Magd sich wendet: — „was „dämmert" das
Vieh?“ —,

— drüben am Wiesenweiher, wo die alten
Pappeln so unerfahren ins Weite blicken, und
die Kröten hocken, träg und taub, und blind
ist Gras, Busch und Gestein, — dort! — in
dieser Stunde:

Morgen wird man es entdecken!

Friedrich Kurt Benndorf

Pubertät

Die Kerze erlischt, an der mein Stem licht flammt
Das Auge wird hell, der Himmel blauer Samt
Plagende, balgende Wolkengestalten
Zwingen mich die Augen offen zu halten
Dunkel rings —

Aus tausend umsonst geweinten Tränen
Entsteigst D u plötzlich meinem Sehnen.

Ein Kreuzweg hinab über die Himmelsleiter
Alle Sprossen sind Domen. Ich komme nicht
weiter,

Ich falle. Da blüht mir ein Arm entgegen
Ich kenne Dich. Dich sah ich in urseligen Zeiten
Wie alt bist Du? wie jung? — O glücklich
Gleiten

Nun fassen wir Fuss.

Schon schwanken heran Wald, Flur und Feld
Ein Sonntag rings die ganze Welt. —

Viktor v. Dirsztag

Zur Auswahl

Von Kurt Hiller

Der „Indifferentismus“, solange er konsequen 1
bleibt, ist mir ein Greuel. Erst wenn er, im
Widerspruch mit sich selber, b i s s i g wird gegen
uns Aufgeregte, wenn er das Pathos nieder-
z i s c h t und wutschnaubt über die Satire,
iebe ich ihn. Denn eine Real-Unlogik ergötzt
mich als Kuriosum; eine pathologische Erscheinung
vermag ich als blosses Phänomen aufzufassen,
jenseits aller Wertung, anethisch, „indifferent“.

Schwache Dialektik rührt häufig her von einer
Gleichgültigkeit gegen das Rechtbehalten. Aber
häufiger geschieht es, dass Pedanten, selbst herrsch-
süchtigste, gegen das Rechtbehalten gleichgültig
werden, weil sie nur schwache Dialektiker sind.

Die Paradoxie ist gewiss oft bloss die Furcht
vor dem Gemeinplatz. Ich schliesse mich in diesen
Fällen jener Verachtung, die von den klassizistischen
Espritfeinden proklamiert wird, vollauf an. Dass
aber die Gemeinplätze dieser Espritfeinde aus der
Furcht vor der Paradoxie stammen — das werde
ich ihnen niemals glauben.

Alle Sprichwörter lügen. Auch dieses.

Das Sprichwort „Quod Iicet Jovi, non licet
bovi“ ist die Kundgebung einer feigen Plebejer-
Unterwürfigkeit. Wer stolz und von Adel ist,
wird erklären: Quod licet bovi, non licet Jovi;
denn Zeus, in seiner Glorie, hat Verpflichtungen.

Ich möchte wissen, inwiefern es sentimental
sei, wenn ein Atheist Menschen Götter nennt.

Demokratie ist ein Widerspruch in sich selbst:
wegen der zweiten Hälfte des Wortes.

Die Philologen belästigen mich nur selten,
und ich lasse sie daher gern ungeschoren. Bloss
eines an ihnen empört mich immer von neuem;
das ist ihr N a m e. Warum mussten sie eine
Bezeichnung für sich wählen, die ausgerechnet
auf ihre Antipoden passt? Auf die Freunde der
Vernunft und auf die Enthusiasten des Wortes?

Tief und ernstlich denkende Menschen haben
gegen das Publikum einen bösen Stand. — Sie
finden den Satz trivial? Ich nicht. Auch Goethe
nicht. Denn sonst hätte er ihn schwerlich in seine
gesammelten Werke aufgenommen.

Neuerdings wird mit „Intuition“ wieder Unfug
getrieben; in Jahrbüchern für geistige Bewegungs-
losigkeit. Diesegepresst-ekstatischen Gouvernanten,
diese altitaliänisch-hochnäsigen Antibegrifflinge,
diese steifgebeinten Misspathetiker — ich meine:
die Stiefsöhne Georges — fordern in ihren fad-
finsterbrauigen Sätzen: das echte Kunstwerk müsse
nicht „gemacht“, sondern „gewachsen“ sein . . .
Blech! Bluff! Sittlichkeiten! Da gerad’ oberste
Götter äusserst kneten; gerade die; da sie kneten,
kneten, kneten, bis das Gebilde strahlend dasteht.
Schmierer näinlich hauen hin; bei Sudlern
„wächst“ es.

Kants „kategorischer Imperativ“ schreibt vor,
so zu handeln, dass die Maxime ais allgemeines
Prinzip gelten könne. Wenn der sittliche Mensch
in einen Konflikt gerät, so bedeutet das: er ist
im Zweifel, welche unter mehreren möglichen
Maximen prinzipielle Gültigkeit habe. Und nur
der Mensch, der in einen Konflikt gerät, bedarf
eines kategorischen Imperativs. Gerade dem
aber kann er nichts nützen; denn wer sich
den Kopf darüber zerbricht, welche von mehreren
Möglichkeiten die richtige sei, dem ist wenig gedient
mit der Aufforderung, die richtige zu wählen.
Der „kategorische Imperativ“ gibt also nicht dem
Zweifelnden an, wie er sich verhalten soll; sondern
gibt dem Psychologen an, wie ein Zweifelnder
sich verhält. Man täte daher gut, ihn fortab
„kategorischen I n d i k a t i v “ zu nennen.

Das stärkste Gefühl von Unsittlichkeit hatte
ich stets da, wo jemand Grössen, die einander
ausschlossen, unbedenklich kopulierte: etwa „Kant
u n d Nietzsche“.

Die „wissenschaftliche“ Philosophie ver-
wechselt bekanntlich Tiefe mit Scharfsinn. Hält
man ihr das vor, pflegt sie mit Siegerlächeln zu
verlangen, dass man Tiefe ihr — definiere.

Quatsch ist besonders dann beliebt, wenn
er sich wissenschaftlich gibt.

Die Behauptung, mittelst Sitzfleisches könne
sich jeder Hundskopfaffe inDeutschlanddenDoktor-
titel erwerben, ist eine ganz perfide Verleumdung.

In Wahrheit gehören noch drei- bis fünfhundert
Mark dazu.

In welch gefährlicher Barbarei wir leben, und
wie namenlose Idioten unsre berühmtesten Irren-
ärzte sind (nämlich die „modernen“, „freigeistigen“,
„monistischen“), zeigt klar der Vorschlag des
Professors F., den er den Angehörigen eines
bedeutenden Litteraten gemacht hat, welcher infolge
einer „konstitutionellen Seelenabnormität“ an-
dauernd Urkunden fälschte. Professor F. schlägt
vor, die Angelegenheiten dieses Mannes entweder
durch eine zuverlässige Person verwalten zu lassen,
„damit seine litterarische Tätigkeit ihm endlich
einen Lebensunterhalt gibt“, oder, falls das nicht
hilft:„dann wird man ihn in eine Heil-
anstalt bringen müssen, wo er das
Recht haben wird zu produzieren,
ohne die Möglichkeit zu haben,
neue Torheiten zu begehen“.

Dieselbe Zelebrität bewertet, in einem anderen
Fall, als „pathologische Symptome“, was folgt
Wachsende Unhöflichkeit des Briefstils; Wortspiele;
sich der Presse bedienen, „um von sich reden
zu machen“; beleidigende Epigramme gegen
Kollegen und Behörden; den Spaziergang in der
Anstalt benutzen, um einer Kranken „galante
Anerbietungen“ zu machen; „das Ich, das mit
allen anderen im Gegensatz steht“; „der Eigen-
sinn,Recht gegen alles und alle zu haben“; „die
Verachtung der anderen“; und so weiter in
ununterbrochener Mediokrität . . . Wenn man
dergleichen liest, erschauert man; und weiss, dass
der ärgste Fluch, der sich gegen einen genialen
Menschen ausstossen lässt, also lautet: Der
Psychiater komme über dich!

Als ich einen Irrenarzt fragte, woher er denn
wisse, dass er der Gesunde sei und seine Patienten
die Kranken, bekam er einen maniakalischen Anfall.

Aus jüngster Zeit

Wenn Karpeles das erlebt hätte

Oft genug hat das Tageblatt seine Spalten
dem Karpeles „geöffnet“. Es leckt noch an dem
Ruhm, dass es in der glücklichen Lage war, die
letztc Banalität des süssen Literaten abzudrucken.
„Heine in der Konditorei“.

Karpeles lebt nicht mehr, und ob auch für
die Presse Pietät ein Knochen ist, daran kein
Fleisch sitzt, so möchte das Tageblatt einer zar-
ten Demaskierung der Heineschen Muse unter
dem Strich „keinen Raum“ gewähren. Aber in
einer Ecke des Inseratenchaos lässt sie der Unan-
tastbaren von einer Korsettfirma Gewalt antun,
dass selbst jene, die in der Heineschen Puber-
tätslyrik den Samen der Genialität nicht entdecken
können, mit Entsetzen sehen müssen, wie ein
letztes Hemd der beschönigenden Verhüllung von
den Blossen des Hinfälligen gerissen wird.

Auf einem Felsblock, der den Preis von
10 50 trägt, sitzt die Loreley, mit einem Hemd
bekleidet und in ein Korsett geschnürt. Sie kämmt
zwar nicht ihr goldenes Haar, aber sie greift
wenigstens in eine Leyer, und unten, in einem
schwankenden Segelboot, in die „schwindelnde
Höh“ emporblickend, singt der Schiffer, vielleicht
ein commis voyageur, der die Rheinprovinz be-
reist:

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