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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 73 (August 1911)
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Döblin, Alfred: Die Verwandlung
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Zech, Paul: Mittagschwüle: Unfern Essen
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Walden, Herwarth: Die Kunst stirbt
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Nr. 75 (August 1911)
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Walden, Herwarth: Die Vinnen gegen den Erbfeind
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0139

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schelten im Sand hinter ihr; sie folgten der Kö-
nigin auf Schritt und Tritt.

Von einer weissen Klippe stieg der schwer-
mütige Prinz herab, mit blossem Haupt, in ei-
nem blauen Samtmantel; seine schwarzen Knie-
hosen waren aus blankem Atlas, silberweiss wa-
ren die Schnallen seiner Schuhe. Er trug einen
runden hohen Stab in der rechten Hand.

Kaum eine Welle warf der blitzernde Oze-
an, als von der Insel heranschritten die blasse
iunge Königin und der stille Prinz. Die Wel-
len schaukelten; mit flachem Handteller strich
der Wind iiber das glückliche Meer. Dicht
schossen die Möven über die kiihl hauchende
Fläche.

Oben auf dem flinkernden Wasser schwam-
men nebeneinander ein runder Stab und eine
goldene Königskrone.

Mittagschwüle

Unfern Essen

Kreisrunder Spiegel ist der Turmuhr Zifferfläche
Darinnen schattendünn der schwarze Zeigersteht.
Die Schieferdächer flimmern. Und kein Wind

verweht

Das schwere Rauchgewölbe über der Kohlen-

zeche.

Und ein geheimnisvoller Bann hält alle Dinge
— Die Luft ist düftelos und weiss und weit —
Wie Perlen auf gespannter Silberschnur gereiht,
Dass kaum ein Baum sich regt, noch eines

Vogels Schwinge.

Und schwer und schmerzlich ist es schon das

Haupt zu heben.

Worte falln stumm zurück wie in ein offenes

Tor.

Und dunkel, wie aus einer Muschel, summt das

Leben.

Nur Spinnen ziehen flink die seltsam feinen
Gezwirne übern Weg. Ein Hahn schreckt jah

empor.

Und zwecklos fangen ein paar Kinder an zu

weinen.

Paul Zech

Die Kunst stirbt

Er ist ein Gemüt, der Herr Viktor Auburtin.
Bei Mosse plaudert er, bei Langen philosophiert
er gegen die Plauderer. Und zwar in einem
Buch', das den Namen Die Kunst stirbt führt
und mit einem lateinischen Motto geziert ist. Herr
Auburtin ist bekanntlich der einzige Lateiner,
den wir noch auf deutscher Erde besitzen. In
Nummer 69 dieser Wochenschrift wurde ihm das
ausdrücklich bestätigt. Herr Auburtin hat of-
fenbar mit grossem Nutzen die Fackel und sämt-
liche Schriften von Karl Kraus gelesen. Er po-
pularisiert sie, indem er sich heftig gegen die
Popularisierung der Kunst wendet.

Die Kunst stirbt an der Masse und an der
Nützlichkeit. Das glaubt Herr Auburtin. Und
führt das des weiteren aus. Wie soll, fragt er,
der Mensch dichten, wenn es eine geregelte Ka-
nalisation gibt und an der Loreley sich ein Ha-
fen für Mörtelkähne befindet. Der Rhein ist

durch solche Dinge für die wahre Poesie erle-
digt. In Westfalen wird die wahre Poesie durch
Zündschnurfabriken und Leimkochereien gestört.
In den kleinen Städten durch Warenhäuser. In
Rom durch eine Gasanstalt. In Eleusis durch
Seife und Zement. Im Orient durch die be-
queme Möglichkeit, ihn zu erreichen. In Eng-
land durch Kammgarnanzüge. In Berlin durch
die Operette. Man sieht, die Kunst wird so
ziemlich überall verhindert. Was soll nun wer-
den? Vor allem mit der Produktion des Herrn
Auburtin? Man wird den Hafen für Mörtel-
kähne an der Loreley beseitigen müssen, die
Warenhäuser niederreissen, die Kanalisation ab-
schaffen müssen, auf dass Herrn Auburtin die
Möglichkeit zum Dichten gegeben werde. Zwar
ist Schiller nie in der Schweiz gewesen und hat
sie, wenigstens nach Ansicht philologischer Krei-
se, „treffend“ geschildert. Zwar ist Goethe in Ita-
lien gewesen und hat infolgedessen Iphigenie
geschrieben. Zwar ist Herr Auburtin in Herings-
dorf gewesen und konnte trotz der dort sicher
vorhandenen äusseren Unruhe ein Feuilleton für
das Berliner Tageblatt schreiben. Zwar weiss
man nicht, ob es Kunst war. Denn, sagt Herr
Auburtin, was Kunst ist, weiss kein Mensch.
Aber es war Lyrik, denn das „ist die Fähigkeit,
oder der Trieb, die Stimmung einer Stunde zu
fassen“. Aber Herr Auburtin ist wirklich ernst-
haft betrübt. Denn die Kunst, die vielleicht nur
eine „von den Griechen übernommene Krank-
heit“ sein mag, ist um 1850 definitiv gestorben.
Um dieses Jahr setzte nämlich die Demokratisie-
rung der Gesellschaft, die Eroberung gewaltiger
Naturkräfte und die Zurückdrängung der Per-
sönlichkeiten in den Hintergrund ein. Sollte
man es glauben, dass selbst Herrn Auburtin
schon der Fortschritt stört. Warum benutzt er
aucli den Speisewagen des Schnellzuges, wenn
er durch die Rheingegend fahren muss, statt auf
Schusters Rappen, wie Herr Auburtin vor dem sech-
zehnten Juli sich noch ausgedrückt hätte, seine bo-
tanischen Kenntnisse zum Zweck der wahren
Poesie zu vermehren. Vielleicht hätte er doch
noch Teile des Rheins gefunden, die nicht wie
russige Kanäle aussehen. So freilich findet es
Herr Auburtin schwerlich denkbar, dass je noch
ein Dichter ein Lied auf diese Verkehrsstrasse
singen würde. „Und tut es einer doch, so ist er
ein Quatschkopf, der sich und uns eine Stim-
mung vorredet, die nicht mehr da ist.“ Die
nicht mehr da ist. Nun haben wir den Quatsch-
kopf. Und zugleich die Definition für die Dich-
tung: Dajewesensein. Wie hatte es Herr Hein-
rich Heine gut, der noch die Loreley bei der
Frisur überraschen konnte. Für Herrn Aubur-
tin blieben nur noch Mörtelkähne übrig, die
ihn allerdings überrascht haben. Denn das hät-
te er doch nicht geglaubt, dass Herr Heinrich
Heine ihm eine Stimmung vorreden wollte, die
garnicht da war. Hoffentlich hat aber Heine ir-
gendwie die Existenz dieser Dame aktenmässig
nachgewiesen, sonst wäre er ja ein Quatsch-
kopf gewesen. Der Fortschritt entfernte nach
1850 die singende Dame als nachweisbares Ver-
kehrshindernis für Mörtelkähne und unvorsich-
tige Schiffer. Ohne Rücksicht auf die Notwen-
digkeiten der wahren Poesie. Wenn nun Herr
Auburtin durchaus den Rhein immer wieder
besingen will, warum muss er sich gerade die
Stelle aussuchen, an der ein Ueberkollege schon
gearbeitet hat. Besässe er den Mut seiner Ueber-
zeugung, nämlich des Dajewesenseins, so würde
er verschiedene Teile des Rheins entdeckt haben,
die noch nicht vom „Russ angeschwärzt sind.“
Welch herrliche Dichtung ist der Nachwelt viel-
leicht auf diese Weise verloren gegangen. Wenn

man schon Ueberzeugungen hat, soll man nach
ihnen nicht nur bei Langen, sondern auch' mit
Mosse handeln. Es ist nicht auszudenken, wel-
ches Unglück entstanden wäre, wenn Herr Au-
burtin den Rhein statt im Buch im Berliner Ta-
geblatt angeschwärzt hätte. Herr Mosse lässt
mit Tatsachen nur in der wahren Poesie spassen.
Weil sie nämlich dort nicht hingehören. So
durchwandert Herr Auburtin alle Provinzen. In
seiner Jugend lebten in Westfalen noch die Sach-
sengeister und die Zwerge mit der Zauberrute
(wie wahrhaft poetisch), jetzt sind sie unter den
Klamottindustrien erstickt. In den kleinen Städ-
ten sind die kuriosen Apotheker verstorben. Dass
Herr Auburtin jefzt sein Buch in den dort ent-
standenen Warenhäusern von Tietz kaufen kann,
ist sicher nicht poetisch.

Zwischen Deutschland und Rom wird Herr
Auburtin nachdenklich. Er fürchtet, „dass spiri-
tualistischen Gemütern die Art der Vorrechne-
rei, wie er sie betreibt, etlichermassen naiv vor-
kommen dürfte.“ Aber er beruhigt sich schnell,
denn „die Kunst ist eine Realität in diesem Le-
ben und kann als Wirklichkeit und Ding ihre
ganz bestimmte Masse beanspruchen.“ Ich fin-
de wieder die reelle Kunst „etlichermassen“.

Schon Herr Winckelmann war dagegen, dass
in Rom die göttliche Anarchie aufhöre. Auch
Böcklin und Ludwig Richter waren dagegen.
Sie alle hatten Angst, dass sonst kein Platz für
die Schatten bleibe, „deren einer mehr wert ist,
als dies ganze Geschlecht.“ Die Schatten sind
gegangen, sagt Herr Auburtin, aber er ist ge-
kommen und hat Platz gefunden.

„Eine Welt ohne Rhein, eine Welt ohne Rom,
denke dies durch, Freund Leser, und du fühlst,
wie es Nacht wird. Die grosse eine Nacht, der
wir alle entgegengehen.“ Schattenpoesie, Freund
Auburtin. Auf lateinisch omnes una manet nox.
Auburtins Motto aus jener Zeit. Aber lieber
fahri ich nach Athen, als mit ihm einer Nacht
entgegenzugehen.

Eleusis, jammert Herr Auburtin, Ekusis
produziert Seife und Zement. „Diese Stätte, die
einst Demeter und den jungen Bacchus gab.“
Man kann sie von dort nicht mehr beziehen,
und die Poesie muss ohne diese Götter aus-
kommen. Es ist nicht auszudenken.

Aber damit noch nicht genug: Auch die
fernste Gegend liefert keine Poesieklischees mehr.
Früher gab es dort noch’ Feen und Riesen und
Amazonen und Spinnräder und Moguls. Herr
Auburtin ist überall dagewesen und hat nichts
vorgefunden. „Die Welt sieht aus wie Warne-
münde.“ Das ist die erste poetische Uebertrei-
bung, denn Herr Auburtin war in Heringsdorf.
Wie kann man in der Kunst von Dingen reden,
die nur vor 1850 vorhanden waren. Die Kunst
stirbt. Denn heute kann man jedem Dichter
durch eine Reise im Speisewagen nachweisen,
dass er bewusste Unwahrheiten verbreitet. Pa-
ragraph 185 des Strafgesetzbuches.

„Die wahre Poesie flieht die Helligkeit, sie
wispert um die verlornen Kronen kranker Kaiser,
um das Gräul Blutopfer im Walde, um den er-
mordeten König.“ Also an der Beleuchtung
liegt es. Die Sache wird immer klarer. König
Manuel wird bei hellem Tage vertrieben, die
Lustmorde gehen jetzt nachmittags vor sich und
werden von Herrn Auburtin unter Umständen
glossiert, und König Alexander von Serbien
wird am Vormittag ermordet. Alle diese wahr-
haft poetischen Ereignisse um einige Stunden
verschoben und die wahre Poesie wäre nicht
davongeloffen. Die Dichter haben wirklich Russ.

Das ist der eine Grund. „Die Kunst stirbt,
weil ihr ringsherum die Welt und der Stoff

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