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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 90 (Dezember 1911)
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Walden, Herwarth: Theater und Varieté
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Adler, Joseph: Kunst, Demokratie und Presse
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Beachtenswerte Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0278

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dem die Komische Oper ihre künstlerischen Erfoige
zu verdanken hatte. Ich halte Moris neben Wiliiam
Wauer für die stärkste Regiebegabung an deutschen
Theatern. Trotz der belangiosen Musik und den
mäßigen Sängern ging von der Biihne etwas Kiinst-
lerisches aus. Die Bewegung der Chöre, die Qe-
bärden der Spieler bewiesen das Vorhandensein
eines großen kiinstlerischen Willens, der aus einem
musikalischen Qefühl heraus gestaltet. Die Mit-
glieder der Oper werden von diesem Regisseur ge-
formt werden. Und sollte Maximilian Moris nicht
wissen oder vergessen haben, was sich zu spielen
lohnt, so soll er sich an mich wenden. Oder er soii
iieber Kitsch zur Theaterkunst durch seine große
Kraft wandeln, statt Dangweile als Kunst vorzu-
täuschen, wenn auch der Komponist zu den echten
Beriihmtheiten gezählt wird.

Wintergarten

Da die Reporter mit Waschzettelbosheit alle
Mitglieder aller Varietes loben, solite man monat-
lich die wirklich bedeutenden Künstler von den
Sternen scheiden, die nicht leuchten. Da sind zum
Beispiel diese drei Exzentrics Alvaretta. Echte Va-
rieteleute. Kunst der Körperlichkeit. Einer von
ihnen kann den Mund nicht schließen. Das ist viel
komischer, als wenn ein Feuilletonist den Mund
nicht halten kann vor lauter Kunstbegeisterung.
Denn die Komik dieses Merrn Aivaretta ist Humor.
Man gibt sich mit seinem Munde aile Mühe. Der
eine Qenosse setzt sich ihm auf den Kopf, der an-
dere schlägt ihm mit der Faust gegen den Unter-
kiefer, der Mund geht nicht zu. Es ist nicht aus-
zudenken, was sich die Qenossen alles ausdenken,
um ihren Ordnungssinn zu befriedigen. Warum soll
der Mann schließlich nicht den Mund offen halten?
Die größten und tiefsten Assoziationen sind durch
dieses Kinderspiel, das mit geradezu idiotischer
Kraft durchgespielt wird, versinnlicht. Es beweist
weiter, was immer wieder gesagt werden muß, daß
Tragik und Humor auf demselben Boden wachsen.
Schr komisch ist auch Herbert Lloyd. Seine Wir-
kung erzieit er durch das Verhundertfachen einer
Handlung. Er bindet hundert Chemisettes ab, er
wiederholt hundertfach dasselbe Wort, er macht
hundert Mal dieselbe Bewegung. Es kann natürlich
auch hundert und ein Mal gewesen sein. Der Sinn
der Tatsachen wird sinnlos und dadurch das Sinn-
lose der Tatsachen bewiesen. Freudig verzichtete
ich auf Spaniens Stolz. Ich bin gegen das Historische.

Passagetheater

E in Erlebnis bietet das Passagetheater immer:
Claire Waldoff. Dieses kleine Mädchen
steht da auf der Bühne mit der Korrektheit einer
deutschen Jungfrau, ohne Bewegung, die Arme ge-
senkt, die Hände schlicht übereinander, mit einem
tingiaublich harmlosen Qesicht, nur die Augen rollen
zuweilen entsetzt in die Ecke, und plärrt dazu auf
berlinisch Zoten von sexueller Beschaulichkeit. Der
ganze Ausdruck, die Qestaltung des erotischen Ber-
linertums, liegt absolut im Tonfali. Das ist tatsäch-
lich die Kunst des Rezitierens oder des Singens. So
wie sie etwa das Wort Liebe oder das Wort Mai
ausspricht, wird die sinnfällige Vorsteliung des
Wortes körperlich lebendig. Sie stellt Erlebnis-
haftes persönlich dar. Ihre Couplets sind selbstver-
ständlich Iiterarisch und musikalisch ohne jeden
Wert. Aber die künstierische Wirkung, die sie da-
mit erzielt, ist wieder ein Beweis dafür, daß nicht
nur das Theater, sondern auch die Vortragskunst
nichts mit Literatur und Musik zu tun haben, daß
vielmehr ihre Qesetze aus ihrer Sonderheit herge-
leitet werden mtissen.

Trust

Kunst, Demokratie und
Presse

Wie es werden soll und wie es ist

Vom zwölften Januar an soll wieder mal aiies
anders werden, sagen die Demokraten. Front ge-
gen Rechts, den Zentrumsturm sprengen, Junker
und Agrarier blutig aufs Haupt schiagen, der Reak-
tion eine denkwiirdige Niederlage bereiten, den
schwarzblauen Block zertrümmern, die Fahnen der
Aufklürung fiattern lassen und überhaupt der guten
Sache zum Siege zu verhelfen, ist jetzt die Pflicht
ailer Mitbürger und Freunde Fritz Engels.

Die freisinnige Partei hat ein Wahl-
programm aufgestelit, das gut zwei Dutzend Punkte
schwer ist. Einen hat man auch, in jovialer Weise,
für die Kunst gemacht. Es ist für sie e i n e d u r c h
k c 1 n e r I e i E n g h e r z i g k e i t g e h e m m t e
E n t f a 11 u n g vorgesehn. Der Mitbürger will die
Kunst, die er sich so niedlich ais Aschenbrödel vor-
steilt, gegen die Bevorrnundung des Staates und
der Dunkelmänner in Schutz nehmen. Die Notwen-
digkeit dieser Absicbt bestätigt die gleichfalls anti-
reaktionäre Morgenpost mit einer Notiz iiber die
vierte Aussteilung der Neuen Sezession:

„Es geht mit dem bestem Willen nicht, diese
neueste Ausstellung ernst zu nehmen. Es ist der
vierte Saion der Berliner Neuen Sezessionsvereini-
gung, der an ungiaubiichen Zumutungen reichste,
den inan je hier gesehen hat. Es kann schlechter-
dings nicht festgesteiit werden, ob sich hinter der
Malerei der Herren Pechstein, Klein. Richter u. a.
eiti bisher sorgfältig verborgenes Talent aufhält.
Wenn man das Ungliick hat, vom Eingang zur
Rechten gleich auf die Klecksereien von Schmidt-
Rotluff zu stoßen, oder zur Linken dem Münchener
Kandinsky in die Palette zu geraten, erübrigt sich
aües weitere. Wenn sich der Most so absurd ge-
bärdet. gibt’s niemais Wein, sondern nur Magen-
krämpfe.“

Es geht mit dem besten Wilien nicht, diese
Ausstellung ernst zu nehmen, behauptet ein Kunst-
referent, der keinen Spaß versteht. Er heißt viel-
leicht H o n i g , E r w i n H o n i g. schwärmt aber
ganz bestimmt fiir Baluscheks gewaltige Fort-
schritte. Schmiert sich dem Bär der aiten Sezes-
sion selbst ins Maui. Es wird diesem Kunsthonig
niemals eine Qehirnzelle iiber den Sauerteig der
Kunst aufgehn.

Wie es nicht anders sein kann.

Aber Rudolf Herzog, Otto Ernst, üustav Falke.
Ernst v. Wolzogen und Fedor v. Zobeltitz sind
„echte“ Künstler. Müssen solche sein, arbeiten
sie doch fiir die Firma Ullstein u. Co., die jetzt g.mz
alte Literaturwerke für „u n s e r e“ Jugend auf Neu
herrichten iäßt. Und:

„Wieder ergreifen die ersten Dichter und
Schriftsteller Deutschlands das Wort, diesmai aber
sprechen sie zu unserer Jugend, erzählen ihr die wun-
dervollen Qeschichten, die seit Jahrhunderten der
Kinder Herzen höher schlagen lassen in Jubcl und
Entziicken und in schmerzlichen, mitleidsvollem
Teilnehmen. Die herrlichen Schätze der Weltlite*
ratur, das unvergängliche Erbe großer, gewaltiger
Kuiturepochen, werden hier unseren Söhnen und
Töchtern-von Künstlern geboten, die sich emzu-
fühlen vermögen in das Herz unserer Jugend, denen
die Kraft eignet, zu entflammen und zu rühren, zh

k

erheben und zu begcistern.“

Hier verinögen sich fiinf arme Seichtlinge ein-
zuführen in das Herz unserer Jugend, es e i g n e t
ihnen die Kraft, zu entflammen und zu rüb-
ren, zu erheben und zu begeistern, doch dort ver-
mochten Künstler einem erwachsenen Kunstkiiti-
ker nicht jenen Ernst einzuflößen, mit dem cr sie
gnädig hinnehmen wollte.

Ja, ernst ist Herr von Wolzogen, Fedor ton
Zobeltitz, Rudolf Herzog, und nur heiter ist die
Neue Sezession.

Und wie etwas in Wlrklichkeit war

Der Theaterarenalöwe Reinhardt hatte sein
fettes Opfer, den König Oedipus, auch nacli der
Hasenheide verschleppt. Man briillte: „Auf '. iel-
seitigen Wunsch“. In der „Neuen Welt“ sollte der
olle Sophokles nochmals die fünftausend hinreißen,
für die man ein Theater errichten will. Und ein
Vertreter der Firma Ullstein u. Co. bedauerte, „daß
der selige Sophokles das nicht mehr erlebt hat!
Solange hatte sein „König Oedipus“ warten müs-
sen, bis er sich mit Reinhardts und Hofmannthals
Hilfe ganz Europa erobern konnte. Was Wunder,
daß er, mit diesem Erfolge nicht zufrieden, seinen
Siegeszug jetzt auch bis in die „Neue Welt“ aus-
dehnte! Die hat er gestern in Rixdorf im Sturm
genommen, unter Leitung seines neuen Heroids
Joseph Klein, und hat damit wieder Max Reinhardt
recht gegeben, der ja auch dcr alten Welt den
Rücken kehren will.“

Aiso doch nicht auf vielseitigen Wunsch. Oedi-
pus war es selbst, der in der „Neuen Welt“ zur
Aufführung gelangen wollte. Wenn das nur keine
Verleumdung ist. Doch es war „ganz wie im Zirkus
Busch, wo sich die Haute Volee um die teuersten
Plätze schlug. Nur etwas temperamentvoller ging
es gestern zu.“

Also es war nicht ganz so.

„Mit wirklicher ehrlicher Begeisterung war
man gekommen, man wollte sehen, man wollte
sich freuen, und man wollte einen Eindruck haben,
der über die Abschiedsstunde des nächsten Qe-
sellschaftsabends hinausreichen soll.“

Es war doch etwas anders als im Zirkus.

„Da gab es kein Erou-frou seidener Unterröcke,
keine modischen Parfün;s, mit deren penetrantem
Qeruch man den Stallduft der Manege gesellschafts-
fähiger machen wollte, keine Lorgnons, durch die
man seine Bekannten zählte: da war atles eitel Auf-
merksamkeit, e’nrliche Freude an der Kunst und
eine Beifallsfreudigkeit, die gelegentlich sogar zu
spontan zum Durchbruch kam.“

Und es war überhaupt ganz und gar anders,.
Nämlich so:

„Der verkrachte Oedipus in der Hasenheide.
Sophokles hat in der „Neuen Welt“ keine Kasse ge-
macht. Der Besuch war so schwach, daß die zum
Freitag angesetzte Wiederholung der „Osdipas“-
Aufführung nicht stattfinden konnte.“

Schade, daß Sophokles auch das nicht eriebt
hat. Aber am Kottbuser Damm, einem Weg,- der
nach der Hasenheide fiihrt, verkauft dafür cin „fin-
diger“ Schuhwarenhändler Oedipus-Stiefel.

J. A.

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