Ich erbebe tnich schwer von dem schwiile«
Sofa. Ich besdiaue tnich im Spiegel: das müde,
schlaffe Gesicht mit den häßlichen, blaßgrauen
Wangen, die stumpfen Augen und die breite btöde
Stirn, die schwere Last der Erde — es wühlt
Und ich höhne und verfluche mich, daß ich
nur zur Trauer und Zerstörung geboren bin, daß
sich n-ichts aus diesem bleichen Herzen drängen
will, was mich wärrnt und erfreut: Ein steinerner
Gast muß ich sein. Zu ann für die Einsamkeit bin
ich, nur Begierde und Liebe bin ich.
Und d’iese Brust vol! heißen Brütens, ''ol!
Lüsternheit, Ohnmacltt, Kä!te und Lastern. Und
wteder üege ich da, auf dem schwülett Sofa, in
dem stickigen, todesstilien Zimmer, und lebe —
Wenn er sich jetzt unter Ereundeu plötziich
müde reckte, den Kopf auf die Brust fallen üeß
und minutenlang vor sich hinstarrte, so klangen
öedanken in ihm auf, deren Qua! ihn fast betäubte.
Eortsetzung folgt
Naehwinter
Von Peter Altenberg
9. März. Mein dreiundfünfzigster Geburtstag.
Es ist schon wieder Schnee gefaflen die ganze
Nacht, Hochwinter im März. Man kann noch nicht
„rodeln“, denn der Schnee ist noch flaumig wie
flaumige Eiderdunen. Aber das Auge weiß davon
nichts. Nttr die Fußspuren sind braungrau. Es hat
null Grad im Schatten* Es ist ein Winterbild, an
das man nicht mehr recht glaubt. So Nachzügler
einer Armee „Winter“! Meine Schneeschuhe, ein
Geschenk des berühmten Architekten Adolf Loos,
vor fünf Jahren, sind mir gestern abhanden ge-
komtnen. Der Dieb hat wahrscheinlich nicht mit
diesem Winter-Rückfall gerechnet. Sie waren mir
teuer, obzwar sie mir tiichts gekostet haben. Ich
hatte fiinf Jahre !ang den Ehrgeiz. sie mir weder
vertauschen, noch stehlen zu lassen. Der Kellner
sagte mir oft: „Lassen Sie Ihre Schneeschuhe
ruhig irgendwo stehen, es geschieht ihnen nichts!“
Nun, es ist ihnen wirklich nichts geschehen, sie
haben nur ihren Besitzer gewechselt. Möge er sie
ebenso zärtlich rücksichtsvoll behandeln wie ich,
und möge ich eine neue Schnee chuh-Wurzen bal-
digst finden! Einer machte schon eine leise An-
spielung, aber es stellte sich heraus. daß er mir
mir mitteilen wollte, dieser Nachwinter könne jä
ohnedies nicht mehr von langer Dauer sein, und
da genügten dann gewöhnliche Galoschen. Als
ich bemerkte, daß ich auch solche nicht besitze,
erklärte er, Galoschen seien ungesund und verhin-
derten die Hautausdünstung. Also, in dieser Win-
terpracht feiere ich meinen dreiundfünfzigsten
Geburtstag. Es wird kein Geld regnen, da ich
keine Danae bin. Aber in die schlechte Bilanz des
Jahres 1912 muß ich doch den Plus-Kontoposten
meines Lebens einrechnen: „Nachwinter im März
auf dem Semmering, und eine romantische Petrar-
ca-Liebe!“
Hier ist es friedvoll, vertauschte Haselmtß-
bergstöcke, vertauschte Schneeschuhe, vertausch-
Frauen sind das einzige bemerkenswerte Ereignis.
Aber man findet sich in alles. Eine Dame sagte
mir: „Sehen Sie, dieser von Ihnen gepriesene
Herr ist docb kein Gentlerrtan. Er trägt abends
zu Escarpins Wollsoeken!“ — „Pardon,“ erwSderte
ich, „ich habe das im Drang meiner Begeisterung
übersehen!“ — „Ein scharfer Beobachter wie ge-
rade Sie, Herr Altertberg?!“ — ;,Ja, auch wir sind
nur irretvde Menschenkinderl“
Der Vortragsabend
von Rudolf Blümner
Der ahnuttgslose He-rr äußerte zu dem Kritiker:
„Es war reizend! Also es war ... Ja, um üottes
Willen. warum widersprechen Sie mir nicht?“
Der Kritiker grinste sttblim.
„Es liegt kein Grund vor, Ihnert zu wider-
spreclten. Sie haben doch Recht. — lclt hoffe,
meine Zustimmung tnacht Sie nicht bedenklich ...“
warf er hastig dazwischen, ttnt den aüzu berei-
ten Witz des Andcrn zurückzujagen.
Der ahnungslose Herr faltete gereizt seine Stirn.
Qualvoil belastete ihn der Wunsch, das letzte Wort
ztt belialten. Dann polterte cr unwillig heraus.
„Sie sind inkonsequent! Das waren doch
Märchen, Fabeln! Wollen Sie etwa Kindergemüt
markieren? Woüen Sie ttns einreden, daß Ste für
Anekdoten sind, alter Ereund? (Er trat mit blitzen-
den Augen attf ihn zu und schlug ihn nieder.)
Glauben Sie, das imponiert mir?“
Der Kritiker erhob sich versonnen. Nachdenk-
lich betrachtete er sein Gesicht in einem Taschen-
spiegel und sagte träumerisch:
„Man müßte über diesen mageren Diaboliker im
Stil der moralit6es legendaires schreiben. O wir
sind Freunde jener konzentrierten Qiftigkeit, die
sich im bürgerlichen Gehrock verbirgt! Es ge-
lüstet mich, rqtgiiihende K'uüssen ttm rhn zn stellen,
schreiende Hintergriinde emporrauschen zu lassen,
bunte Lichtnebei iibergilbt von einem Mond, der
blaß und lüstern grinst — aber, mein Herr, Sie
lieben das Verstiegene nicht und ich rechne auf
Iitre Einladung zum Abendessen“.
Der Kritiker schwieg höhnisch. Aber seln Ly-
rismus riß ihn fort. Er sprach schwermiitig:
„Haben Sie je einen besser angezogenen
Oberlehrer gesehen? Haben Sie beachtet, w-ie sein
Antrittsgestus das Seelenleben seiner Ztthörer auf-
lockerte? Eine karge Bewegung: utid Därnpfe von
Familiarität stiegen rittgs im Saale auf. Perfidere
Bosheiten hat man nie unter dem V rorwande einer
harmlosen Familienunterhaltting anzttbieten gewagt.
Ein respektloser Herr verzerrt Lessings edle Züge
zur Orimasse. Er verulkt Sie, der Sie eben Ihr
Qeiniit für Christiaii Andersen entdeckt haben. Er
produziert eine eiserne Respektabilität (durch die
ein höhnisöhes Grinsen zart hindurch schmilzt.)
Ah, wenn Sie wüßten, welche Ititelligenz nötig ist,
ttm Satanisnms in Fortn Lessingscher Fabein zu
propagieren!“
Der Zuhörer rüipste vernehmlich. Entgegen-
kommend verbeugte sich der Kritiker und fuhr 'ort:
„Ich weiß. Sie bevorzugen erste Erwägungen.
Sprechen wir von den Anekdoten Kleists, Weich
empfindiiche Zunge gehört daztt (verwöhnt mit allen
netinundsechzig Pilzgerichtert wie Peter Baum
kennerisch doziert) ttm den strengen Denkstil Kleists
in der syntaktisclien Gliederung auszttdrücken.
Hart grenzte sich Satzstiick an Satzstück, dirigiert
von einem ausgezeichneten Verständnis für Form,
das kein Wort aus dem geschlossenen Kreis ließ.
Darf ich Ihnen mitteilen, daß der Doktor Blümner
ein enragierter Verehrer des verstorbenen Dichter
Herman Bang war — des beweglichsten, grazi-
ösesten Gent, der je auf einem Podium stand. Ah,
Sie waren ja frappiert von dem Spürsinn des Dok-
tor Blünmer, der zu jedem Wort die korrespon-
dierende Geste fand. Erinnern Sie sich der gelasse-
Eleganz, tnit der er eine Ehegeschichte Strind-
bergs aufbaut, ohne ihr die Delikatesse gar.z leise
reflektierter Gedankenbailungen zu rauben, die
scheinbar jedes gesprochene Wort demolieren muß?
Oder wie er die krausen Humore einer Groteske
Mynonas gleichsam auswog, verstärkte tind ab-
tönte, um . . .
Da entsann er sich, daß sein Monolog einen
Zuhörerhatte und verstummte. Dann aber forcierte
er sein Organ und rief:
Es ist die Bedeutung seiner Existenz, mein
Herr, der eigenen köstlichen Existenz, die ihn zu
seinen Wirktingen verhilft. Er Irat die Käterpoesie
Scheerbarts dramatisiert! Er hat die Verse sprach-
lich komponiert! Er präsentiert Iltnen seine Seete,
seine zuckende kunstvoü znbereitete Seele! Doch
verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich lasse mich wohl
gehen.“
Der Herr hatte interessiert zugehört. Aber
gerade, als der Kritiker die ietzten Worte erschöpft
hinausstieß sah er naclt der Uhr und unterbrach
ihn erschrocken:
„Na, ja! Na ja! Aber kontnten Sie, wir tniissen
ein Anto nelinien. Wir . .
Der Kritiker schrie ntit güihenden Augen:
„Der Doktor Bliitnner trägt seitt Tei! zur I5es-
serttng der deutschen Zustäude bei! 0, er verhöhnt
das Gemüt des deutschen Volkes. Er vergiffet die
popnlärsten Nahrungsmittel: Lessingsche Eabeln
und Andersensche Märchen. Und das Publikum
dampft vor Begeisterung und verläßt voll geistiger
Stärkung den Saal, ohne zu ahnen, daß ein frivoier,
heimtückischer Herr ihtn hinteriistig attf die Seelen
gespuckt hat.“
Der Kritiker gurgelte lteiser. Seine Augen waren
aufgeschwollen, seine Hände flatterten heftig in der
Luft. um das runde Gesicht seines Zuhörers, der
sprachios, mit weit geöffnetetn Mtinde attf seine
große Uhr wies.
Der Kritiker kreischte auf, spie dicht an dem
ratloseri stummen Gesicht vorbei ttnd lief eüends
davon.
Rudoif Kurtz
Leo Toistoi:
Und das Lieht scheinet in der Finsternis
Neben uns breitete Marie den Nacken unter
die steii krallenden Blicke des Parketts, die wie
ferne Brandung von der leinern umwölkten Decke
wiederfiallten.
AIs in der Diskussion, deren Genauigkeit kränkt,
Sarynzew, ein Gutsherr, resolutioniert: die Gesell-
schatt richte sich nach ihrer Institution, dem Evan-
geiium Christi. Wohlwollend, auch Materialist und
von antithetischer Weltanschauung, er teilt. ein in
Sünder und solche, die sichs n-icht leisten können,
Wer also möchte nicht den Gefahren des Besitzes
entrinnen?
In der „A":cht der Finsternis“, hiuter der Ouäl:
einer g-esteht, und v/ird von denen. die noch nicht
gestanden haben, zur Siihne gehenkt werden,
Sarynzew — wie ihm — fehlt eitt Mangel an
Privatleben. Sarynzew gelangt über das Evan-
gelium dahin, daß niemand gestohlenes Holz
den Bauern vom Munde wegnehmen darf, und
erläßt daher dreien, die in seinem Wald stahien
die Strafe. O Sarynzew, wiill aus der christ-
lichen Erkenntnis seine Giiter verteilen und statt
eines treuen Herzens werden fünftausend Giere-
boide besitzen. Er — wie sder jGestehende —
fällt in iden allgemeinen Ehrbegriff, eliminiert
sich. O Sarynzew; kann nicht Gott opfern
um Gottes willen; erliegt der Versuchung, vorzeitig
seiner Idee zu folgen; kann sich nicht neben sich
selbst steüen, über sich selbst: seinem Kampf mit
dem Umkreis nicht zusehen. Er auch mag lieber
anerkannter Ehemann als Präsident sein. Wer
nicht alles will, darf nichts wollen. Daran platzt
der radikaie Kompromißler Sarynzew. Der ihm
anhängt, scheut nach Christi Gebot vor dem Mili-
tärdienste. Aber: dem Guten müssen alle Dinge
zutn Besten dienen, sagt Paulus, sogar die Sünde.
Sie indessen, den Wundern nicht zugetan, Revolu-
tionäre aus gesundem Menschenverstan-d, suchen
jenseits der völkerspaltenden Kirchen einen Nor-
malgott . . .
830
Sofa. Ich besdiaue tnich im Spiegel: das müde,
schlaffe Gesicht mit den häßlichen, blaßgrauen
Wangen, die stumpfen Augen und die breite btöde
Stirn, die schwere Last der Erde — es wühlt
Und ich höhne und verfluche mich, daß ich
nur zur Trauer und Zerstörung geboren bin, daß
sich n-ichts aus diesem bleichen Herzen drängen
will, was mich wärrnt und erfreut: Ein steinerner
Gast muß ich sein. Zu ann für die Einsamkeit bin
ich, nur Begierde und Liebe bin ich.
Und d’iese Brust vol! heißen Brütens, ''ol!
Lüsternheit, Ohnmacltt, Kä!te und Lastern. Und
wteder üege ich da, auf dem schwülett Sofa, in
dem stickigen, todesstilien Zimmer, und lebe —
Wenn er sich jetzt unter Ereundeu plötziich
müde reckte, den Kopf auf die Brust fallen üeß
und minutenlang vor sich hinstarrte, so klangen
öedanken in ihm auf, deren Qua! ihn fast betäubte.
Eortsetzung folgt
Naehwinter
Von Peter Altenberg
9. März. Mein dreiundfünfzigster Geburtstag.
Es ist schon wieder Schnee gefaflen die ganze
Nacht, Hochwinter im März. Man kann noch nicht
„rodeln“, denn der Schnee ist noch flaumig wie
flaumige Eiderdunen. Aber das Auge weiß davon
nichts. Nttr die Fußspuren sind braungrau. Es hat
null Grad im Schatten* Es ist ein Winterbild, an
das man nicht mehr recht glaubt. So Nachzügler
einer Armee „Winter“! Meine Schneeschuhe, ein
Geschenk des berühmten Architekten Adolf Loos,
vor fünf Jahren, sind mir gestern abhanden ge-
komtnen. Der Dieb hat wahrscheinlich nicht mit
diesem Winter-Rückfall gerechnet. Sie waren mir
teuer, obzwar sie mir tiichts gekostet haben. Ich
hatte fiinf Jahre !ang den Ehrgeiz. sie mir weder
vertauschen, noch stehlen zu lassen. Der Kellner
sagte mir oft: „Lassen Sie Ihre Schneeschuhe
ruhig irgendwo stehen, es geschieht ihnen nichts!“
Nun, es ist ihnen wirklich nichts geschehen, sie
haben nur ihren Besitzer gewechselt. Möge er sie
ebenso zärtlich rücksichtsvoll behandeln wie ich,
und möge ich eine neue Schnee chuh-Wurzen bal-
digst finden! Einer machte schon eine leise An-
spielung, aber es stellte sich heraus. daß er mir
mir mitteilen wollte, dieser Nachwinter könne jä
ohnedies nicht mehr von langer Dauer sein, und
da genügten dann gewöhnliche Galoschen. Als
ich bemerkte, daß ich auch solche nicht besitze,
erklärte er, Galoschen seien ungesund und verhin-
derten die Hautausdünstung. Also, in dieser Win-
terpracht feiere ich meinen dreiundfünfzigsten
Geburtstag. Es wird kein Geld regnen, da ich
keine Danae bin. Aber in die schlechte Bilanz des
Jahres 1912 muß ich doch den Plus-Kontoposten
meines Lebens einrechnen: „Nachwinter im März
auf dem Semmering, und eine romantische Petrar-
ca-Liebe!“
Hier ist es friedvoll, vertauschte Haselmtß-
bergstöcke, vertauschte Schneeschuhe, vertausch-
Frauen sind das einzige bemerkenswerte Ereignis.
Aber man findet sich in alles. Eine Dame sagte
mir: „Sehen Sie, dieser von Ihnen gepriesene
Herr ist docb kein Gentlerrtan. Er trägt abends
zu Escarpins Wollsoeken!“ — „Pardon,“ erwSderte
ich, „ich habe das im Drang meiner Begeisterung
übersehen!“ — „Ein scharfer Beobachter wie ge-
rade Sie, Herr Altertberg?!“ — ;,Ja, auch wir sind
nur irretvde Menschenkinderl“
Der Vortragsabend
von Rudolf Blümner
Der ahnuttgslose He-rr äußerte zu dem Kritiker:
„Es war reizend! Also es war ... Ja, um üottes
Willen. warum widersprechen Sie mir nicht?“
Der Kritiker grinste sttblim.
„Es liegt kein Grund vor, Ihnert zu wider-
spreclten. Sie haben doch Recht. — lclt hoffe,
meine Zustimmung tnacht Sie nicht bedenklich ...“
warf er hastig dazwischen, ttnt den aüzu berei-
ten Witz des Andcrn zurückzujagen.
Der ahnungslose Herr faltete gereizt seine Stirn.
Qualvoil belastete ihn der Wunsch, das letzte Wort
ztt belialten. Dann polterte cr unwillig heraus.
„Sie sind inkonsequent! Das waren doch
Märchen, Fabeln! Wollen Sie etwa Kindergemüt
markieren? Woüen Sie ttns einreden, daß Ste für
Anekdoten sind, alter Ereund? (Er trat mit blitzen-
den Augen attf ihn zu und schlug ihn nieder.)
Glauben Sie, das imponiert mir?“
Der Kritiker erhob sich versonnen. Nachdenk-
lich betrachtete er sein Gesicht in einem Taschen-
spiegel und sagte träumerisch:
„Man müßte über diesen mageren Diaboliker im
Stil der moralit6es legendaires schreiben. O wir
sind Freunde jener konzentrierten Qiftigkeit, die
sich im bürgerlichen Gehrock verbirgt! Es ge-
lüstet mich, rqtgiiihende K'uüssen ttm rhn zn stellen,
schreiende Hintergriinde emporrauschen zu lassen,
bunte Lichtnebei iibergilbt von einem Mond, der
blaß und lüstern grinst — aber, mein Herr, Sie
lieben das Verstiegene nicht und ich rechne auf
Iitre Einladung zum Abendessen“.
Der Kritiker schwieg höhnisch. Aber seln Ly-
rismus riß ihn fort. Er sprach schwermiitig:
„Haben Sie je einen besser angezogenen
Oberlehrer gesehen? Haben Sie beachtet, w-ie sein
Antrittsgestus das Seelenleben seiner Ztthörer auf-
lockerte? Eine karge Bewegung: utid Därnpfe von
Familiarität stiegen rittgs im Saale auf. Perfidere
Bosheiten hat man nie unter dem V rorwande einer
harmlosen Familienunterhaltting anzttbieten gewagt.
Ein respektloser Herr verzerrt Lessings edle Züge
zur Orimasse. Er verulkt Sie, der Sie eben Ihr
Qeiniit für Christiaii Andersen entdeckt haben. Er
produziert eine eiserne Respektabilität (durch die
ein höhnisöhes Grinsen zart hindurch schmilzt.)
Ah, wenn Sie wüßten, welche Ititelligenz nötig ist,
ttm Satanisnms in Fortn Lessingscher Fabein zu
propagieren!“
Der Zuhörer rüipste vernehmlich. Entgegen-
kommend verbeugte sich der Kritiker und fuhr 'ort:
„Ich weiß. Sie bevorzugen erste Erwägungen.
Sprechen wir von den Anekdoten Kleists, Weich
empfindiiche Zunge gehört daztt (verwöhnt mit allen
netinundsechzig Pilzgerichtert wie Peter Baum
kennerisch doziert) ttm den strengen Denkstil Kleists
in der syntaktisclien Gliederung auszttdrücken.
Hart grenzte sich Satzstiick an Satzstück, dirigiert
von einem ausgezeichneten Verständnis für Form,
das kein Wort aus dem geschlossenen Kreis ließ.
Darf ich Ihnen mitteilen, daß der Doktor Blümner
ein enragierter Verehrer des verstorbenen Dichter
Herman Bang war — des beweglichsten, grazi-
ösesten Gent, der je auf einem Podium stand. Ah,
Sie waren ja frappiert von dem Spürsinn des Dok-
tor Blünmer, der zu jedem Wort die korrespon-
dierende Geste fand. Erinnern Sie sich der gelasse-
Eleganz, tnit der er eine Ehegeschichte Strind-
bergs aufbaut, ohne ihr die Delikatesse gar.z leise
reflektierter Gedankenbailungen zu rauben, die
scheinbar jedes gesprochene Wort demolieren muß?
Oder wie er die krausen Humore einer Groteske
Mynonas gleichsam auswog, verstärkte tind ab-
tönte, um . . .
Da entsann er sich, daß sein Monolog einen
Zuhörerhatte und verstummte. Dann aber forcierte
er sein Organ und rief:
Es ist die Bedeutung seiner Existenz, mein
Herr, der eigenen köstlichen Existenz, die ihn zu
seinen Wirktingen verhilft. Er Irat die Käterpoesie
Scheerbarts dramatisiert! Er hat die Verse sprach-
lich komponiert! Er präsentiert Iltnen seine Seete,
seine zuckende kunstvoü znbereitete Seele! Doch
verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich lasse mich wohl
gehen.“
Der Herr hatte interessiert zugehört. Aber
gerade, als der Kritiker die ietzten Worte erschöpft
hinausstieß sah er naclt der Uhr und unterbrach
ihn erschrocken:
„Na, ja! Na ja! Aber kontnten Sie, wir tniissen
ein Anto nelinien. Wir . .
Der Kritiker schrie ntit güihenden Augen:
„Der Doktor Bliitnner trägt seitt Tei! zur I5es-
serttng der deutschen Zustäude bei! 0, er verhöhnt
das Gemüt des deutschen Volkes. Er vergiffet die
popnlärsten Nahrungsmittel: Lessingsche Eabeln
und Andersensche Märchen. Und das Publikum
dampft vor Begeisterung und verläßt voll geistiger
Stärkung den Saal, ohne zu ahnen, daß ein frivoier,
heimtückischer Herr ihtn hinteriistig attf die Seelen
gespuckt hat.“
Der Kritiker gurgelte lteiser. Seine Augen waren
aufgeschwollen, seine Hände flatterten heftig in der
Luft. um das runde Gesicht seines Zuhörers, der
sprachios, mit weit geöffnetetn Mtinde attf seine
große Uhr wies.
Der Kritiker kreischte auf, spie dicht an dem
ratloseri stummen Gesicht vorbei ttnd lief eüends
davon.
Rudoif Kurtz
Leo Toistoi:
Und das Lieht scheinet in der Finsternis
Neben uns breitete Marie den Nacken unter
die steii krallenden Blicke des Parketts, die wie
ferne Brandung von der leinern umwölkten Decke
wiederfiallten.
AIs in der Diskussion, deren Genauigkeit kränkt,
Sarynzew, ein Gutsherr, resolutioniert: die Gesell-
schatt richte sich nach ihrer Institution, dem Evan-
geiium Christi. Wohlwollend, auch Materialist und
von antithetischer Weltanschauung, er teilt. ein in
Sünder und solche, die sichs n-icht leisten können,
Wer also möchte nicht den Gefahren des Besitzes
entrinnen?
In der „A":cht der Finsternis“, hiuter der Ouäl:
einer g-esteht, und v/ird von denen. die noch nicht
gestanden haben, zur Siihne gehenkt werden,
Sarynzew — wie ihm — fehlt eitt Mangel an
Privatleben. Sarynzew gelangt über das Evan-
gelium dahin, daß niemand gestohlenes Holz
den Bauern vom Munde wegnehmen darf, und
erläßt daher dreien, die in seinem Wald stahien
die Strafe. O Sarynzew, wiill aus der christ-
lichen Erkenntnis seine Giiter verteilen und statt
eines treuen Herzens werden fünftausend Giere-
boide besitzen. Er — wie sder jGestehende —
fällt in iden allgemeinen Ehrbegriff, eliminiert
sich. O Sarynzew; kann nicht Gott opfern
um Gottes willen; erliegt der Versuchung, vorzeitig
seiner Idee zu folgen; kann sich nicht neben sich
selbst steüen, über sich selbst: seinem Kampf mit
dem Umkreis nicht zusehen. Er auch mag lieber
anerkannter Ehemann als Präsident sein. Wer
nicht alles will, darf nichts wollen. Daran platzt
der radikaie Kompromißler Sarynzew. Der ihm
anhängt, scheut nach Christi Gebot vor dem Mili-
tärdienste. Aber: dem Guten müssen alle Dinge
zutn Besten dienen, sagt Paulus, sogar die Sünde.
Sie indessen, den Wundern nicht zugetan, Revolu-
tionäre aus gesundem Menschenverstan-d, suchen
jenseits der völkerspaltenden Kirchen einen Nor-
malgott . . .
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