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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 72 (August 1911)
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Wauer, William: Der Schauspieler
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Hiller, Kurt: Privatdozentisches
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Lasker-Schüler, Else: Wauer via München,weiter und so weiter
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Nr. 75 (August 1911)
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Walden, Herwarth: Die Vinnen gegen den Erbfeind
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0131

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— mit dem Wortgestalter, dem Dichter, nur ei-
nen mittelbaren; durch den Regisseur.

Die Individualität des Schauspielers bleibt
auch dann gewahrt, wenn er die vom Regisseur
endgiltig gestaltete Rolle verlebendigt, denn er
schenkt ihr sein Leben.

Wirkliches letztes Inneres auszuströmen, im
künstlerischen Spiel zu gestalten, das ist des
Schauspielers Kunst; die Maske festzuhalten (um
sich unkenntlich und die Rolle kenntlich zu ma-
chen) des Schauspielers Sorge.

Die dichterische und vom Regisseur festge-
stellte Figur ist ein Gefäss, in das der Schau-
spieler seinen starken Lebensstrom ergiessen soll.
Die Worte sind die Kanäle, in denen wir es
strömen hören. Nicht die Art dieser Kanäle ver-
rät uns die Stärke und das Tempo des Flusses
(des inneren Lebens) sondern das Rauschen,
der Ton des Strömens. Er ist also der Aus-
druck, die akustische Form des innen vorhande-
nen Lebens.

Psychische Zustände oder Bewegungen in
Vorstellungen, in Tonfall und Bewegungsvor-
stellungen umwandeln können, das ist die Vor-
aussetzung der Spielkunst.

Die Gebärde wie das Mienenspiel des Schau-
spielers müssen ebenso sprechend wie die Spra-
che „klingend“ werden.

Das Können des Schauspielers besteht in
einer besonders entwickelten seelischen und kör-
perlichen Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit.
Er muss auf eine Autosuggestion hin alle Affek-
te und Stimmungen in sich erzeugen können,
um ihre spezielle Klangfarbe in den Worten her-
vorzuzaubern und ihre Bewegungen wie Reflexe
über seinen Körper hinlaufen zu lassen.

Es gibt willkürliche und unwillküriliche Be-
wegungen. Tausend Worte können nicht das
sagen, was eine Bewegung sagt — tausend un-
willkürliche Bewegungen können nicht soviel sa-
gen, wie eine willkürliche offenbart.

Der Schauspielkünstler hat die Möglichkeit,
eine optische oder akustische Form zu wählen,
oder beide Formen gleichzeitig zu benützen. Die
geistige „logische“ Form gehört dem Dichter:
Der Schauspieler kann sie nur reproduzieren. Er
richtet sich mit seiner Produktion nicht an das
geistige Fassungsvermögen, er richtet sich an
die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit. Er gestal-
tet in optischer oder akustischer Form.

Charakteristische Klänge zu formen, diese
Aufgabe ist als Darstellungsprinzip heute beina-
he noch nicht gesehen worden. Und doch um-
fasst es den Hauptbestandteil der Schauspielkunst
und wird am ehesten geeignet sein, einen neuen
Schauspielsprechstil zu bilden, der innexes Le-
ben hat.

Psychisch regulierte (abgestimmte) Klangfar-
ben, anscheinend rücksichtslos aneinandergereiht,
in dem man die Worte des Dichters zu Gehör
bringt, miissen einen impressionistischen Sprech-
stil ergeben, von dessen ungeahnter Farbigkeit
und Stärke man heute noch keine Vorstellung
hat — einen Stil, der ebenso grosser als inti-
mer Wirkungen fähig ist.

Alle Künstler schaffen aus einem Einfall
(nicht aus einer Auffassung, einer Doktrin), ei-
nem Rausch heraus: man nennt das, aus dem
„Nichts“ schaffen.

Auch der Schauspielkünstler schafft aus dem
„Nichts“: eine Hoffnung, eine Verzweiflung,
eine Freude, einen Hass, eine Liebe, ein Ge-
lächter, wo nichts vorher von diesen Dingen
war. Er schafft sie willkürlich, aus einem Klang,
aus einer Bewegung. Also aus seinen Kunst-
mitteln.

Die richtige Bewegung zur rechten Zeit im
richtigen Tempo. zu nehmen, die richtige Klang-
farbe im bestimmten Wechsel seinen Worten zu
geben, ist eine ebenso grosse Kunst, wie die
des Malers, die richtige Linie und den richti-
gen Farbenfleck an den rechten Ort zu setzen
— oder die des Dichters, das richtige Wort zur
rechten Zeit in der richtigen logischen Verbin-
dung zu bringen. Nur die Mittel sind verschie-
den, die angewendet und beherrscht werden
müssen.

Heute lassen wir uns von den Schauspielern
für unser Geld etwas vormachen, und sie ma-
chen uns etwas vor.

Schreien und Brüllen ist kein Ausdruck
für Stärke, sondern für Angst und Schmerz.
Wie oft wird das verwechselt und nicht gewusst.

Der Schauspielkünstler produziert, um sich
von innerem Ueberfluss zu befreien. Er muss
sein Inneres blosslegen, deshalb spielt er unter
einer anderen Hülle: der Rolle. Er muss sich
seelisch aller Scham begeben, sich entblössen,
deshalb spielt er in einer Maske: der Rolle. Sie
ist sein Vorwand, seine Entschuldigung und
seine heilige Scham.

Der Dichter regt den Regisseur zum Schaf-
fen an, er gibt ihm Vorwand und Gelegenheit
(wie die Natur dem Maler) — er schafft aber
nicht an seiner Statt. Die Rolle, die der Schau-
spieler spielen soll, ist ebenso schon geschaffen,
wie das ganze Werk, deshalb kann es nicht
künstlerische Aufgabe des Regisseurs oder des
Spielers sein, sie zu schaffen. Die Ausgestal-
tung des Dichtwerkes in Bühnenmitteln schafft
der Regisseur und die Verlebendigung dieser
Ausgestaltung der Schauspieler. Er schafft künst-
lerisches Leben.

Privatdozentisches

Von Kurt Hiller

Der Feuilletonist ist gefährlicher als der Re-
porter; Büldung schlimmer als Ignoranz; einer
Revolution mit Klauseln das träge Beharren vor-
zuziehn. Auch in der Wissenschaft ist die Mittel-
stras^e keine sympathische Gegend.

Diese Sätze sage ich Herrn Hermann U.
Kantorowicz; welchcr vor Kant den Witz und
vor den meisten Kollegen Kultur voraushat;
aber gerade deshalb seine widerwärtige Unradi-
kalität endlich aufgeben sollte. In seiner neusten
Schrift „Rechtswissenschaft und Soziologie“ (Tü-
bingen 1911) findet sich, zwischen allerhand
Scharfsinnigkeiten über Einteilungsfragen und
mancher Platitüde, die auf Aussenwelt-Kenntnisse
seitens der Justizpersonen zielt, folgende Inkon-
sequenz;

Auf Seite 10 weint er, mit Fug, über das
schlechte Ergebnis, das eine Umfrage über „tat-
sächliche Rechtsverliältnisse“ gehabt hat, und er-
klärt es mit diefen wahrhaft famosen Sätzen:

„Ihr (der Umfrage) Unglück war, dass sie
durchaus 0.2 tatsächlichen Rechtsverhältnisse des
gegenwärtigen Lebens feststellen wollte;
hätte sie das hellenische Bürgschaftsrecht oder
das altägyptische Grundbuchwesen erkunden wol-
len, so wäre ihr auf Grund der neuesten papy-
rologischen Forschungen, in denen unsere Zivi-
listik ihre soziologischen Bedürfnisse befriedigt,
haarklein genaue Auskunft erteilt worden. Ich
lebe daher der frohen Zuversicht, dass, falls die
herrschende Schule (die historische) sich bis da-
hin lebend erhalten sollte, wir bereits in zwei-

tausend Jahren über die tatsächlichen Rechtsver-
hältnisse des gegenwärtigen Lebens Bescheid wis-
sen werden, und dass, wer sich im Jahre vier-
tausend für einen Lehrstuhl des dann geltenden
bürgerlichen Rechts qualifizieren will, dies auf
keine andere Weise wird tun können, als dass
er etwa die Frankfurter Mietsverträge vom Jahre
1910 auf Grund der noch erhaltenen und nach
den Regeln der philologischen Kunst zu edie-
renden Papiere bearbeitet.“

Wacker und liebenswert! Aber auf Seite 24 be-
dauert dieser Antihistoriker, dass „in ganz Deutsch-
land heute der Student der Rechtswissenschaft
keine Gelegenheit hat, über die Geschichte
seiner Wissenschaft eine Vorlesung zu
hören“! Das könnte den neumodischen Bücher-
würmern so passen: das Studium der Geschichte
des Gegenstands einer Wissenschaft durch
das Studium der Geschichte dieser W i s s e n -
schaft selbst zu ersetzen. Fehlt dann bloss
noch: die Geschichte der Geschichte der Wissem-
schaft; und so beliebig weiter; auf dass die Fa-
muli Wagner in aeternum beschäftigt sind . . .
Ueberflüssige Kenntnisse gibt es für
Herrn Kantorowicz nicht; anstatt unsern Gauri-
sankar von Positivitäten und Bildungsschutt all-
mählich abtragen zu helfen, protestiert er Seite
fünfunddreissig gegen die wundervolle Gepflo-
genheit der deutschen Staaten, von Zeit zu Zeit
die abgelegten Prozessakten einzustampfen; die-
ses Verfahren sei „eine Zerstörung kostbaren
Quellenmaterials“, und die „Diplomatik des Pro-
zesses“ ein „Zweig“ der „Forschung“, der „noch
schöne Früchte“ „zeitigen“ werde. Die Frage
nach dem Z w e c k sotanen Forschens gibt dem
Gelehrten nur den erwünschten Anlass zu Ueber-
legenheitsgefühlen; es ist ja „selbstverständlich“
für ihn, dass „jede Wissenschaft a n s i c h
Wert besitzt“ . . Zu eigenartig, dass dieselben
Biirger, wflche die ennuyantesten Bagatellen zu
Problemtn niachen, die wichtigsten Fragwürdig-
keiten hochnäsig für gesichert erklären. Ein in-
tellektuell anständiger Mensch untersucht, bevor
er sich einer Wissenschaft widmet, den Wert dieser
Wissenschaft; ein Privatdozent, um Professor zu
werden, setzt ihn als selbstverständlich voraus.
Darum ist der Privatdozent, in seiner blossen
Existenz, ein A f f r o n t gegen den anständigen
Menschen; und dieser ist genötigt, ihm (als dem
Snob des Erkennens) immer wieder seine Verlo-
genheit vorzuhalten. Im Falle Kantorowicz liegt
die ja recht harmlos zu Tage; zumalauch, wenn
man bedenkt, dass der Verulker der Papyrologen
vor kurzem, offenbar zu Habilitationszwecken,
einen öden Schinken publizierte, welcher die Stim
hatte, „Albertus Gandinus und das Strafrecht der
Scholastik“ zu heissen, und nicht umhin konnte,
Prozessakten des dreizehnten Jahrhunderts
nebst „diplomatischer“ Einleitung zu enthalten.
Einen Rücksprung über zweitausend Jährchen
glaubt Herr Kantorowicz frivolisieren zu sollen;
einen über siebenhundert managt er selber. Er
denkt, die Menge tut es. Ja, ja: die geistigen
Kämpfe der Kompromissnicks arten leicht in
Quantitätlichkeiten aus.

Wauer via München,
weiter und so weiter

O, wie wohl ist mir im Herzen zwischen
den vielen scherzenden Herzen; alle sind bunt
und brennen, aber mein Herz ist blau und
glüht. Am Morgen hänge ich es an einen sorg-

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