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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 57 (April 1911)
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Mirbeau, Octave: Marie-Claire
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Friedlaender, Salomo: Auf den begrabenen Dieb August S., genannt "Dummer August"
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Döblin, Alfred: Zwei Liederabende
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Adler, Joseph: Alles aus Liebe zur Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0011

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nehmcn Lebensneugierde unterscheiden. Und es machte
ihr Spass, aufzuzeichnen, was das tägliche Leben ihr
offenbarte, noch mehr aber, was ihre Phantasie sie
vom Schicksal der Menschen erraten liess, denen sie
auf ihrem Lebenswege begegnete Ihre Intuittonsfähig-
keit war beinahe ebenso stat k wie ihre Beobachtungs-
gabe ■ • . Keinem sagte sie jemals etwas von ihrer
„Manie“ zu kritzeln, und verbrannte alle Papierschnitzel,
in der Annahme, dass sie für niemanden Interesse
hätten.

Sie dankte es nur dem Zufall, der sie eines Tages
an einen Ort fiihrte, wo mehrere junge Künstier ver-
kehrten, dass sie plötzlich erfuhr, wie sehr ihre Er-
zählergabe packte, bezauberte. Vor allem war es
Charles Louis Philippe, der sie ermutigte Doch hat er
ihr nie irgendwelche Ratschläge gegeben. Er fühlte,
dass diese Ratschläge ebenso zwecklos wie gefähr-
lich sein mussten für eine Frau, deren Wille so be-
stimmt, deren Temperament so ausgesprochen, deren
Feingefühl bereits so kunstvoll geformt war.

Heute bestreben sich alle Kulturmenschen und
solche, die es zu sein glauben, zur Tradition zurück-
zukehren und sprechen von strenger Selbstzucht, der
sie sich unterwerfen müssen . . . Ist es nicht entzük-
kend, dass gerade eine Arbeiterin, die nicht einmal
ortographisch schreibt, diejenige ist, die all diese
grossen Eigenschaften vviederfindet oder vielmehr er-
findet: Mässigkeit, Geschmack, Schwung? Eigen-
schaften, die nie durch Willen 8der Erfahrung allein
erlangt werden?

Der Wille übrigens fehlt Marguerite Audoux nicht,
und die Erfahrung wird durch angeborenes Sprach-
gefühl ersetzt. Ein Sprachgefühl, das ihr die Worte
eingibt — nicht wie einer Schlafwandlerin, sondern es
ihr ermöglicht, die Sätze zu bauen, zu vereinfachen,
rhythmisch zu gliedern nach Gesetzen, die sie nie er-
lernt hat, die aber wundersam und geheimnissvoll in
ihrem Bewusstsein ruhen und von ihrern Genie mit
unfehlbarer Sicherheit hervorgehoit werden.

Sie hat Phantasie, aber verstehen wir uns recht,
eine edle, glühende und prunkvolle Phantasie, die nichts
gemein hat mit der Phantasie junger verträumter
Frauen und berechnender Rornanschriftsteller. Sie
steht weder abseits vom Leben noch iiber dem Leben.
Sie scheint die beobachteten Tatsachen nur klarzulegen
Wenn ich Kritiker wäre, oder, was Gott verhüte,
Psychologe, so würde ich soich eine Phantasie eine
dcduktive nennen. Aber ich wage mich nicht auf
diesen gefährlichen Boden

Lesen Sie Marie-Claire .... und wenn Sie das
Buch gelesen haben, werden Sie sich fragen, wer je
von unseren Schriftstellern — und ich denke an unsere
ruhmreichsten -- imstande gewesen wäre, ein solches
Buch zu schreiben: so massvoll, so strahlend in Rein-
heit und Grösse

Octave Mirbeau

Mit diesem Vorwort leitet der Autordas Buch Marie-Claire
von Marguerite Audoux ein. Es erschien in deutscher
Sprache, nicht so trostlos übersetzt wie die'. meisten französischen
Dichtungen bei Bong u. Co., Deutsches Veriagshaus, Berlin.

Auf den begrabenen Dieb
August S., genannt
„Dummer August“

Von Mynona

Flammender Schnee! BunterZorn!
Kristallne Glut! Feuriger Born!

Toter Spiegel! Blitzender Duftl
Rose aus Eis! Diamantenes Korn!
Funkelnde Luft!

Spitze aus Granat I Frost aus Rubin!
Sonne aus Thau! Opalener Aether!
Elektrischer Gischt! Azurner Strom 1
Perlender strahlender Doml
Isrisierendes Fliehn!

Intelligentes Metall! Herzinniger Staub!
Grüner Fluch! Stählerner Engel!
Bimssteinerner Bockl Schweinernes Ideal!
Herbstgelächter! Ermordetes Bacchanal!
Gott und Bengel!

Zwei Liederabende

Motto: Jede Zeit hat den Dr. Strauss,
den sie verdient.

Aifred Döblin

Am Dienstag, den 7. März und am Mittwoch, den
8. März fand ein Liederabend statt; am Dienstag einer
in dem kleinen Saal eines Gesellschaftshauses Sans-
souci am Kurfürstendamm, am Mittwoch im Beethoven-
saal. Im Beethovensaal drängten sich die Menschen;
man sah ein Publikum, das sonst kaum einen Kon-
zertraum betritt, elegant, klatschwütig, schauwütig, als
käme es eben aus dem Zirkus Reinhardt. Es gab
Richard Strauss Den Doktor solite man punkt acht
selbst sehen, der eben mit seinem Rosenkavalier Lehar
und Fall übertrumpft hatte als ein wahrer Ueberfall.
Er erschien mit gänziich ausverkauftem Lächeln, ver-
beugte sich einmal körperiich, dann fünfzehnmal lied-
iich, ging schliesslich davon, das Publikum ebenso.
lch weiss nicht, was nachher aus beiden geworden ist;
es geht auch keinen was an. Das Ganze ist schliess-
lich ein Vorfall, der sich in jedem besseren Konzert-
kaffee allabendlich ereigriet. Als Folie zutn folgenden
aber brauche ich die Kompositionen, die bei Qelegen-
heit der mitgeteilten Menschenansammlung im Beethoven-
saal nur so angeschwooft kamen.

Man darf einen Sinfoniker und Dramatiker nicht
nach seinen Liedern beurteilen; aber bei Richard Strauss
ist das alles gleich, man darf es schon. Er kann
Lieder so gut wie Lustspiele und Sinfonien; er ist
nirgends schwächer und nirgends stärker; er ist über-
all Strauss. Man kann Lieder verschieden machen;
er macht sie unerträglich; ich weiss nicht, was an
Gunstbuhlerei seinen Liedern gleichkänte. Man wäre
versucht, seine Kunstübung tief unwürdig zu nennen;
wenn man nicht wüsste, dass er völlig an-ästhetisch
ist. Er ist nie und nimmer Zuhälter einer Kunst;
denn so nah ist er der Kunst nicht gekommen. Ein
paar Hinweise: der Laie, auch mancher Musikkritiker
fällt auf Strauss’ „Schwung“ hinein; sie sehen nicht,
dass es sich da um biliige Reisser handelt; mit
„Schvvung“ komtnt Strauss über hundert leere Stellen
hinweg. In seiner Auffassurig bleibt er völlig an der
Aussenseite kieben; manchmai ieistet er ganz Unglaub-
liches. Zum Beispiel: Wie ist es denkbar im „Lied
an meinen Sohn“ den Angelpunkt: „Gehorch ihm nicht“
so zu verfehlen, so garnicht zu begreifen? Wie ist
es denkbar, dass jemand in dem ungeheuren Marsch-
rhythmus des Dehmelschen „Arbeitsmann“ Vögei nied-
lich zwitschern lässt, weil es einmal im Gedicht so
vorkommt? Das „Wiegenlied“, ein fröhlich schwaches
Gedicht des Dehmel, taucht der gute Doktor in eine
Arpeggiensauce, setzt eine Melodie von der Origi-
nälität der Leierkästen hinzu; dieser entsetzliche
Schmarren wurde begeistert aufgenommen. Ein „Stein-
klopferlied“, in dem ein offenbar sehr gebildeter Stein-
klopfer sich beklagt, vom „Allerbarmer“ nichts zu
essen bekommen zu haben — er habe vom „goldenen
Wein nur geträumt“, wird sehr glaubhaft komponiert:
der Mann schläft infolge Unterernährung gegen den
Schiuss zu ein. Das schlimme Pathos des Schiller-
jünglings auf Schritt und Tritt, wenn es sich um
musikalische Liebeserklärungen handet, um patriotische
Beteuerungen, um heldenhafte Erregungen: immer
Schwung, Radau und unverblümte Gedankenlosigkeit.
So wenig fällt Strauss ein, so stilios, so geschmack-
los ist er, so wenig gewählt: oh, er ist unerträglich,
dieser Publikumsgott.

Herwarth Walden kennen nur wenige als Kompo-
nisten. Die Strenge seines Geschmacks zieht nicht
so leicht an. ln seinen Liedern herrscht eine unver-
gleichliche künstlerische Zucht, die sich jede Auesser-
lichkeit untersagt, die rein ntusikalisch um den lyrischen
Kern besorgt ist. Für Strauss ist die Komposition Arrange-
ment und Dekoration, für Walden wie für jeden echten

Musiker völlige selbständige Neubildung. Waldens
Ausdruck ist fast durchweg von einer wirklich bezwin-
gender Stärke; ihre Unmittelbarkeit ist bisweilen, und
nicht selten, ganz erschreckend; zum Beispiel in
„Entbietung“ das „Wann kommst du“ und darauf das
furchtbare Drängen; im „Lied an meinen Sohn“ das
posaunenhafte steinharte „Gehorch ihm nicht“, und
vieles sonst. Man hat den Eindruck des absolut Neuen,
das sich hier ganz unbeschlichen einstellt. Er geht
ganz und gar auf den lyrischen Kern. Es gelingen
ihm hervorragende und erschütternde Stücke, Stücke,
die metaphysisch irisieren, „Die ruhende Versammlung“,
„Hier ist ein Gipfel“; ihr Stimmungsgehalt findet nicht
leicht Vergieichbares in der Liederliteratur. Das aües
nützte nichts, wenn ihm musikalisch nichts gegeben
wäre, zu sagen. Da hörte ich zum Beispiel am Diens-
tag Liliencrons Wiegenlied: „Bitte an den Schlaf“.
Richard Strauss sehe sich einmal an, wie man ohne
Konserven da arbeiten kann; das eigentliche zögernde
Wiegenthema: „So — so — nicht bange sein“ ist tief
rührend und originell. Lieder wie „Die schöne Jüdin“
gehören zu den Eriebnissen jedes, der sie gehört hat.
Waldens Lieder sang man in dem Saale von Sanssouci.
Dr. Rudolf Blümner insbesondere, neben Franz
Lindner, stellte die Sachen mit einer Kraft und Treff-
sicherheit des Ausdrucks hin, die mich bei diesem
Gesangsdebüt wirklich verblüffte.

Es gibt noch Geschmack, Begabung, Ernst in der
Kunst.

Wir werben für die Kunst. Will man denn ewig
Drohnen pflegen ? Wir rühren immerwährend die
Trommel für die hohe und reine Kunst. Wer tritt auf
unsere Seite ?

Alfred Döblin

Ailes ausLiebe zur Kunsl

„Siehsle, det sind die Rosenkavaliere I
Mit dieser Belehrung hatte uns ein hoffnungs-
vollcr Berliner Sprössling mit seinem Kam
raden am Anhalter Bahnhof empfangen, £
wir gestern nachmittag gegen 2'/. Uhr n
einigen Freunden von Beriin abreisten, unt
die Aufführung des „Rosenkavalier“ an der
Dresdner Hofoper zu hören.

Die Aeusserung verrät den schlagenden
Beriincr Witz Sie bedeutet aber doch wohl
noch mehr. Wie lebhaft muss das Interesse
der breiteren Berliner Volksschichten fiir diese
Extrafahrt sein, wenn solche Jungen, wie es
hier wohl geschehen ist, in der Absicht zum
ßahnhof eilen, bei diesem Ereignis „dabei“
zu sein.

Der ahnungslose Schmock ist mit seinent Kompli-
ment an die breiteren Beriiner Volksschichten auf ein
totes Geleise geraten, wenn der schlagfertige Junge,
da sein Vater am Anhalter Bahnhof Dienste tut, von
dem etwaigen Eintreffen einer für den Zoologischen
Garten bestimmten Affengruppe genau so Kenntnis
bekommen wird, als er von der Abreise einer Gesell-
SGhaft wusste, die in Dresden den letzten Strauss
kennen lernen will; die Oper, deren Titei man zum
Schaden und Spott des Berliner Witzes immer noch
vorsichtig genug gewählt hatte : denn würde sie „Ochs
von Lerchenau“ heissen, hätte der Junge die Reise-
gesellschaft glücklicher apostrophieren können.

Sie war, wenn man es dem Berichterstatter der
Morgenpost durchaus giauben muss, ein ausgewählter
Teil der Berliner Society, und zwar jener Teil, den
man beim Souper in „Esplanade“, am ersten Renntag
im Grunewald, Weihnachten in Oberhof und zum
Karneval auf der Promenade des Anglais in Nizza
sieht. Aber den diesjährigen Karneval hat der ausge-
wählte Teil der Berliner Society hier verbracht, nur
um im Rosenkavalier-Faschingssonderzug nicht zu fehlen.

Der Eisenbahnzug ist dem Arthur Fürst schon
immer als ein hochmusikalisches Gebilde erschienen,
aus dem rhythmischen Stossen der Räder gegen die
Schienenköpfe kann ein aufmerksames Ohr die schönsten
Melodien heraushören.

Doch das ist immerhin nur ein erdachter
Zusammenhang zwischen [Eisenbahn und Musik;
um diese beiden Begriffe zu einem ganz realen

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