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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 67 (Juli 1911)
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Heymann, Walter: Berliner Sezession 1911, [3]
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Blass, Ernst: Armin Wassermann
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Scheerbart, Paul: Wir leben nicht im Zeitalter der Qualität
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Adler, Joseph: Modernes Theater: Musik wider Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0091

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leis“ deutlich, so dass man sich an die Glas-
malerei erinnert fühlt. Auch darin sind sie ihr
verwandt, dass die verwendeten Farben nicht
wirklichkeitsgetreu werden dürfen. In der selb-
ständigen Bedeutung der Linie als Ausdrucks-
kraft entzieht sich Hodlers Kunst der glasmale-
rischen Darstellung. So expressive und solcher
Zartheit fähigen Konturen — wie wären sie im
Bleiguss möglich!—hat es vielleicht seit Diirer
nicht gegeben. Die Farbe ist ihm durchaus se-
kundär, Unterstiitzung, mehr gefiihlsmässige und
rhythmische Ergänzung — das Gedankliche bleibt
in der Linie, in der Form. Hodlers Methocle *—
es ist töricht, hier von Manier zu reden — hat
grosse Schwächen. Sie ist nicht bloss um all
das freiwillig zu arm, was die andern haben;
sie wirkt bald zu theoretisierend unfroh, bald
zu pedantisch exemplehaft. Sie triumphiert am
toten gewordenen Ding — die diesjährigen Land-
schaften zeigen das; das Bild einer im Sterben,
vor dem Berg dieser Bettdecke Bedrückten und
das Bild dieser flachen Toten sind so auf das
Leben der Sache, der toten armen Form stili-
siert Reicheres Leben — auch malerisch — blüht
in der „Gebirgslandschaft“. Bei der Darstellung
des lebendigen Menschen, des Einzeltypus ist
Hodler am fesselndsten. Keiner kann Bewegungen
von Massen in solcher Ordnung und Ausdrucks-
kraft geben —, wofür ja der „Auszug“ der
Preussischen Freischaren 1813“ als Werk wuch-
tiger Sachlichkeüt heute weltberühmt ist. Keiner
hat uns die grundverschiedene männliche und
weibliche Natur besser gezeigt als der Meister
feststehender und sich an der Arbeit freikämp-
fender und abopfernder Männer, der Schöpfer her-
ber Frauen, die in Bewegung lebend, von Emp-
findung niedergezogen, sie in Bewegung aus-
wirken müssen. Doch auch hier fasst erschliess-
!ich nicht viel mehr als das sinnlich Zuständ-
iiche, worüber keine schillernden Farben hin-
wegtäuschen. Geht es nun gar um den Aus-
druck einer Empfindung, so sehen wir wohl den
Seelenapparat, aber nicht deutlich genug die Aus-
wirkung. Schon die pantomimischen Ausdrucks-
merkmale bestimmter Arten von Sinneserregung

— zum Beispiel weiblicher Verzückung — sind
gerade von seiner so weitgehend auf Individuali-
sierung verzichtenden Technik nicht zu fassen.
Wir werden sie gar in den Bildern zum Thema
„Empfindung“, wo eine Gestalt ein paar Mal
als verschieden in verwandter Haltung, Geste,
Farbe des Haares, Stellung und so weiter abge-
wandelt wird, undeutbarer. Stets ein Ton, etwas
von Begleitung umwechselt, — gibt am deutlichsten
nur das Gefühl: Endlosigkeit. Für mein Emp-
finden wird das Bezeichnende in den Zügen nicht
deutlicher, wenn einer sich tausendmal in paral-
lelen Spiegeln sieht. Hier muss Hodler die Gren-
ze merken. Auch wie belebend es schon wirkt,
wenn er in dem wundervollen dialogue intime
die Ahnung eines lebendigen Vorganges erweckt

— die Aufhebung der Statik ist ein feiner Reiz.
Hodler ist heute ein reifer Mann. Er hätte das
Recht, die selbstgezogenen Grenzen zu über-
schreiten. Genie — sagt Kant, vor dessen Phi-
losophie ein Künstler wie dieser pessimistische
Dogmatiker nicht denkbar war und durch den
er manchen Irrtum erkennen könnte — Genie
ist, was in der Geschichte der Zeit Epoche macht.
Also nicht bloss, was aus der Vergangenheit
einen Sprung machte und in einem Felde blieb.
Niemand ausser Rodin hat vielleicht heute eine
grössere Anwartschaft darauf, als Genie foortzu-
leben. Manchmal habe ich den heftigen Wunsch,
dass Hodler eine Landschaft kennen lernt, die
noch weit mehr als sein heimisches Alpenland
seinem Ich entspräche. Was würde ihm wohl

die Kurische Nehrung geben, das Dünenland,
dessen Farben, das Sandgebirge, dessen Rhyth-
men nicht mindergewaltig und von grösserer Dä-
monie sind, als die im Alpengestein eingeker-
kerten. Es gäbe ein Zusammentreffen von künst-
lerischen Möglichkeiten in Schöpfer und Objekt,
das bedeutsam im höchsten Grade werden dürf-
te. Liesse sich das je verwirklichen, so wäre
vielleicht in der Entwicklung dieses Grossen und
gerade von seiner Selbständigkeit die höchste
Wendung zu erwarten, die eintritt, wenn sich
ein solcher Mann in einer kongenialen Land-
schaft bestätigt und mehr als bestätigt findet.

Schluss folgt

Armin Wassermann

Bis heute waren Rezitationsabende: ernst
und heiter und so weiter. Der ernste Teil: eine
Veranstaltung der Gruppe „Wandervogel“; der
heitre Teil: ein Pausenfüllsel für den th'e dansant
eines Tennisklubs. Der ernste Teil verhandelte
des Müllers Lust; der heitere die Mayers. Im
ernsten Teil sorgte der Douglas für ein gesun-
cles Vergnügen; im heiteren Herr Edel für Ver-
gnügen, zu gesund. Im ernsten Teil rief der
Vortragende „Husaren heraus!“; nach dem heite-
ren riefen den Vortragenden die Buchmacher und
Heiratsvermittler heraus. So war es. Dass sich
das berührte, lag eben im Zeitgeist, der auch
sonst heiter auffiel. Und wenn die Seelenheimat
des Schneiders Wittstock der Acker war, so war
die korrespondierende seines Entdeckers Fritz
Engel bestimmt die Ackerstrasse . . .

Ich konstatiere, dass Herr Armin Wasser-
mann den ersten Rezitationsabend meines Le-
bens veranstaltet hat, der in Betracht kommt.
Früher gab es Schauspieler, die Lyrik „darstell-
ten“ (noch die Durieux) — oder sie hatten al-
berne Programms. Wassermann aber sprach
Stücke der wertvollsten Lyrik dieser Tage: Rilke,
George, die Lasker-Schüler. Ausserdem Prosa:
eine noch ungedruckte Novelle von Jacob Was-
sermann, in der ein Eisenbahnbeamter ein Atten-
tat auf einen Zug unternimmt, ein „bleicher Ver-
brecher“ im Sinne Zarathustras, den das Bild
einer Tat eine Tat tun lässt und den das Bild
der getanen Tat in den „Wahnsinn“ der Reue
jagt; in der für diesen Fall im einzelnen ein be-
sonderer Ausdruck nicht gefunden ist. Nur dies:
Der Verbrecher vor einem unter den Trümmern
des Zuges liegenden, sterbenden Mädchen, das
sich nach einer Zärtlichkeit des (daneben stehen-
den) Mannes totbebt —, ein Bild, das pikant ..
und grossartig ist. Es gab ferner eine Novelle
des Herrn Hemrich Eduard Jacob, „Die Feuers-
brunst und die Liebenden“; Durchdringung der
Sensation eines Brandes mit der Ermattung nach
•stattgehabtem „Beilager“. Ich liebe solche Dar-
stehungen . . (sonst gibt es hier in der Einzel-
formung weniger Darstellung als Frisur; weni-
ger Druck als Annonce.)

Armin Wassermann steht am höchsten als
Rilke-Rezitator. Strecken aus „Sturmnacht“ und
etwa die Worte „Wo warst du denn, Marie?“
— sind nahe der Vollendung. Sein Organ hat
dies leise Hinhallende, sich dämpfend; ein schwe-
bender Rufer ist es, wie in Abwesenheit. Darum
meistert es Rilke, — nicht Else Lasker-Schüler,
weil bei dieser das Abwesende, noch der Tod,
eine Anwesenheit hat; beim (katholischen) Rilke
klingt das Anwesende immer wie ausgeschlos-
sen Ich muss es genauer sagen: Else Lasker-

Schüler ist . . . eine Zungentänzerin; Rilke ein
Bauchredner. (Das könnte ich beweisen.)

Ich konstatiere, dass Wassermann den er-
sten Rezitationsabend meines Lebens mit wert-
voliem Programm gab und dass sein Rilke-Spre-
chen etwas Wundervolles ist . . ., aber ich wün-
sche, auf den Geschmack gekommen, noch andre
herbei; Leute, die Else Lasker-Schülers Art mei-
sterten. Ich wünsche die, nie verlöschbaren,
Verse erklingen zu hören:

„Zwei kalte Totenaugen
Hätten mich nicht so gequält,

Wie deine Saphiraugen,

Die beiden brennenden Märchen.“

— Es gab bis heute Hussiten-Mittage, möge
es Lyrik-Abende geben!

Ernst Blass

Wir leben nicht im
Zeitalter der Qualität

Dieser berühmte Satz stammt nicht yon mir;
er ist aber sehr bezeichnend für unsre Zeit. Um
ihn zu illustrieren, gebe ich Nachfolgendes „ge-
drucktes“ Schreiben zum Besten; es kam am
zehnten Juni in meine Hände. Andre werdens
auch erhalten haben. Es lautet:

Euer Hochwohlgeboren
bitte ich hiermit höflich Ihren Verleger freund-
lichst veranlassen zu wollen, dass er mir Ihre
Haupt-Werke in je einem gebundenen Exem-
plar zur Würdigung in meiner noch in diesem
Jahre bei Rudolf Haupt in Leipzig im unge-
fähren Umfange von 28 Druckbogen Lexikon-
format erscheinenden „Literaturgeschichte der
letzten drei Jahrzehnte“ möglichst umgehend
einsendet.

Hochachtungsvoll

Gymnasial-Oberlehrer Hermann Schilling
Berlin S. 59, Hasenheide 77 pt.

Nun fragt man: von wem werden sich die
Verleger in der „Zukunft“ die Literaturgeschich-
ten schreiben lassen? Ich empfehle als Autoren
die Milchjungen des Herm Bolle. Herr Professor
Eduard Engel steht im übrigen ganz auf der
Höhe des Herrn Schilling. Der Professor aber
wollte meine Bücher nur „leihweise“ haben. Es
wäre doch nötig, eine „Geschichte der Litera-
turgeschichten“ zu schreiben.

Paul Scheerbart

Modernes Theater

Musik wider Musik

Einer der grossen englischen Meister malte
Bilder aus Liebe zur Musik. Mit dem Gelde,
das ihm seine Werke brachten, bezahlte er ein
kleines Orchester. Um in Mussestunden Musi-
ker sein zu können, malte er Bilder von unver-
gänglichem Werte. Und ein Berliner Kapellmei-
ster hat aus Liebe zur Musik eine Operette kom-
poniert. Aus Liebe zur Kammermusik. Denn:
dieser Mann — Schüler von Bruckner, stiehlt
sich jede freie Minute ab, um Kammermusik
zu spielen — sitzt Abend für Abend im Win-
tergarten vor dressierten Seelöwen, spanischen
Tänzerinnen und falsch singenden Chansonet-
ten, und dirigiert Gassenhauer. Ist es ihm —
wte jedem, der mit einem Fünkchen Kunst im

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