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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 87 (November 1911)
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Loos, Adolf: Vom Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Schlafen, Essen, Trinken
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0249

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WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redakt'on und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Pfalzburg 3524 / Anzeigen-Annahme
: -: durch den Verlag und sämtliche Annoncenbureaus : -:

JAHRGANG 1911 BERLIN NOVEMBER 1911 NUMMER 87

[flhatt * ADOLF LOOS: Vom Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Schlafen, Essen, Trinken / LOTHAR VON KUNOWSKI: Gegen Karl Scheffler / HANS
EHRENBAUM DEGELE: Gedichte / ELSE LASKER-SCHULER: Briefe nach Norwegen / OTTO RUNG: Der Vagabund / GRETE
TICHAUER: Mit Mutter / TRUST: Lebensfreude / I. A: Dresden und Budapest / OTTO MOELLER: Am Nachmittag / Holzschnitt.

leste Formen oder frißt es meine Träume auf?
Ich kenne Jahrtausende von Werkstatt-Traditi-
onen. Was irgend dem Töpfer frommt: ich veiß
es, ich habe es angewandt. Aber wir sind noch
nicht am Ende. Der Geist der Materie ist noch
mcht überwunden.

Möge er es nie werden. Mögen die Geheim-
nisse immer für uns Mysterien bleiben. Sonst
säße nicht der Meister in qualvollem Gliick vor
dem Brennofen, harrend, hoffend, träumend von
neuen Farben und Tönen, die Gott in seiner Weis-
heit zu erschaffen vergaß, uin den Menschen an
der herrlichen Lust des Schöpfers teilnehmen zu
lassen.

„Afso, was meinen Sie dazu, Herr Loos?“
fragte der eine.

Ich ineinte nichts.

Unsere KJinstler sitzen am Reißbrett und
machen Entwürfe ftir die Keramik. Sie teilen sich
in zwei Lager. Die einen entwerfen in alien Stil-
arten, die anderen nur „modern“. Beide Lager
verachten einander griindlich. Aber auch die mo-
dernen Künstler haben sich gespalten. Die einen
veriangen, daß das Ornament der Natur entnom-
men werde, die anderen, daß das Ornament nur der
Phantasie entspringe. Aber alie drei verachten
den Meister. Warum? Weil er nicht zeichnen kann.
Das schadet dem Meister aber nicht. Kacheln, die
Bigot in Paris Yor zehn Jahren geschaffen hat,
haben noch niclits von ihrem Zauber eingebiißt.
Aber die Muster, die die Künstler vor fünf Jahren
auf den Markt brachten, bereiten selbst lhnen
heute schon Nervenschmerzen. Das gilt natiirlich
von allen Entwürfen dieser Richtung.

Wer keramische Produkte kauft, rnöge sich
das stets vor Augen halten. Man gibt doch nicht
sein Geld aus, um sich in drei Jahren dariiber zu
iirgern. Gegenstände, die das meisterliche, schöp-
ferische Gepränge tragen, werden ihren Wert stets
behalten. Gegenstände, die mit sezessionistischem
Ornament versehen sind, sollen, wenn sie auch
gefallen, zuriickgewiesen werden. Sie gefallen.
nicht, weil sie schön sind oder unserem Empfinden
entsprechen, sondern, weii man versucht hat, uns
diese Richtung aufzudrängen. Man verlasse sich
auf sein Empfinden, das man besaß, bevor lier-
mann Bahr iiber diese Dinge schrieb.

Reißbrett und Brennofen! Eine Welt scheidet
sie. Hier die Exaktheit des Zirkeischlages, dort
die Unbestimmtheit des Zufailes, des Feuers, der

Menschträume und das Mysterium des Werdens.

*

Ich schreibe nur fiir Menschen, die modernes
Empfinden besitzen, die der Weltordnung dank-

Vom Oehen, Stehen, Sitzen,

Liegen, Schlafen, Essen, Trinken

Von Adolf Loos

Dem Menschen, der die heutige Kultur besitzt,
gefalien Gebrauchsgegenstände aus Gias, Porzel-
lan, Majolika und Steingut am Besten, wenn sie
undekoriert sind. Aus dem Trinkglas will ich
trinken. Ob Wasser oder Wein, Bier oder
Schnaps: das Gias sei so beschaffen, daß mir das
®etränk am Besten schmeckt. Das ist die Haupt-
sache. Und aus diesem Grunde opfere ich gern
alfe altdeutschen Spriiche oder sezessionistischen
Ornamente. Wohl gibt es Mittel, das Gias so zu
behandeln, daß die Farbe des Getränks erhöht,
verschönert wird. Das selbe Wasser kann in
einem Glase schal und matt, in einem andern frisch
wie aus der Bergquelle aussehen. Das kann man
durch gutes Material und durch den Schliff er-
reichen. Beim Gläserkaufen läßt man sich daher
die vorgeiegten Gläser mit Wasser fiillen und
wählt nun das beste aus. Dann bleiben die
Gläser. die so dekoriert sind, als schwämmen
griine Blutegel drin herum, unverkauft.

Aber das Getränk soll nicht nur gut aussehen:
es soll auch gut getrunken werden. Die Gläser,
die in den letzten drei Jahrhunderten angefertigt
wurden, erftillen diese Forderungen fast immer.
Unserer Zeit nein, ich wil! unsere Zeit nicht
schmähen —: unseren Künstlern war es vorbe-
haiten, außer unappetitlichem Dekor auch noch
Glasformen zu erfinden, aus denen man nicht trin-
ken kann. Es gibt Wassergläser, aus denen einem
das Wasser rechts und links bei den Mundwin-
keln herausrinnt. Es gibt Liqueurgläser. die nur
zur Hälfte geleert werden können. (Für Liqueur-
gläser haben die schnapskundigen Holländer eine
klassische Form gefunden: eine Windenblütenform.
Da kann der schwerfliissige Liqueur leichter her-
ausfließen. Es war daher selbstverständlich. daß
die Wiener Sezession das umgekehrte Prinzip fiir
Liqueurgläser beschloß: die Mandarinenform. Nur
Schlangenmenschen, die sich so weit zurückbeugen
können, daß sie mit dem Kopf die Erde berühren,
können ein soiches Glas leeren.) Bei neuen For-
men sei man daher vorsichtig und wähle lieber
die alten.

Genau so ist es beim Teller. Wir fühlen
feiner als die Menschen der Renaissance, die noch
ihr Fleisch auf mythologischen Darstellungen
schneiden konnten. Wir fühlen auch feiner als die
Menschen des Rokoko, die sich nichts daraus

machten, wenn die Suppe durch das blaue Zwie-
belmuster eine unappetitliche, grüngraue Farbe be-
kam. Wir essen am liebsten von weißem Grunde.
Die Künstler denken darüber anders.

*

Die Objekte der Kerainik dienen nicht nur zum
Kochen, Essen und Trinken. Das Glas dient uns
als Fensterscheibe, Tonwaren als Fliesen, Wand
und Tischplattenverkleidung, als Ofen oder Kamin,
als Blumenvase oder Schirmständer. Und endlich
kann sich der Künstler des Tones bedienen, um ihn
zu formen, zu glasieren und zu brennen, weii er
den Drang in sich fühlt, Menschen und Tiere,
Pflanzen und Steine so darzustellen, wie er sie
sieht.

Einst saß ich mit einigen „angewandten Künst-
lern“ im Kaffeehause. Man sprach davon, eine
keratnische Versuchsanstalt in der Kunstgewerbe-
schule zu griinden. Ich war gegen alles, was die
Herren vorbrachten, und alle waren gegen mich.
Ich vertrat den Standpunkt des Meisters, des ein-
fachen Arbeiters. Und sie vertraten den Stand-
punkt des Kiinstiers.

Jemand hatte eine wunderbare rote Bliite mit
samtenen Blättern mitgebracht. Die stand in
einem Wasserglas auf dem Tisch. Und einer
sagte: Sehen Sie, Herr Loos, Sie verlangen nur,
daß man Töpfe macht. Wir aber wollen ver-
suchen, eine Glasur zu erzeugen, die dieselbe
Farbe hat wie diese Blume hier. Man war Feuer
und Flamrne fiir diese Idee. Ja, alle Blüten der
Welt sollten ihre Farbe fiir neue Glasuren her-
geben. Man sprach und sprach . . .

Nun hat mich aber die Natur nrit einer kost-
baren Gabe beschenkt. Sie hat mich schwerhörig
gemacht. Und so kann ich denn unter laut strei-
tenden und debattierenden Menschen sitzen, ohne
verurteilt zu sein, das Blech zu hören. Dann
hänge ich meinen Gedanken nach. Damais fiel
mir mein Meister ein. Kein Künstler. Ein Ar-
beiter. Blumen sieht er nicht. Er liebt sie auch
nicht. Er kennt ihre Farben nicht. Aber seine
Seele ist von Farben erfiillt, die sich nur in Gla-
sur auf Ton darstellen ließen. Ich sehe den
Meister vor mir. Er sitzt vor dem Brennöfen und
wartet. Farben hat er geträumt, die der Schöp-
fer zu träumen vergessen hat. Keine Biume,
keine Perle, kein Erz hat eine ähnliche Farbe.
Und die sollen nun Wirkiichkeit werden, sollen
funkeln und strahlen, die Menschen mit Lust oder
Melancholie erfüllen.

Das Feuer brennt. Brennt es für mich, oder
brennt es gegen mich? Gibt es meinen Träumen

Herausgeber und Schriftleiter:

HERWARTH WALDEN

Vierteljahrsbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareiilezeile 60 Pfennig

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