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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 83 (Oktober 1911)
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Steiner, Max: Aphorismen
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Weese, Artur: Hodler und die Eurythmie
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0218

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und Tritt nachweisen, daß die neue Methode zu
einem so erhabenen Zwecke nicht besser geeignet
ist als die alte. Denn die Kirchhoffsche Behaup-
tung, daß wir jeden Naturvorgang nur zu beschrei-
ben, nicht zu erklären vermögen, bestreitet nie-
mand, der sie verstanden hat.

Kosmologische Metaphysik: jener Tiefsinn, der
so alt wie der Ruhm des Thales und so wohlfeil
wie die Lagerstätte des Diogenes ist.

Der Kritiker unserer Erkenntnis beweist, daß
wir göttliche und transzendente Probteme nicht
lösen können. Er lehrt also, unseren Geist ver-
achten, der auf so erhabene Fragen keine Antwort
zu geben verinag. Der Religiöse aber lehrt den
Qeist bewundern, der befähigt ist, solche Fragen
aufzuwerfen.

Die Vernunft kann in transzendenten Fragen
nicht entscheiden. Aber warum muten uns die
Theologen zu, ihre Unvernunft für maßgebend zu
halten?

Das Publikum liebt heutzutage auch Märchen
in wissenschaftlichem Gewande. Wenn man von
„ergastischen Moleküleri“ redet, so scheint das un-
endlich wissenschaftlicher als das simple „Gott er-
schuf“. Und der Professor Hatschek unendfich
gelehrter als der Prophet Moses. Daß sich Hat-
schek bei seinen ergastischen Molekiilen gerad so
viel denkt, wie sich Moses bei dem „Nichts“ dachte,
leuchtet den „weitesten Kreisen“ nicht so bald ein.
Man will Märchen und wiinscht gelehrt zu sein.

Die moderne Naturwissenschaft ist eine expe-
rimentierende Biirokratie.

Die Metaphysik hat sehr kiihne und poetische
Gedanken in einer geschmacktosen Sprache dar-
zustellen geliebt. Wie wäre es, wenn die Meta-
physik ihre dichterische Kraft nur der Stilistik wid-
mete, anstatt der Spekulation? Man versuche es
endlich, niichtern und ktar Begriffe in gutem Aus-
drucke zu verbreiten. So wird man zugleich der
Frkenntnis wie der Kunst dienen und sich dabei
vor dem Eindringen schaler Köpfe ln geheiligte
Gaue schiitzen. Denn Kühnheit der Spekulation
ist einem jeden gar leicht zu erreichen; er braucht
nur die Absurdität um Hilfe anzuflehen. Aber ein
knapper offener Stil, der fiir tiefsinnig anmutende
Plattheiten unbrauchbar ist, erzwingt verstän-
dige Rede oder wenigstens ein erträgliches
Schweigen.

Den philosophischen Köpfen fällt die Aufgabe
zu, das Freidenkertum, das Frei-von-Gedankentum
aus seiner astronomischen Reserve zu vertreiben.
Es gilt, die Prinzipien des Atheismus aus der Har-
monie der Sphären in die irdischen Niederungen
zu geleiten. Hic Rhodus: hier soll euere Lehre den
moralischen Sprung wagen Und wenn einer von
euch seine paar Dürftigkeiten mit allen Kleinodien
der christlichen Ethik zu schmücken beliebt — so
darf er fiirderhin um seiner Sittlichkeit willen nicht
gelobt werden. Denn ob ein Forel die christliche
Moral befolgt, ob nicht — was kann dies der christ-
lichen Moral niitzen oder schadeti? Sie hat solche
Zustimmung wahrhaftig nicht nötig. Zweitausend-
jährige Kulturarbeit legitimiert sich von selbst.
Wer aber die Grundlagen zu dieser Kulturarbeit
— den Gottesglauben — verwirft, dem müssen
auch die köstlichen Friichte verweigert werden.
dem muß man den Bettelstab aus der atheistischen
Werkstätte in die Hand drücken. Jeder Philister
dünkt sich Uebermensch, wenn er Gott lästert. Für
den modernen Normalmenschen ist der Atheist die
Brücke zur höheren Art. So ziehe man denn die
Ietzten Folgerungen: man mache doch so einem
Forel klar, daß man „voraussetzungslos“ zu sein
wünscht, daß man von Atheisten nicht moralische

Gemeinplätze, sondern bündige, exakte, logisch-
mathematische Beweise erwartet.

Die Wahl ist kurz: Entweder du kannst die
Richtigkeit der altruistischen Ethik ohne metaphy-
sische Annahmen beweisen, oder du inußt diese
Ethik aufgeben. Ein Drittes führt dich zur — Re-
ligion. Damit sind die inoralischen Atheisten abge-
tan. Und wer tiefer blickt, wer die Strömungen
der Zeit, die humanitären Redensarten und Gleich-
heitsideale kennt, wer das Wesen dieses ganzen
„Fortschritts“ durchschaut hat, kaun an detn Er-
folge der Alternative: „entweder Atheismus oder
Moral“ nicht zweifeln. Die Forels werden bald
bekehrt sein.

Der Darwinismus ist es nicht, was die rnoder-
nen Freidenker so unsympathisch macht. Wären
die Darwinisten nur konsequent, sie wären bald
geachtet. Aber die da an der alten Moral mäkeln,
ohne sie zu vernichten, die da nach einer neuen
Moral schreien, ohne sie schaffen zu können -
das sind die Tiefstehenden, die — Aliermodernsten.
Eine ganze Berufsklasse gehört zu ihnen: die Me-
diziner. Und zahllos sind die Literaten dieser Art.
Ein Mensch, der die bürgerlichen Sittlichkeitsbe-
griffe als widernatiirlich verurteilt und nun die
Sinnlichkeit als eine - heiiige Sache anbetet,
wird nicht darüber belehrt, daß es in der Natur
nichts Heiliges gibt. Nein, man bewundert noch
solche Viertel-Aufklärung und verehrt in einem
Frenßen den großen Denker. Habt erst den Mut,
der Hölle, deren Geister ihr gerufen, in den Schlund
zu blicken. Werdet erst reif fiir die Gestirne des
Bösen.

Nicht eine Vereinfachung der Probleme, nur
eine Vereinfachung der Namen hat der Darwinis-
mus gebracht.

Die Rationalisten sind zu aufgeklärt, um blind-
lings an die Dogtnen zu glauben. Sie grübeln über
die kirchlichen Lehren und entdecken schließlich,
daß die Religion kein mathematisches Axiom ist.
Aber so revolutlonär ist der Verstand eines frei-
sinnigen Theologen niemals, auch die Moral anzu-
zweifeln. Daher darf Harnack den Halbflüggen
die Ethik des Christentums als das Wesen des
Christentums hinstellen, ohne daß er darum Wider-
spruch statt der Bewunderung zu fiirchten hätte.
Denn dem Rationalisten gingen die Mysterien
längst wider den Strich; daß er nun als sittlicher
Mensch zugleich ein gläubiger Mensch werden
kann, begrüßt er mit Jubel. Denn sein Harnack
hat ihm nicht verraten (und hat es sich wohl selbst
noch nicht zugestanden), daß das Problerri der
Ethik bis zu dieser Stunde nicht klarer ist ais das
der Dreifaltigkeit.

Der Biitzabieiter (siehe Bölsche!) wird jenen
Menschen das Kreuz entbehrlich iriachen, denen
gutbesohlte Schuhe ein Schubertsches Wanderlied
ersetzen: den Banausen. Aber auch nur diese
können sich mit einer Weltanschauung befreunden,
die aus einer technischen Vorrichtung Argumente
gegen das Sinnbild der Welterlösung holt, die mit
den Erfindungen menschlicher Notdurft die höch-
sten Augenblicke des Geistes verbindet und die
den Glauben zu befreien vorgibt, indem sie ihn
tötet.

Echte Kultur läßt das Kreuz ruhig neben dem
Blitzableiter stehen. Echte Kuitur vermag Sym-
bole zu trennen. Sie erschöpft sich nicht in me-
chanischen Instrumenten und baut aus Quadrat-
wurzeln keine Religion. Sie wird einst den Tag
herbeifiihren, da man „Monismus“ mit „Einseitig-
keit“ iibersetzen wird.

Die Theologen haben sich stets bemüht, das
Dasein des Gottesglaubens bei allen Völkern der
Erde nachzuweisen. Die Moralisten wiederum
zeigten bedächtig, daß auch in den armseligsten

Stämmen das allgemeine sittliche Bewußtsein der
Menschheit lebt. Aus jener Tatsache schlossen
die Theologen auf das Wahrscheinliche des Gottes-
glaubens, aus dieser Ieiteten die Moralisten die
Rechtfertigung unserer ethischen Werte ab. Hät-
ten Theologen und Moralisten ein iiberzeuger.des
Argument fiir die religiösen und moralischcn Ideale
vorbringen können, so hätten sie nicht gezögert,
es herbeizuziehen. Sie besaßen jedoch keines, uud
es kormte ihnen deshaib zum Troste dienen, daO
es außer den europäischen Theologen und Mora-
iisten noch so viele andere Leute gibt, die auch
nicht wissen, was sie tun. Ein Trost rnag das
ja nun vielleicht sein; eine Erkenntnis ist es nicht.
Wenn ich inich in einer Sache nicht zurechtfindc
und trotzdem iiber sie urteite, so werde ich mög-
iicherweise dadurch beruhigt werden, daß alle
meine Nachbarn ebenso handeln. Aber diese Einig-
keit bedeutet keine Aufklärung, und meine Vor-
urteile werden nicht zu Erkenntnissen, sobald sie
von meinen Mitbiirgern geteilt werden.

Man kann unsinnige üebräuche wohl damit
erklären, daß sie in sozialen Instinkten wurzeln.
Aber man kann sie damit nicht rechtfertigen.

Hodler und die Eu-
rythmie

Von Artur Weese

Die Linie däent Ferdinand H o d 1 e r nicht nur
als Umriß des Körperlichen — sie ist auch das
eigentlich kompositionelle Grundelement.

Mag sie Einzelfiguren zu Gruppen zusammen-
fassen oder Gruppen zueinander in Beziehung
setzen, die Linie ist es, die die Fläche gliedert,
das Figürliche ordnet und als ein System höherer
Ordnung im Bilde waltet. Oft scheint es, als sei
diese lineare Komposition das Primäre auch bei
der Entstehung gewesen; als wären diese großen,
ausdrucksvolien Kurven und Lineamente zuerst
auf der Leinwänd fixiert worden und dann erst
das Figiirliche als ein Eleinent zweiter Ordnung
hinzugekommen. Der Takt und der Rhythmus
scheint das Gegebene. Dann erst treten Melodie
und Figurationen hinzu und erhalten im Figür-
lichen Ausdruck. Es findet gieichsam eine Trans-
ponierung des Linearen in das Symboi mensch-
licher Formen und Gesten statt. Der Mensch,
sonst Selbstzweck der künstlerischen Darstellung,
wird nun zum Träger einer Empfindung oder
rhythmischen Ordnung und dadurch zu einem Mit-
tel stilistischer Absichten geprägt, deren letzte
Zieie ganz gewiß nicht die Verkörperung dieser
oder jener Individualität sind. noch weniger irgend
einer naturalistischen oder impressionistischen Be-
obachtung. Mitte! solcher Art dienen allein der
Idee. Lineare Konstruktionen, wie wir sie hier
kennen lernen, wollen eine seelische Spannung
hervorrufen. die nicht sinnliche (Neugierde und
frohgemute Naturschwärmerei ist, sondern Wach-
samkeit der Verstandeskräfte. Sie wenden sich
an das begriffliche Vermögen, das fähig ist, lange
Beobachtungsreihen zusammenzufassen und die
Summe als Einheit in abstrakto aufzunehmen. So
sind denn die Titel zu Hodlers Bildern oft von
einer dunklen philosophischen Färbung oder in
einem so iockeren Zusammenhange init der Dar-
stellung, daß sie Beunruhigung hervorrufen.

Als kompositionelles Element und Grundkon-
struktion des Bildes hat aber die Linie noch einer
eigenartigen Ordnung sich fügen müssen.

Das Wesen aller lineareri Figuration ist die
Wiederholung der Linie in wohlgefälligen Ver-
hältnissen oder Proportionen und in der Einheit
oder Mannigfaltigkeit der Richtungsmomente.

In dem Bilderkreis der Hodlerschen Werke
nun ist unter vieten Möglichkeiten harmonischer

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