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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 93 (Januar 1912)
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Hiller, Kurt: Der Sinn des Lebens und die Reichstagswahl
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Zwischen Weihnachten und Neujahr
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0299

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des Todes, in ihrer Unausgesetztheit, tüdlich auf
Hnserm Sein?

Franz: Die Erkenntnis, sterben zu ir.lissen,
ist allerdings die absolut entsetzliche; aber sie
braucht nicht unfroh zu machen. Im Qegenteil:
sie befiehlt dem Menschen, sich umso briinstiger
an das Leben zu klammern; an die tausend Ver-
gnügungen; an diesen Hügel Buntheit zwischen
zwei schwarzen Wüsten . . . Zum Neuen Hedo-
nismus führen deine Perspektiven; sie sind nicht
tödlich; es lebe der Kampf!

Quido: Dinge machen einem nur so lange
Spaß, als man nicht ahnt, daß man sie um des
Spaßes willen treibt. Und in dem Augenblick, wo
man erkennt, daß das Leben der Qüter höchstes
ist, verliert es jeden Wert. Ich bedauere diese
Tatsache, ich suche auch gar nicht sie zu erklären,
aber ich kann nicht umhin, sie festzustellen . . .
Strichriin? Ja, wenn ich darüber nachdenke, wes-
halb ich mich nicht schon längst getötet habe, so
werde ich wohl zn d„m Ergebnis gelangen, daß
dies deshalb nicht geschah, weil der zerrüttende
Zustand extremer Bewußtheit wie auf Qeheiß
einer dunklen physiologischen Macht häufig aus-
gesetzt hat, für längere Perioden. Du darfst mich
der Inkonsequenz beschuldigen; aber du darfst es
mir nicht verargen, wenn ich während der lich-
ten Intervalle meist unglaublich darüber erstaunt
bin, daß es zu allen Zeiten Leute gab, die, ohne
<ien Tod zu kennen, behaupteten, das Leben sei
schön.

Franz: So geh in ein Kloster, Ophelia.

M e i n e Katholisierung wird, bis auf weiteres, von
jener „dunklen physiologischen Macht“ hintange-
halten, die, wie du sagst, deine „lichten Intervalle“
kürzt. Mir sind nihilistische Seelenzustände nicht
böhmisch; und falls ich mir ein Dutzend lieber
Oedankengänge vergegenwärtige, nicht zuletzt das
Fiasko der kritischen Ethik, so kann ich dir mit
gutem Qewissen einräumen, daß alles Rationale
zugunsten solcher Seelenzustände spricht. Aber
was schiert mich, wenn ich platze vor Wollungen,
das Rationale? — Qut, neue Wahrheiten mögen
sich nicht mehr entdecken lassen: dann bleibt als
einzige menschenwürdige Aufgabe die übrig, alte
Irrtümer zu verwüsten. Es lebe der Kampf!

Q u i d o: Mich amüsiert, wie du deine theore-
tische Skepsis notzüchtigst, auf daß sie den prak-
tischen Optimismus dir gebäre. Mich amiisiert das
so, daß ich gegen dein flammendes Ethentum, o
deutscher Jüngling, nichts mehr unternehmen will;
es wäre im übrigen doch zwecklos. Aber dir
das Kämpfen gestatten, heißt nicht dir gestatten,
daß die Objekte deines Kampfes ungeistige und
gemeine seien. Du sprichst von esiner somatischen
Solidarität zwischen den Menschen. Interessen,
die der Pöbel mit uns teilt, mag der Pöbel für uns
vertreten. Ich bestreite ja nicht, daß sie vorhan-
den sind. Aber man kann die Notwendigkeit einer
Organisierung anerkennen und doch für seine Per-
son Apolitiker bleiben. So, wie man Individualist
sein und dabei die politische Bohemerei sehr ver-
dammen und die feste Handhabung der Qesetze
als ein vorzügliches Mittel begrüßen kann, die Hö-
heren vor den Minderen zu schützen.

Franz: Es gibt kaum jemanden, der sich
Hicht für vom Pöbel unterschieden hielte. Wenn
alle so dächten wie du, würde Befreiendes über-
haupt nicht mehr geschehen; und das, was Kerr
die „Aufbesserung der Gesamtlage“ genannt hat,
würde niemals eintreten. Deine Tendenz, es den
Andern zu überlassen, gleicht sehr der verfluch-
ten Tendenz der historischen Schule, die es der
„Entwicklung“ zu überlassen geruht. Wenn wäh-
rend der ganzen Weltgeschichte immer nur Ent-
wickleriche oder immer nur Aristokratiker deines
Qenres tonangebend gewesen wären, würden wir
heute noch struppig, dreckig und dumpf als Tro-
glodyten unter der Erde krabbeln.

Q u i d o: Ich weiß nicht, ob wir dann weni-
ger glücküch wären. Du glaubst noch an den
Fortschritt. Qesetzt, er ließe sich feststellen —

wo liegt dann eigentlich sein Ziel? W o h i n „schrei-
ten“ wir denn „fort“? Nimm doch mal an, alle
jene Körperlichkeiten, die mit den deutschen
Wählern gemein zu haben du ohne die angemes-
sene Resignation konstatiertest, seien nun bereits
in einer endgültigen We'ise geregelt; die Qesamt-
lage sei ideal heraufgebessert —: was wäre dann
zu tun? Wäre damit etwa eine universale Selig-
keit erreicht? Kann es der Sinn des Lebens sein,
achtbare Bürger vor Einbrüchen, gesunde vor
Krankheiten, reiche vor Armut, arme vor Elend
zu bewahren? Kann es der Sinn des Lebens sein,
Menschenkräfte durch Maschinen zu ersetzen, den
Krieg abzuschaffen, Distanzen zu überwinden, Ia-
tente Talente der Natur der Erdbewohnerschaft
dienstbar zu machen? Dienstbar zu welchem
Ende? Nimm an, alles ist erreicht, es gibt keinen
Kerker mehr, keinen Krieg mehr, keine Krankheit
mehr; zu sämtlichen Planeten, Monden und Son-
nen stehen uns die Wege offen; selbst der Tod
ist besiegt —: kann das der Sinn des Lebens
sein? Blökt uns dann nicht das große Wozu nur
noch grausiger an? Wie ärmiiche Vordergrundsan-
gelegenheiten sind diese „Zwecke der Zivilisation“;
welchem Endziel zuliebe sollen wir nach ihnen
trachten? „ Was frommt das alles uns und diese
Spiele?“

Franz: Ein Zustand, der Neuerungen und
Umstürze überflüssig macht, wird niemals eintre-
ten. Sowas ist eine Idee von größtmöglicher
Irrealität. Aber ich will sie einmal akzeptieren.
Qut, alle Zwecke der Zivilisation seien erreicht;
was ist dann zu erstreben? — Hier, Guido, kann
nichts als mein Temperament sprechen. Nun, der
große giganteske Genußtaumel ist zu erstreben;
golden loderndes Tohuwabohu der Leiber und
Qeister. Namenlos lebendige Landschaften, ge-
webt aus allen Brokaten aller Kunst . . . Dio-
nysische Tage und Nächte sind zu erstreben, und
während der Tristitien: Apollons sanfte oder doch
leis nur stachelnde Ergötzungen ... In fahler
Formel: Sinn der Zivilisation ist die Kultur!

Guido: Du Glücklicher! Von was für Ein-
bildungen du lebst! Ich — ich begreife auch nicht
mehr, was schön daran sei, sich an einem Körper
zu entladen, oder begehrenswert daran, ein Qe-
dicht zu baun. Die Kunst scheint mir Humbug
wie alle Beweglichkeit. Was hat der Maler da-
von, wenn er ein Stück Phänomenalität, selbst in
einer sehr vollendeten und sehr entwirklichend-
persönlichen Art, mit Farben deskribiert? Der
„Rausch der Konzeption“, das „Qlück des Schaf-
fens“ —: Phrasen, Phrasen. Dem Citoyen natür-
lich muß eingeredet werden, die Kunst sei etwas
Besonderes und Heiliges; sonst würde er den
Künstler ja verhungern lassen — auf noch kor-
rektere Methode, als er’s ohnehin tut. Aber
brauchen wir uns was vorzumachen? Die Hehr-
heit der Kunst ist nichts weiter als eine Suggestion,
die arbeitsunlustige, kluge und geschmackvolle
Personen einer misera plebs eingeben müssen,
welche niemanden am Leben dulden würde, der
nicht, wie sie, Tag für Tag schwitzend sich ab-
rackert. Weil es wahr ist, daß Arbeit schändet,
lügen die Künstler, Kunst adle. Kunst ist die
genialste Ausrede genialer Faulpelze, im übrigen
ein Spielzeug, ein Zeitvertreib. Ich werde mich
ja hüten, sie an den Pöbel zu verraten; aber dir,
Franz, muß ich es sagen: Kunstist Quatsch,
geradezu ein Symbol des Quatsches;
ich begreife nicht, wie du sie noch ernstnehmen
kannst.

Franz: Du bist morsch, durch und durch;
entsaftet, entfeuert; kein Fünkchen Wille glimmt
mehr in deiner Schale.

Guido: Man widerlegt unbequeme Ansich-
ten nicht damit, daß man, auf eine pathetische Art,
sie krank schilt.

Franz: Wenn der Begriff der Krankheit
einen Sinn hat, dann hat er den: einen Zustand
zu bezeichnen, der den Menschen vom Leben ab-
lenkt.

Q u i d o: Der Begriff der Krankheit h a t
keinen Sinn. Hat vielleicht das Leben einen?

Franz: Nein, ich bin ganz deiner Meinung,
es hat keinen; man muß ihm erst einen geben.
Und das tue ich.

Guido: Ich bin gespannt, welchen.

F r a n z: Herrgott, meinetwegen den: daß
ich Großkaiser von Europa werde! Spielerei, was?
Jawohl Spielerei! Mir frommt diese Spielerei!
Großkaiser von Europa — ob’s das politische,
ob’s das literarische ist, oder beide zusammen gar:
das ist mir schnuppe. Man muß zwei Eisen im
Feuer haben! . . . Großkaiser von Europa, du
philosophischer Schlappschwanz, will ich werden,
und deshalb schwärme ich für die Demokratie.
Beruhige dich nur; dieses rote Wort braucht dich
nicht zu erschrecken; es g i b t ja keine Demokra-
tie! Merkst du denn das der Vokabel nicht schon
an? Wie kann ein Qanzes ein Qanzes beherrschen?!
Aber nur auf dem Weg über diese soge-
nannte Demokratie läßt die famose, ersehnte,
heitere Republik sich erreichen, die jedem Kerl von
Qeist und Schneid, wirklich jedem, ermöglicht, Mi-
nister, Kanzler. Präsident zu werden. Die graue
Hoffnungslosigkeit unseres monarchischen Unter-
tanentums behebt dieser „Demokratismus“; er
zeigt uns in seinem Zauberspiegel alle Wunder der
Macht; er gestaltet leere zu glücklicheren Men-
schen. Gleiche Rechte: das ist gemein;
gleiche Möglichkeiten: dafiir muß man
kämpfen. Auch in jener Republik werden die We-
nigen regieren, nicht die Masse, aber es werden
andere Wenige sein als die, welche heute das
langweilige Deutschland noch langweiliger machen.
Mensch, Guido, du, ich, unseresgleichen
werden zu den neuen Wenigen gehören; und was
uns jetzt zu menschenfresserischer Prosa zwingt,
kann dann im Lenken voti Schicksalen sich aus-
toben ... Du lachst? Lache nur. Daß in dir
das Feuer erloschen ist, bändigt meine Flamme
nicht. Ich gehe noch heute ins sozialdemokratische
Parteibureau und melde meine Dienste für den
Wahltag an.

Q u i d o: Ein Problematiker geht zu den So-
zialisten! Pfui; du befleckst die heiligen Zweifel
deiner Jugend.

Beide zahlen, werfen sich in ihre Mäntel und
verlassen das Cafehaus nach verschiedenen Him-
melsrichtungen.

Zwischen Weihnachten
und Neujahr

Achtung!

Die Berliner Tageszeitungen „hören“ folgen-
des: 011o (Otto) Ernst ist mit einer

Kritik der N i e t z s c h e s c h e n Philoso-
phie beschäftigt. Außer an diesetn
philosophischen Unternehmen ar-
beitet er_

Herr Otto Ernst soll es sich s e h r überlegen,
ob er nicht doch das Unternehmen mit seinem
Qeist aufgeben will. Man kann nämlich auch Leh-
rer überlegen.

Die letzte literarische Sendung

Der breslauer Universitätsprofessor Felix
Dahn ist gestorben. Er hat im Nebenberuf viele
Bücher geschrieben, die zwar keinen Eingang in die
Literatur und ihn deshalb in das Publikum fanden.
Die Leser dieser Zeitschrift interessieren sich nicht
nicht für Marktware, es wird ihnen aber interessant
sein, den letzten Dahnensang kennen zu lernen, den
der Musenalmanach des Presseballes veröffentlichen
wird; bekanntlich der letzten Stätte, wo häusliche
Musen sich niederlassen:

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